Sonntag, 31. August 2014

A Most Wanted Man (Anton Corbijn, Deutschland, Großbritannien 2013)

Hinweis auf meinen Text in der filmgazette

Philip Seymour Hoffman, der leider im Februar verstarb, ist in seiner letzten Hauptrolle tatsächlich eine gespenstische Erscheinung. Von der Leinwand herab scheint er aus der Vergangenheit des Kinos zu uns herüberzuwinken. Dezent übergewichtig, ergraut, kettenrauchend, den Kaffee schwarz und den Whiskey pur trinkend, spioniert er sich durch ein Hamburg, das seinesgleichen ebenfalls am ehesten in Filmen vergangener Dekaden findet. In Roland Klicks Meisterwerk "Supermarkt" etwa oder in Peter Kerns Regiedebüt "Crazy Boys - Eine Handvoll Vergnügen". Durch das beständige Schmuddelwetter ist die Stadt grau in grau gehalten. Auf den Straßen stapeln sich die Müllsäcke und der regennasse Asphalt spiegelt die blinkenden Leuchtreklamen der Sexshops. Hier konkurrieren schummrige Astra-Kneipen mit Moscheen, Obst- und Gemüsehändler und Dönerbuden - schließlich spielt der Film über weite Strecken in der muslimischen Community der Stadt. Was daran doch etwas abgedroschenes Klischee ist, wird durch eine überbordende Liebe zum Detail wettgemacht. In dieser Stadt sind sogar die Hochgeschwindigkeitszüge dreckig grau und im vollgetaggten Hauseingang prangt das Klingelschild mit überwiegend türkischen und arabischen Namen.          

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Samstag, 30. August 2014

Patriarchat und Gewalt VII: Hotte im Paradies (Dominik Graf, Deutschland 2002)

Der Film, dessen Titel dem Protagonisten das Paradies verspricht, beginnt mit einer infernalischen Szenerie. Feuer, Blaulicht, Sirenen, Krankenwagen. Wie in einem Film Noir beginnt Hotte (Misel Maticevic), ein Zuhälter im Berliner Milieu rund um den Stuttgarter Platz, seine Geschichte im Rückblick, per Voice-Over zu erzählen.
Über Hotte im Paradies in der Serie zu Patriarchat und Gewalt zu schreiben, ist gerade deshalb so interessant, weil er mit den anderen in diesem Zusammenhang besprochenen Filmen zunächst weder formal noch inhaltlich etwas zu tun zu haben scheint. In der Geschichte um Hotte und seine zunächst drei, später dann zwischenzeitlich nur noch eine Hure wird die Prostitution klar als grausame patriarchale Ausbeutung beschrieben, zu deren Durchsetzung es auch mal mehr, mal weniger subtiler Formen maskuliner Gewalt bedarf.
Dennoch hat Grafs Fernseh-Film mit den generischen Formen, durch die im Kino die gewaltsame Unterdrückung der Frau durch die männerdominierte Gesellschaft gezeigt werden, kaum etwas gemein. Vielmehr bildet Grafs TV-Zuhälter-Drama eine Art Komplementärfilm zu seiner Kino-Zocker-Komödie Spieler. Hier wie dort geht es um eine bestimmte Beziehung des Subjekts zur Welt, deren scheinbar einziges Medium das Geld ist. Das Geld, das nur immer wertvoller wird, je mehr es den Männern scheißegal ist. Hier wie dort bietet das Geld eine Alternative zur bürgerlichen Biographie. Die Protagonisten in Spieler waren zu sehr damit beschäftigt vor Schuldnern zu fliehen, mit großen oder kleinen Gaunereien das Geld zu beschaffen, von dem sie immer noch mehr verzockten als sie beschafften, um Zeit für das zu haben, was gemeinläufig mit dem Erwachsenwerden assoziiert wird: Arbeiten gehen, eine Familie gründen, etc. Parallel dazu erklärt Hotte: "Und noch watt, wenn du im Milieu bist, die absolute Nichtachtung das Geldes. Dit is bedrucktes Papier, mehr nicht." Das Geld, das, auch das sagt Hotte im Voice-Over schonungslos ehrlich, die Frauen erarbeiten und die Männer ausgeben. Deshalb muss die Prostituierte, die nach dem Koksen einen Fünfhunderter in ihrem Kleid verschwinden ließ, ihn schnell wieder rausrücken. Das Geld, das die Männer mit betonter Wegwerf-Bewegung beim Würfelspiel auf die Tische schmeißen, muss für die Frauen doch immer seinen Wert behalten. Die Macht der Zuhälter über die Huren ist eine Macht durch die - und zur Verschwendung von Geld.
Der Plot beginnt damit, dass Hotte ein neues Mädchen von einem Kollegen kauft: Jenny (Nadeshda Brennicke). Mit Rosa (Birge Schade) und der unter ihrem Job zunehmend leidenden Yvonne (Stefanie Stappenbeck) arbeiten nun drei Frauen für ihn.
Doch auch die Seele der sehr jungen und sehr attraktiven Jenny scheint durch das Anschaffen und die Drogen mehr und mehr Schaden zu nehmen. Eine Szene bringt das Machtverhältnis zwischen dem Luden und den Prostituierten auf den Punkt. Als ein Freier versucht Jenny für eine andere Organisation abzuwerben, zeigt sie sich zunehmend aufmüpfig gegenüber Hotte. Nachdem sie ihn in einem Restaurant auffordert, sie zu schlagen, legt er sie vollkommen enerviert übers Knie und versohlt ihr in aller Öffentlichkeit den Arsch. Einerseits eine Maßnahme, die ihren Grund darin hat, dass man an ihrem Gesicht beim Anschaffen keine Spuren sehen darf, zeigt diese Szene doch auch überdeutlich, dass das Verhältnis vom Mann zur Frau in diesem Geschäft ist, wie von einem Erwachsenen zu einem Kind, das wenn es nicht pariert eben mit Schlägen gemaßregelt werden muss. Horkheimer und Adorno schreiben: "Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: Mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich."
Hotte im Paradies geht gerade darin weiter als die feministische Kritik an der Prostitution, dass die Versachlichung der Körper nicht nur die beherrschten Frauen betrifft, sondern auch die herrschenden Männer selbst. Kaum zufällig beginnt der Alltag Hottes, den er am Anfang kurz skizziert, mit zwei Stunden Fitness Studio nach dem Aufstehen am Mittag. Wo Frauen zwischen den Männern verkauft werden wie die diversen Statussymbole, wie Uhren, Autos, Klunker, wird der Wert des Mannes eben an diesen Gegenständen bemessen. Zu Beginn, bevor er sich seinen Jaguar kauft, bleibt Hotte wie ein Ausgeschlossener als einziger in einer Bar sitzen, als es anfängt zu regnen, während alle anderen aufspringen, um die Verdecke ihrer Cabrios zu schließen.
Diese Statussymbole sind keine Fetische im Freud'schen Sinne, kein Penisersatz, sondern eher eine symbolische Penisverlängerung. Der Fortsatz eines sowieso zwangsläufig durch und durch sexualisierten Egos.
Doch da ist noch etwas: Durch die Distanzlosigkeit zu dem gezeigten Milieu, die unter anderem durch den Einsatz der beiden mobilen Mini-DV-Kameras entsteht, die fast immer mitten im Geschehen sind, wird auch die Zärtlichkeit innerhalb der ganz und gar kaputten, durch das Milieu und - vor allem - das Geld zerstörten Beziehungen der Figuren gezeigt. Misel Maticevic spielt Hotte mit einer beeindruckenden Gratwanderung, dass er auch dann wenn er sich wie das letzte Arschloch benimmt immer noch charmant wirkt.

Donnerstag, 28. August 2014

La resa dei conti / Der Gehetzte der Sierra Madre (Sergio Sollima, Italien, Spanien 1966)

Somewhere there is a land where men do not kill each other.
 
Die Italo-Western-Brutalität der Exposition bekommt angesichts des großartigen Morricone-Songs während des - nicht minder großartigen - Vorspanns eine bittere Note. Strick oder Pistole. Das ist die Wahl vor die Jonathan Corbett (Lee Van Cleef) die drei Männer stellt für die er nichts außer drei Kugeln übrig hat. Dabei scheint der Kopfgeldjäger selbst das Töten von Anfang an satt zu haben, davon zu träumen, es eines Tages hinter sich zu lassen.  
Der Geschäftsmann Brockston (Walter Barnes), der eine Eisenbahnlinie quer durch Texas bauen will, die die USA mit Mexiko verbinden soll, bittet ihn in die Politik zu gehen und seine Sache in Washington zu vertreten. Doch vorher macht sich Corbett auf die Suche nach dem Mexikaner "Cuchillo" Sanchez (Tomas Milian), der ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet haben soll. Doch Cuchillo erweist sich nicht nur als so gewitzter Ausreißer, dass selbst der große Corbett seine Probleme hat, ihn einzufangen, der Kopfgeldjäger beginnt auch irgendwann an der Schuld des Gejagten zu zweifeln.
 
Somewhere you will find a place where men live without fear.
Somewhere, if you keep on running, someday you'll be free.
 
An den üblichen Italo-Western-Gimmicks herrscht in La resa die Conti gewiss kein Mangel. Neben den raffinierten Verkleidungstricks, die Cuchillo für seine Flucht nutzt, ist da etwa eine Szene, in der er einen Stier in den Verschlag locken soll. Gefilmt wird teilweise mit der Handkamera aus der subjektiven Sicht sowohl des Mannes als auch des Stiers während sie miteinander kämpfen. Für die genre-typische Grausamkeit sorgen unter anderem die Messerwurfkünste, denen Cuchillo seinen Namen verdankt, oder eine Szene, in der er an Händen und Beinen mit Lassos gefesselt ausgepeitscht wird. Doch Sergio Sollima nutzt das Genre auch hier vornehmlich für seine eigenen Zwecke. Schon im Text zu Faccia a faccia habe ich den Sollima-Helden als einen gezeigt, der von seiner Leidenschaft für eine bessere Welt angetrieben wird. Der des Tötens müde ist und sich nach Frieden sehnt. In La resa dei Conti nimmt das die Form einer Desillusionierungsgeschichte an, in der Corbett langsam feststellen muss, dass die Werte der Männer für die er arbeitet nicht die seinen sind. 
 
Somewhere there is a land where men call a man a brother.
 
Im Kern ist La resi dei conti ein Film über Rassismus, den Sollima als das anprangert, was er wohl immer schon war: Ein Herrschaftsinstrument. "Ich kenne ein Gesetz, das besagt, dass es zwei Gruppen von Menschen gibt," sagt Cuchillo. "Die eine Gruppe flieht, und die andere verfolgt sie." Schon bevor Corbett - und mit ihm der Zuschauer - endgültig von der Unschuld Cuchillos überzeugt ist, scheint sich der Film ganz auf die Seite des Fliehenden, des Gehetzten, des geschundenen Körpers von Tomas Milian zu stellen.  
Die Reise des Kopfgeldjägers wird auch zu einer Odyssee durch eine regelrechte Galerie verschiedener, teils denkbar bizarrer Machtverhältnisse. Da ist sonderbare Matriarchatsphantasie, die den Gender-Diskurs von Citta violenta ein Stück weit vorwegnimmt. Auf einer Ranch gebietet die Besitzerin nach dem Tod ihres Mannes über eine Gruppe ihr untergebener Männer - wohl eine Art Harem - die sie stets mit "Seniora" anzureden haben. Da ist der ehemalige "Bruder Smith and Weston", ein Mönch, der das Schießeisen vor Jahrzehnten gegen das Kreuz eingetauscht hat, und damit die vorweggenommene Erfüllung von Corbetts Sehnsucht darstellt. Da ist die mexikanische Armee um einen gewohnt schmierigen Fernando Sancho, die den Bauern und der Revolution mit der gleichen Verachtung begegnet wie die adeligen und großbürgerlichen Kreise in den USA. Da ist eine der Schlüsselszenen bei einer feinen Gesellschaft um Brockston. Während er seine Tochter zurecht weist, die sich nicht in eine Hochzeit fügen will, die in seinem (Kapital-)Interesse liegt, folgt die Kamera einer jungen mexikanischen Bediensteten, die mit einem Tablett Champagner durch die Räume geht. Als sie sich den Rock hochzieht während sie das Tablett zu Boden stellt, zieht der Anblick ihrer Beine das Interesse von Brockstons künftigem Schwiegersohns auf sich - dem Mann für dessen pädophile Verbrechen Cuchillo als Sündenbock herhalten soll. Die gleiche Macht, die den mexikanischen Bauern jagt, macht auch die Frauen buchstäblich zum Objekt, zu einer Ware, die man möglichst gewinnbringend verkauft oder die nur dazu dient, männliche Gelüsten aller Art zu befriedigen. Die Kamera ist dabei einmal mehr ganz auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten.  
 
Never, no never no they'll never lock you in.
No never, no never, no never let them win.
Go ahead young man, face towards the sun,
Run man, run while you can,
Run man, run man, run.   
 
Dass am Ende das Gute siegt, dass Lee van Cleefs unvergleichlich eindringlicher Blick schließlich nur die Gerechtigkeit sucht, hat bei der Genauigkeit mit der Sollima Machtverhältnisse analysiert eine regelrecht utopische Note.
 
 
Und weil's so schön ist, bekommt wer mag hier noch den restlichen Text:
 
 

Running like a hare, like deer, like rabbit,
Danger in the air, coming near, you can feel it,
And you're panting like hare, like deer like a rabbit,
Running from the snare until fear is a habit.
Hurry on and on and on.
Hurry on and on, hurry on and on
Run and run until you know you're free,
Run to the end of the world 'til you find a place
where they never never never
No never no they'll never lock you in.
Never, no never, no never let them win.
Go ahead young man, face towards the sun,
Run man, run while you can,
Run man, run man, run.


Dienstag, 26. August 2014

Confessione di un commissario di polizia al procuratore della repubblica (Damiano Damiani, Italien 1971)


Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert

Etwa in der Mitte des Films gibt es eine Miniatur, die in gut zehn Minuten das Netz aus Angst und Mord und mehr Angst und mehr Morden erklärt, durch das die Mafia funktioniert. In Rückblenden erzählt wird die Geschichte eines jungen, unerschrockenen Gewerkschafters, der öffentlich das Netzwerk zur Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung der Arbeiter und namentlich den Clan-Chef Lumonno (Luciano Gattenaci) anklagt. Am helllichten Tag, vor versammelter Polizei und in Anwesenheit Lumonnos und seiner Männer, wird er ins Bein geschossen. Der Schütze bleibt unerkannt. Niemand eilt dem Mann, der verwundet am Boden liegt, zur Hilfe solange die Mafiosi vor Ort sind. Einige Jahre später wird er ermordet. Es gibt einen Zeugen. Einen etwa zehnjährigen Hirtenjungen. Auch er wird umgebracht. Die Kamera von Claudio Ragona hält drauf, wie zwei Männer den Jungen greifen, wie er eine gefühlte Ewigkeit einen Abhang hinabfällt.
Diese Erzählung teilt den Film klar in zwei Hälften. Nach ihr liegen die Karten auf dem Tisch. Was vorher nur angedeutet wurde, tritt jetzt klar zu Tage. Lumonno, der zu Beginn einem Mordanschlag entgeht, ist Teil eines durch und durch bösen Systems (das Wort "Mafia" fällt in dem Film übrigens nicht). Die undurchsichtige Rolle, die der Mann einnahm, der die Geschichte erzählt, Kommissar Bonavia (Martin Balsam), der zu Beginn mit unlauteren Mitteln dafür sorgte, dass ein Mann aus der Psychiatrie entlassen wird, der Grund hatte Lumonno zu töten und es auch versuchte, wird auch klar. Er will Gerechtigkeit. Genau wie der Mann, dem er die Geschichte erzählte, Staatsanwalt Traini (Franco Nero), der allerdings zunächst sein Widersacher sein muss, weil er noch daran glaubt, dass die Gerechtigkeit mit legalen Mitteln zu erreichen sei. Von hier muss Confessione auf eine Desillusionsgeschichte der bitterbösen Art hinauslaufen.
Der Plot ist kompliziert. Was eigentlich nur bedeutet, dass fast alles, was in Justiz, Politik und Wirtschaft Rang und Namen hat, an den mörderischen Machenschaften mitverdient, durch die unter anderem riesige Wohnviertel entstehen (siehe den deutschen Titel).
Damianis Meisterschaft liegt nicht nur darin, mit welcher Dichte er diese hoffnungslose Geschichte erzählt, bei der Franco Nero letztlich nichts erreicht, als herauszufinden, welche Maßstäbe das hat, woran er nichts ändern kann, sondern auch in der Atmosphäre der allgegenwärtigen Angst, die er den Mitteln des Kinos abringt. Nur ein Beispiel: eine Frau, die eine wichtige Zeugin sein könnte, flieht über einen Markt. Die Handkamera folgt ihr, während sie sich immer wieder panisch nach hinten umsieht, auf Schritt und Tritt. Die Lichter der Stände leuchten grell. Hier gibt es keine Ecke, in der sie sich verbergen könnte, während jeder in dem Gedränge der Straße eine potenzielle Gefahr darstellt. Dann kommt der Schnitt in die Totale, in der wie die Frau davongehen sehen. Die Kamera selbst wird zur Bedrohung, die überall ist. Sie muss ihr nicht dich folgen, um ihr auf den Fersen zu bleiben.
Die emotionale Wucht bezieht der Film schließlich aus seinem Pessimismus. Gerade dass sich an dem Netz aus Angst und Mord und mehr Angst und mehr Morden nichts verändert, geht am Schluss durch Mark und Bein.

Montag, 25. August 2014

Merrily We Go To Hell (Dorothy Arzner, USA 1932)

"I see you believe in signs." sagt Sylvia Sidney und meint die Leuchtreklame für Konserven, auf der ihr Familienname steht.
"Hmm-hmm. And all the signs point to three stars." antwortet Frederic March und meint das Etikett einer Schnapsflasche.
Einerseits ist das simple Symbolik. Die beiden Menschen, die sich in der ersten Szene des Films während einer Cocktail-Party auf dem Balkon vor einer herzigen Skyline-Attrappe kennenlernen, sind eine Konservenmillionärstochter und ein Alkoholiker.
Andererseits aber geht es Dorothy Arzner darum, ein Melodram zu schaffen, dass von allem symbolischen Überschuss befreit ist. In der Liebesgeschichte, die sich aus dieser Balkonszene der besonderen Art entwickeln wird, geht es um die Befreiung des Menschen von allem, was seinem Willen und seinem Streben zum Glück von außen übergestülpt oder in den Weg gelegt wird. Anders gesagt: damit die Zeichen nichts als Werbeschilder sind und die drei Sterne auf der Schnapsflasche nicht als drei Sterne auf der Schnapsflasche und die beiden Menschen, die sich zwischen den Zeichen und den Sternen ineinander verlieben, miteinander glücklich werden können, müssen sie sich zunächst jeder für sich befreien. Sie von dem Willen ihres Vaters, der, so grundliberal ist dieser Film auch in der Zeichnung seiner konservativeren Figuren, ganz ehrlich und ohne Klassendünkel ihr Bestes will, aber dennoch Schwierigkeiten hat, loszulassen und sie ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen. Er von der Schnapsflasche.
Trotz der Zweifel Sidneys an dem Mann, der am Anfang charmant und betrunken war, später hauptsächlich betrunken und unzuverlässig ist, läuten bald die Hochzeitsglocken (auf die übrigens übergeblendet wird von einer sehr schönen Einstellung von ihrem traurigen Gesicht, mit dem sie im Auto durch die Nacht fährt).
Ihre Zweifel erweisen sich zunächst als allzu berechtigt. March, der Journalist, der nebenher Stücke schreibt, verfällt mit seinem Durchbruch beim Theater wieder vollends der Flasche - und mit ihr einer verflossenen Liebe, die die Hauptrolle in seinem Stück spielt.
Was in der zweiten Filmhälfte beginnt ist ein Akt der Befreiung in Form eines Abwägens, das sich nach und nach aller Einflüsse von außen entledigt. Viele Pre-Code-Filme stellen ihre Amoral geradezu lustvoll aus (wogegen nichts zu sagen ist), Merrily We Go To Hell verfolgt einen anderen Weg oder eher: Er geht noch einen Schritt weiter. Auf dem Weg zur eigenen, freien, ungezwungenen Entscheidung lassen die beiden nicht nur die Zwänge gängiger christlicher Moralvorstellungen hinter sich, sondern auch den Zwang, sich ihnen genau entgegengesetzt zu verhalten. Es kommt zu einem Ende, das äußerlich den Vorgaben des Codes zu entsprechen scheint: Nach überwundener Krise dürfen sich die Eheleute wieder in die Arme fallen. Sie genügen damit aber eben nicht einem von Außen vorgegebenen moralischen Kodex, sondern folgen einfach ihrem Herzen. Sie hat gemerkt, dass sie seinen Seitensprung nicht einfach ignorieren oder in gleicher Münze heimzahlen kann. Er, dass das Leben mit seiner Frau mehr zu bieten hat, als die Aussicht, sich gemeinsam mit seiner geliebten tot zu saufen. So gibt es für die beiden Liebenden einen anderen Ausweg als den, den der tolle Titel verspricht.

Sonntag, 24. August 2014

Spider-Man (Sam Raimi, USA 2002)

Als ich mir letztes Jahr The Quick and the Dead ansah und er mir überraschend gut gefiel, hatte ich keine Ahnung, dass dieses Gefallen in eine kleine Privat-Retrospektive von Sam Raimis Gesamtwerk münden würde. (Die drei Evil Dead-Filme hatte ich mir schon im vorigen Sommer zur Vorbereitung auf das Remake erneut angesehen. Wo erstere, zumindest die ersten beiden, auch bei der x-ten Sichtung, Begeisterung auslösten, konnte ich letzterem, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht viel abgewinnen.)
Gerade als ich bei Spider-Man ankam schienen zu viele andere Projekte, andere Filme dazwischen gekommen zu sein. Nachdem ich den Film nun nochmals gesehen habe, steht für mich fest, dass er zu gut ist, um als Karteileiche in meiner Posts-Liste zu enden.
Spider-Man ist nicht zwangsläufig der beste, aber doch der ultimative Sam Raimi-Film. Und mindestens dass er sowohl als Comic-Verfilmung, wie auch im Raimi-Universum vortrefflich funktioniert, unterscheidet den ersten Teil von seinen beiden Nachfolgern. Der Film ist zunächst voll von Raimiismen. Viele der Action-Szenen sind so inszeniert, dass man sich geradezu in einem Remake von Darkman wähnt. Die Szene in der Peter Parker sein Spider-Man-Kostüm entwirft ist video-clipartig mit mehreren übereinander liegenden Bildebenen angelegt, wie man es aus diversen anderen Filmen Raimis kennt. Bruce Campbell hat sein obligatorisches Cameo als Moderator einer Wrestling-Show, in der Parker versucht, seine neuen Superkräfte zu Geld zu machen. Bildet schon diese Szene die Miniatur einer White Trash-Hölle, die den Ursprung des Regisseurs beim humoresken Horrorfilm klar erkennen lässt, gibt es im Finale einen direkten Bildverweis aus The Evil Dead in Form einer Hand, die sich ihren Weg aus der Erde nach oben ins Freie sucht. Spider-Man verbindet das düstere Pathos von Darkman mit dem morality play aus A Simple Plan und der Emotionalität aus For Love of the Game (wobei sie hier wesentlich besser am Platz ist als dort)
Peter Parker (Tobey Maguire) ist der etwas nerdige Mittelklasse-Junge aus Queens, der bei seiner Tante und seinem Onkel lebt und unter dem popularity-Terror an seiner High School mächtig zu leiden hat. Nachdem er durch den Biss einer Spinne zu außergewöhnlichen Kräften gelangt, muss er nicht nur lernen mit diesen umzugehen, sondern auch sie sinnvoll einzusetzen. Der Film schließt die körperlichen Veränderungen, die Peter durchmacht, kurz mit den Prozessen der Pubertät. Und bei der Mann- wie der Spinnenwerdung zählt: "With great power, comes great responsibility."  Was die Art, wie diese Geschichte erzählt wird so grundsympathisch macht ist, dass sie mit der Produktionsgeschichte des Films zu korrespondieren scheint. Es ist tatsächlich so als würde Raimi, zum ersten Mal mit einem wirklich großen Budget betraut, ausprobieren, was man damit so alles anstellen kann. Die Abgeklärtheit des Mega-Blockbusters und das Gefühl einem Movie-Nerd zuzusehen, der sich mit 130 Millionen Dollar im Comic-Laden so richtig austobt, erzeugen produktive Reibung. Dass nicht alles an diesem Film gelungen aussieht, dass etwa viele der Spezialeffekte - mindestens - schlecht gealtert sind, und namentlich die Gestaltung von Spider-Mans großem Antagonisten, dem Geen Goblin, etwas bescheiden geraten ist, vermochte mir meine Freude an der Experimentierfreudigkeit des Films nicht zu vermiesen.
Es geht in Spider-Man immer auch um die Diskrepanz zwischen dem, was ganz offensichtlich larger than life ist und ganz alltäglichen, menschlichen Sorgen. Dass Peter im Spinnenkostüm zum Schrecken der Unterwelt werden, immer wieder die Welt im allgemeinen und Mary Jane Watson (Kirsten Dunst), die Frau in der er seit der ersten Klasse verliebt ist, im besonderen retten kann, heißt eben noch nicht, dass er im Stande wäre, sie zu einem Date einzuladen oder mit ihr über seine Gefühle zu sprechen.
Toby Maguire und Kirsten Dunst haben in diesem Film nicht nur den vielleicht berühmtesten Kuss der jüngeren Filmgeschichte, sie schaffen es auch dem Geschehen die nötige Erdung zu geben. Das dicht gesponnene Netz der Verwicklungen zwischen den Figuren, in dessen Zentrum das Wort Verantwortung hängt, wird durch die "Natürlichkeit" der beiden immer wieder zurückgeholt auf den Boden der Tatsachen eines gar nicht spießigen, aber dafür prekären Kleinbürgertums in Queens. Auch darüber hinaus ist der Film gut bestezt. Besonders Willem Dafoe verleiht seinem Osborn/Green Goblin in seiner Zwiegespaltenheit Tiefe. Seine Gespaltenheit vererbt er auch an seinen Sohn Harry, der zum Ende Peter Parker ein loyaler Freund bleibt, aber Spider-Man, von dessen wahrer Identität er nichts weiß, blutige Rache schwört. Besondere Erwähnung verdient auch J. K. Simmons als extrem geiziger, schnell-, groß- und kaltschnäuziger Zeitungsredakteur.
Alles in allem ist Sam Raimi mit seinem endgültigen Aufbruch in den Blockbuster-Geschäft ein Superheldenfilm gelungen, der mächtig Laune macht.   

The Texas Chainsaw Massacre (Tobe Hooper, USA 1974)

Hinweis auf meine Besprechung anlässlich der Wiederaufführung am 04. 09.

Die Vivisektion eines menschlichen Auges mit den Mitteln des Kinos. Mit jedem Schnitt, ausgeführt wie mit dem Rasiermesser, ist die Kamera noch näher dran am Gesicht der übrigens kürzlich verstorbene Marylin Burns. Bis im extremen Close-Up nur noch Details ihres Auges zu sehen sind. Rote Äderchen, die Iris, ein Lid, an dem sich eine Träne sammelt. So nah wie die Kamera in dieser Szene von Tobe Hoopers "The Texas Chainsaw Massacre" an der Figur ist, will der Film auch an uns ran. Seine Zuschauer. Seine Opfer. Er benutzt dazu alle Mittel, die dem Medium zur Verfügung stehen. Verwackelte, grobkörnige Bilder. Grelle Farben. Schrille Schreie und Sounds. Hektische Jump-Cuts. Ein Terror-Film. Film als Terror für die Sinne.
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Mittwoch, 20. August 2014

Faccia a faccia / Von Angesicht zu Angesicht (Sergio Sollima, Italien, Spanien 1967)

Der Film beginnt mit einem Bruch. Professor Brad Fletcher (Gian Maria Volonté) verkündet seinen Schülern, dass ihr Geschichtskurs beendet ist, aber jederzeit an dieser Stelle fortgesetzt werden kann. Er verabschiedet sich von den Schülern, dann verabschieden sich sein Chef und eine Frau, Elisabeth, von ihm. Man merkt, dass er etwas mit ihr hatte, was genau erfährt man eben so wenig, wie den Grund, warum er geht. Bruchstückhaft, brüchig erzählt diese pre titlte sequence von einem Bruch. Jedenfalls bleibt Volonté allein in dem leeren Unterrichtssaal zurück. Allein mit einer Karte der USA. Allein mit der Geschichte. Von der Spiegelung seines Gesichtes in einer roten Scheibe gibt es einen Match Cut auf einen roten Feuerball im - wie immer bei Sollima großartigen - Vorspann. Neben den Gesichtern von Volonté und Tomas Milian, von Angesicht zu Angesicht, sehen wir in diesem Vorspann vor allem Bilder einer Kutsche, im üblichen Pop Art-Look wird sie verdoppelt, verdreifacht, vervielfacht, in knalligem rot, gelb, grün zieht sie durchs Bild, von rechts nach links und links nach rechts, von oben nach unten und unten nach oben. Die stringente Bewegung wird zersetzt durch ein konstantes hin und her und auf und ab.
Auf seinem Weg wohin auch immer wird Fletcher von dem Banditen Solomon "Beauregard" Bennet (Tomas Milian) als Geisel genommen. Der Mann der Bücher und der Mann der Waffen. In John Fords Meisterwerk The Man who shot Liberty Valance war das eines der großen Paare des postklassischen Westerns (wobei "postklassisch" hier vor allem bedeutet, dass der Film den Zivilisierungsprozess, der von jeher den Kern des Genres bildete, schon eher melancholisch zu einem Verlust erklärte, statt in ihm einen Gewinn sehen zu können). Bei Ford wird der Mann der Bücher am Ende doppelt desavouiert. Er wird gefeiert für eine Tat, die allen seinen Prinzipien widerspricht und die er in Wirklichkeit nicht einmal selbst begangen hat. Faccia a faccia geht da noch ein ganzes Stück weiter.
Immer sind die Protagonisten bei Sollima von ihrer Sehnsucht angetrieben. Nach einer besseren Welt (La resa dei conti) oder zumindest einem besseren Leben (Citta violenta). Faccia a faccia erscheint für einen Italo-Western erstaunlich sehnsuchtsgesättigt. Die Weite der Landschaft, durch die die Männer auf ihren Pferden von den Streichern und Chorälen des epischen Scores von Ennio Morricone getrieben werden, scheinen tatsächlich noch ein Freiheitsvesprechen zu geben, das in dieser Phase des Genres selten geworden ist. 
Die Stadt, in der die Männer von ihrer Sehnsucht zunächst zusammengetrieben zu werden scheinen, heißt Purgatory City (meisterlich, wie Sollima hier einmal mehr Machtverhältnisse als Blickverhältnisse abbildet. Unten im Staub der Straße, diejenigen, die schießen, oben in ihren Häusern, an den Fenstern, als Zuschauer die Gutbürgerlichen, die die schießen lassen.) Von diesem Fegefeuer aus führen ihre jeweiligen Wege die beiden Protagonisten in den Himmel bzw. die Hölle, wobei sich jedoch erst zeigen muss, was wo ist. William Berger als Charley Siringo, ein Pinkerton-Agent, der Banden infiltriert, um sie zu stellen, nimmt dabei eine Art Vermittlerrolle ein.
Ein Dialog in einem Camp, in dem sich die Bande versteckt und das einen weiteren sprechenden Namen trägt: Pietra di Fuoco (Feuerstein), verdeutlicht, wie ihre Sehnsüchte die Männer in verschiedene Richtungen treibt. Einer von Bennets Männern nennt das Camp eine Geisterstadt voller "Jäger ohne Büffel, Cowboys ohne Herden und Gold-Gräber ohne Gold", fernab von Realität und Moderne. Fletcher entgegnet, er habe noch nie so wahrhaftige, freie und glückliche Menschen gesehen wie dort. Bei Sollima führt die Sehnsucht des zivilisierten Bildungsbürgers nach einer archaischen Welt in die Katastrophe. Sie führt zu einer Ermächtigung zum grausamen gang leader, die beginnt mit dem Erschießen eines Mannes und der Vergewaltigung einer Frau. So phallisch, in Begehren und Sehnsucht getränkt die Macht in diesem Film gedacht wird, so sehr scheint sie gerade den Geist zu korrumpieren. Der Geschichtsprofessor erklärt später: "Ein gewalttätiger Mann ist tatsächlich ein Outlaw. Hundert Männer sind eine Gang und 100.000 eine Armee. Es geht darum, individuelle Gewalt zu überwinden, die ein Verbrechen ist, und zur Massengewalt zu gelangen, die die Geschichte macht."
Der Schluss ist atemberaubend ambivalent. Einerseits endet der Film, der in einem Seminarraum begann, in dem Volonté von (politischen) Subjekten träumte, die aus sich heraus richtig und falsch erkennen könnten, damit, dass zwei solcher Subjekte ausgebildet scheinen. Diese Ausbildung wurde dann aber andererseits nicht nur mit Unmengen von Blut bezahlt, sondern der Film gibt die Figur Volontés nicht preis, der sich zu Beginn wünschte, solche Subjekte zu schaffen, und dem es nun - wenn auch auf ganz andere Weise als erhofft - auch gelang. Ein wahrlich tragischer Tod ist das, bei dem ein Überschuss einer Sehnsucht, die das Gute wollte und das Böse schuf, mit seinen letzten Atemzügen aus Volontés Körper zu weichen scheint.