Samstag, 2. August 2014

Lieb Vaterland magst ruhig sein (Roland Klick, BRD 1976)

Jörg Schöning hat Roland Klick den Professional unter den deutschen Regisseuren genannt. Und tatsächlich scheint Klicks vierter langer Spielfilm die Bemühungen offen zu legen, ein eigenes Genre-Kino zu etablieren, ohne sich auf ein Genre festlegen zu lassen. Etwa wie die Regie-Handwerker, die im populären italienischen Kino der Zeit vorherrschend waren. Nach dem fieberhaft psychedelischen Quasi-Italo-Western Deadlock und dem Hamburger Milieuthriller Supermarkt, legte er mit Lieb Vaterland magst ruhig sein einen Spionagefilm vor.
Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Johannes Mario Simmel und angesiedelt in West-Berlin des Jahres 1964, genau drei Jahre nach dem Mauerbau, geht es um Bruno Knolle (Heinz Domez), der von Ost-Berlin aus als Spion auf eine Mission in den Westteil der Stadt geschickt wird. Er wittert seine große Chance, nicht nur die DDR, sondern auch seine Bankräuber-Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen. Er vertraut sich den Behörden der BRD und den West-Alliierten an. Doch so wie sich das schmierig düstere West-Berlin (beinahe könnte es ein Gegenstück zum Kerker und Tunnel-Ost-Berlin in Siodmaks Escape from East-Berlin sein), nicht wirklich ins Bild des Gelobten Landes, der freien Welt passen möchte, werden auch die hiesigen Institutionen ihn gnadenlos fallen lassen, sobald sie keine Verwendung mehr für ihn haben und sein Wissen für sie zu einer Bedrohung werden könnte.
Die schöne Besprechung des Film von Maurice Lahde nennt das "einen Beitrag zu einer Genre-Tradition, die es nie gab" und betont zugleich, wie wenig Aufhebens Klicks Film um seine Sonderstellung macht: "Der Film verhält sich gewissermaßen nicht so, als wäre er als funktionierender Genre-Beitrag hierzulande allein auf weiter Flur, sondern als gäbe es viele von seinesgleichen – dies unterscheidet ihn etwa von den Genre-Arbeiten eines Dominik Graf, die sich ihr Wissen um ihre Alleinstellung ja nicht ungerne anmerken lassen. Roland Klicks Film ist dagegen ganz und gar uneitel. Wüsste man es nicht besser, würde man ihn für ein solides Beispiel aus der reichhaltigen Tradition des BRD-Spionagefilms halten."
Aber dann ist der Mann, der versucht die Antagonisten des Kalten Krieges gegeneinander auszuspielen und dabei schließlich auf keiner Seite mehr Freunde hat, der mit höchsten Einsätzen spielt und am Ende alles verliert, auch eine Klick-Figur durch und durch. Er teilt das Schicksal von Mario Adorf in Deadlock und ist genauso zwischen allen Fronten auf sich selbst gestellt wie Willi in Supermarkt. Heinz Domez spielt ihn mit einer Abgebrühtheit, einem Hang zum Hartgekochten, unter der doch in jeder Szene die Müdigkeit ob des ewigen Kämpfens und Wegrennens sichtbar ist. Er möchte einfach nur in Ruhe gelassen werden, die Gelegenheit bekommen, neu anzufangen und sein altes Leben hinter sich zu lassen. Doch wie für alle Klick-Figuren sieht er sich mit einer kalten Welt konfrontiert, der ziemlich egal ist, was er möchte, in der es für ihn keinen Platz und aus der es für ihn kein Entkommen gibt. Ost und West entpuppen sich für ihn als zwei Seiten der selben Medaille. Schon in den ersten Szenen, wenn unter einem Banner mit der Aufschrift "Für Sozialismus und Fortschritt" die Panzer entlang rollen und sich aus dem Radio der RIAS meldet als "freie Stimme der freien Welt"- was zugleich dem Zuschauer einen Einstieg gibt in den Dauerbeschuss an westlicher, "anti-kommunistischer" Propaganda-Rhetorik in diesem Film. Die beiden antagonistischen Mächte verhalten sich absolut symmetrisch zueinander. Von dem Kommissar, der auf beiden Seiten Brunos Ansprechpartner, aber sicherlich nicht sein Freund ist über die Portraits von Ulbrich respektive Kennedy an der Wand bis zum Blick über die Schulter beim Telefonieren.
West-Berlin ist in Lieb Vaterland ein Ort des bröckelnden Putzes und der dreckigen, menschenleeren U-Bahnhöfe, der Jazz-Clubs und der schummrig verwegenen Eckkneipen, deren Schilder einen wohl recht kompletten Überblick über das damalige Biersortiment geben, der Neonleuchtreklamen und des regennassen Asphalts, das die gelblichen Lichter der Straßenlaternen reflektiert wie in einem Film Noir. Ein Taxi-Fahrer bringt das kapitalistische Wesen dieser Stadt mit Berliner Schnauze auf den Punkt: "Gloob ma bloß nich, dass dir hier allet in'n Schoß fällt. Schlaraffenland, von wejen. Hier muss jeder seine Mark treffen. Haste watt, dann biste ooch watt."
So düster wie die Szenerie ist auch das enggestrickte Netz der Intrigen und Verschwörungen. Die Nebenfiguren ergeben eine ganze Galerie der Verlorenen und Verdammten. Da ist Fanzelau (Georg Marishka), der Mann, auf den Bruno angesetzt werden sollte, und der für viel Geld gezielt Facharbeiter aus dem Osten in den Westen bringt. Da ist Knarge (Rolf Zacher), Zuhälter und alter Knastfreund von Bruno, den die Alliierten wegen dem Verkauf von Kinderpornographie in der Hand haben. Da ist Brunos Freundin Mietzi (Catherine Allégret), die im Osten, wie sie ihm am Telefon gesteht, als Agentin auf Bruno angesetzt war. Da sind die Agenten beider Seiten, die die Maschinerie in Gang halten, zwischen deren Zahnrädern Menschen - und ganz gewiss nicht nur Bruno - schier aufgerieben werden. Da sind die sensationsgeilen Reporter und Journalisten, die auf ihrer Jagd nach der ganz großen Story so heuchlerisch und skrupellos vorgehen, als würden sie direkt aus Hawks His Girl Friday oder Wilders Ace in the Hole kommen. 
Während des Drehs musste Klick das Buch mehrmals überarbeiten, auch war zunächst ein anderer Produzent geplant, der erst später durch Bernd Eichinger ersetzt wurde. Vielleicht liegt es an der schwierigen Produktionsgeschichte, dass der Film nicht die Wucht Klicks vorheriger Werke erreicht. Dennoch ist Lieb Vaterland magst ruhig sein ein sehr solider Genrebeitrag geworden, dem der Regisseur unverkennbar seinen Stempel aufgedrückt hat. Die Kamera wurde wie schon im Vorgänger vom großen Jost Vacano geführt. Ihre enorme Agilität schafft es die Hektik der Redaktionsräume und Geheimdienst-Büros adäquat einzufangen, die hysterische Stimmung der Stadt wiederzugeben, durch die die Front des Kalten Krieges verlief. 
Jörg Schöning schrieb übrigens auch, dass man niemals auf die Idee käme, von Klicks Protagonisten als "Helden" zu sprechen. Vielleicht ist die Situation Brunos noch vertrackter. Sein Dilemma kommt gerade in der Szene zum Ausdruck, in der er Fanzelau vor der Entführung durch DDR-Agenten bewahrt, also eigentlich doch zum Helden wird. Da ist zunächst das Close-Up von Fanzelau, der am Boden liegt, seinen Blick zu Bruno hebt, die Haare fallen ihm ins dreckige Gesicht, aus seiner Nase läuft Blut. Dann der Gegenschuss auf Brunos Gesicht, die Schweißperlen auf seiner Stirn und das silberne Kreuz um seinen Hals glänzen im bläulichen Licht der Nacht. Er rennt vom explodierenden Auto weg und zu Fanzelau. Doch über der Heldentat, dem Gelingen von Brunos Mission liegt eine tiefe Melancholie, die Aura der Vergeblichkeit. Der Retter und der glücklich Gerettete bleiben in diesem Film doch Verlorene. Zum Held zu werden reicht im Kino Roland Klicks nicht aus, um davonzukommen.

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