Freitag, 29. November 2013

Tore tanzt (Katrin Gebbe, D 2013)

Die erste Szene: Tores Taufe im Fluss. Das Initiationsrtual für einen Gestrandeten, über dessen Vorgeschichte wir nicht viel erfahren müssen, um zu verstehen, dass er in der Welt kaum einen Platz hatte, bevor er ihn hier findet. Bei den Jesus-Freaks. Deren Milieu skizziert der Film zunächst ziemlich befremdlich, zumindest für jemanden wie mich, der sich mit dieser Bewegung nie befasst hat, aber irgendwie auch recht liebenswürdig. Ein buntes Gemisch aus Zeichen verschiedener Jugendkulturen mit etwas antiquiertem Anti-Establishement-Duktus - also Iros, Dreadlocks oder Glatzen, zerschlissene Base-Caps und T-Shirts, mit Nieten besetzte Lederjacken und ein bunt bemalter alter VW-Bus - und christlichen Symbolen und Inhalten. Grundsympathisch zunächst auch die Hauptfigur (gespielt von Julius Feldmeier). Einer, der an etwas glaubt, Gewalt strikt ablehnt und sich für Geld nicht interessiert. Dass das woran Tore glaubt eine ziemlich fundamentalistische Auslegung des Christentums ist, wird bald zum Problem - vor allem für ihn selbst. Zufällig lernt Tore auf einer Autobahnraststätte Benno (Sascha Alexander Gersak) kennen. Als dessen Auto nicht startet, gelingt es Tore und seinem Kumpel Eule (Daniel Michel) es durch Anrufungen Jesu' in Gang zu bringen. Tore lädt Benno zu einer Party der Freaks ein. Als Tore dort einen epileptischen Anfall erleidet, nimmt Benno ihn mit zu sich in die Laube, in der er gemeinsam mit seiner Frau Astrid (Annika Kuhl), seiner fünfzehnjährigen Tochter Sanny und ihrem kleinen Bruder Denis (Til Theinert) lebt. Zu Beginn meint Tore noch, Benno habe der Himmel geschickt, immer mehr offenbart sich jedoch die sadistische Natur seines vermeintlichen Wohltäters. Was mit kleinen Gemeinheiten Bennos gegen Sanny im Auto-Scooter beim Familienausflug beginnt, führt bald zu handfester Gewalttätigkeit gegen Tore. Bis dahin, dass er von Benno als eine Art Sklave gehalten wird, bei immer weniger Nahrung und unter immer grausameren physischen und psychischen Torturen. Tore jedoch bleibt nicht nur bei seinem Peiniger, er kehrt sogar, als Sanny, seine einzige Verbündete in der Familie, ihn zu retten versucht, immer wieder zu ihm zurück. Fest entschlossen, der Grausamkeit Bennos Gewaltlosigkeit und Nächstenliebe entgegen zu setzen.
Regie-Debutantin Katrin Gebbe unterteilt ihren Film, übrigens der einzige deutsche Beitrag zum diesjährigen Film-Festival in Cannes, in drei Kapitel, die mit den drei theologischen Tugenden überschrieben sind: Glaube, Liebe, Hoffnung. Während sich das erste noch tatsächlich mit Tores christlichem Glauben auseinandersetzt, scheinen die anderen beiden eher mit ursprünglich-religiöser und gegenwärtig-"weltlicher" Bedeutung der Worte zu spielen - und damit ein Stück weit falsche Fährten zu legen. Die Titel-Einblendung "Liebe" erscheint genau dann, als sich eine Beziehung zwischen Tore und Sanny anzubahnen scheint. "Hoffnung", als Tore, nach einem Rettungsversuch durch Sanny, mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus erwacht. Immer wieder siegt Tores Glauben über alle Bedürfnisse seines Körpers. Julius Feldmeiers Leistung besteht nicht zuletzt darin, wie er diesen Kampf gegen sich selbst immer wieder in Gestik und Mimik, in Tores gesamtem, zuckendem, zum Schlachtfeld werdenden Körper sichtbar macht. Wenn Tore Eule, relativ zu Beginn, beim Sex erwischt, sieht man, wie viel Angst er vor seinem eigenen Begehren hat. Ebenso später, als Sanny ihn zu verführen versucht. Auch die Wut ob Bennos immer gemeinerer Brutalität sieht man ihm an. Aber: Freaks heiraten zuerst. Freaks halten die andere Wange hin.
Gerade in seiner Drastik, die immer wieder hart an die Grenze des Erträglichen geht, findet der Film zu Wahrheiten über die Dynamiken von Opfern und Tätern in Konstellationen von Gewalt wie der hier gezeigten. In einer der erschütterndsten Szenen zwingen Benno und Astrid, die sich immer mehr zur Mittäterin entwickelt, verschimmeltes Huhn zu essen, das er aus dem Müll "gestohlen" haben soll. Die erste Einstellung zeigt sie von vorne. Tore regelrecht eingeklemmt zwischen den anderen beiden, die das Fleisch abschneiden und ihm in den Mund schieben. Als Tore beginnt freiwillig, seinen Würgereflex unterdrückend, zu essen, kommt der Schnitt und die nächste Einstellung zeigt sie von hinten, im Gegenlicht, nun einfach gemeinsam am Tisch sitzend. An der Stelle, wo das Opfer den Zwang introjiziert hat, sieht das Ergebnis aus, wie eine ganz normale Familien-Szene.
Immer mehr entwickelt sich das Verhältnis von Benno und Tore zu einem Streit zwischen divergierenden Weltbildern. Mehr als um das Ausleben seiner sadistischen Triebe, scheint es Benno darum zu gehen, sein Gegenüber zu brechen, weil er sich von dessen Friedfertigkeit in seinem ganzen Sein bedroht fühlt. Mit allen Mitteln will er verhindern, sich eingestehen zu müssen, dass es etwas jenseits seines eigenen materialistischen, immer auf den eigenen Vorteil, die hemmungslose Befriedigung der eigenen Bedürfnisse bedachten Verhaltens gibt. Die Dynamik, die daraus entsteht, dass Tore immer weiter dagegen hält, muss sich also bis zum bitteren Ende weiter hochschaukeln.
Der große Clou und die größte Zumutung des Films besteht darin, wie einen Gebbe zur Identifikation mit ihrem Protagonisten zwingt. Tore hält nicht nur seine Epilepsie für Eingaben des heiligen Geistes, er macht sich auch durch sein Schweigen, sein Aushalten immer mehr zum Komplizen aller möglicher Formen der Gewalt, deren Opfer nicht nur er ist. Immer wieder möchte man ihn als Zuschauer wachrütteln, entziehen kann man sich ihm trotzdem nicht. Tore tanzt ist Tores Film. Seine Passionsgeschichte.
In einer Szene hören wir Tore aus dem Off sagen: "Der Herr blickt vom Himmel auf die Erde herab. Seine Sonne lässt er scheinen auf gute Menschen wie auf böse." Dazu der helicopter shot der parzellierten Welt der Laubenkolonie, die zum Ort seines Martyriums wird. Tores Worte bemächtigen sich der Bilder, die seine Weltsicht affirmativ zu illustrieren scheinen. Durch den Film ziehen sich Bilder von Bäumen und Gräsern, durch die der Wind streicht, vom Sonnenlicht, das sich durch die Blätter bricht, von einem Flugzeug am Abendhimmel, von Tropfen, die an der Regenrinne abperlen, von Dämmerung und Zwielicht. Das sind nicht einfach Stimmungsbilder, die die denkbar triste und gemeine Welt des Films auflockern sollen. Vielmehr scheint die Kamera in der Natur göttliche Zeichen zu suchen, wie sie Tore im Verlauf der Ereignisse sucht. (Im Gegensatz dazu dann: das Bordell, in dem Tore zur Prostitution gezwungen wird, als wahrlich höllischer Ort in Szene gesetzt.) Auch hier geht Gebbe konsequent bis zum äußersten, wenn am Ende tatsächlich Tore zum Märtyrer wird, der sich für das Leben anderer aufopfert.
Eine Zumutung ist das. Eine, wie sie sich das deutsche Kino gerne öfter leisten dürfte.

Tore tanzt läuft seit 28. 11. 2013 im Verleih von Rapid Eye Movies in den deutschen Kinos.


Donnerstag, 28. November 2013

Peckinpah-Notizen 3: Ride the High Country (1962)




 "My father says there's only right and wrong - good and evil. Nothing in between. It isn't that simple, is it?"
 "No, it isn't. It should be, but it isn't."
Genau zwischen den Extremen der väterlich-bigotten Weltsicht spielt Ride the High Country. Peckinpahs Hochland ist eine Zwischenwelt, in der man sich nach Einfachheit nur sehnen kann. Äußerlich liegt es zwischen der Stadt, dem Kapitalismus, den sich dieser Regisseur offenbar nur als grotesken Rummelplatz vorstellen kann, und der Goldmine in den Bergen, die sie beliefert. Gut und Böse, richtig und falsch können nur noch zwischen diesen beiden Polen der Reise, die der Film beschreibt, in und zwischen den vier Hauptfiguren überhaupt verhandelt werden. Jenseits von ihnen gibt es nur karikatureske Niedertracht, sei es von verschlagenen Bankern auf der einen oder gewalttätigen Rednecks auf der anderen Seite.
Ride the High Country ist ein Spätwestern - in jeder Beziehung. Den alten Westen gibt es nicht mehr und die Westerner, werden so oft auf ihr Alter angesprochen, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als sich gegenseitig damit aufzuziehen, sich ihr Stigma mit grimmigem Fatalisimus, in dem bei Peckinpah immer eine große Portion Zärtlichkeit steckt, anzueignen. Am Anfang muss der eine (Joel McCrea) aufpassen, dass er nicht von Kamelen überrannt oder von Autos überfahren wird, während der andere (Randolph Scott) nur noch als Jahrmarktsattraktion seinen Platz in dieser neuen Welt findet, der alle alten Versprechen von paradiesischer Freiheit gründlich ausgetrieben scheinen. Die beiden tun sich zusammen, um, im Auftrag der örtlichen Bank und gegen spärliche Bezahlung, eine große Ladung Gold aus der Mine in Goldcoarse in die Stadt zu bringen. Als dritter gesellt sich ein junger Mann (Heck Longtree) zu ihnen, der schon bald zwischen den unterschiedlichen Ambitionen der beiden älteren steht. Das Figuren-Quartett wird vollständig durch eine junge Frau (Mariette Hartley), die sich auf einer Farm, auf der die drei Männer übernachten, ihnen anschließt, fest entschlossen, einen Mann in Goldcoarse zu heiraten, um den Fängen ihres fanatisch religiösen Vaters zu entkommen. Von den beiden zentralen Konflikten des Films, ist der, den die denkwürdigen Dialoge zwischen McCrea und Scott in den Mittelpunkt rücken - Reichtum oder Ehre, schnelles Geld machen vs. das berühmte "I just wanna enter my house justified" - eigentlich der unbedeutendere. Wie in The Deadly Companinos ist die Frau, hier die auf atemberaubend schlichte Weise schöne Mariette Hartley, heimliche Hauptfigur des Films. War der Name Sam Peckinpah - spätestens - ab Straw Dogs (1971) für viele Feministinnen - nicht ohne Grund - ein rotes Tuch, gibt es hier sehr deutlich Ambivalenzen. Dass die Frau als das, worum die Männer kämpfen, mehr noch als das Gold, zu einem Objekt wird, macht der Film durchaus explizit sichtbar. Sie entkommt ihrer Opferrolle nicht aus eigener Kraft, wird nie wirklich zur Akteurin, aber Peckinpah solidarisiert sich durchaus mit ihrem Konflikt, der - ganz kurz gesagt - darin besteht, dass sie keine Männer will, die sie schlagen. Ihre Unterdrückung macht Peckinpah schon in der Einführung der Figur deutlich, wenn sie mit schlabbrigen Klamotten und Strohhut zunächst nicht mal als Frau zu erkennen ist, weil ihr Vater meint, ihre Reize vor der Welt verstecken zu müssen. Das Faszinierende an diesem Film ist, wie es ihm gelingt, einen vollkommen ungeschönten und dennoch ungemein zärtlichen Blick auf die Figuren und ihre Verhältnise zu werfen. Die beiden alten Männer schnauben fürchterlich, wenn sie den Berg hoch reiten, und philosophieren auch schon mal in ihrer Unterwäsche und bleiben dennoch larger than life. Und sei es auch nur im großen Pathos einer theatralischen Todesgeste.


 Übrigens: Es ist nicht so, dass Peckinpahs meisterlicher zweiter Kino-Film sein nicht ganz gelungenes Debut weiter diskreditieren würde. Vielmehr ist es eine wahre Freude zu sehen, wenn man sich die beiden Filme zeitnah anguckt, wie das, was dort schon an guten Ansätzen und Ideen vorhanden war, sich aber nicht wirklich entfalten konnte und bisweilen recht unbeholfen vor sich hin plätscherte, hier aufgeht und ins Fließen kommt. (Nun ist die letzte Metapher aber grundfalsch, um von Peckinpah zu sprechen. Ums Fließen gehts bei ihm ja gerade nicht, sondern um die großen (Um-)Brüche. Erzählt wird immer von den Rissen her, die sich durch Geschichte und Biographie ziehen, von den Kriegen und Zivilisationsschüben, kollektiven und persönlichen Traumata. Die furiose Montage des finalen Shoot-outs exerziert das - wie die Zeitlupensequenzen in späteren Filmen, die zum Markenzeichen des Regisseurs wurden - auf formaler Ebene durch in einer radikalen Fragmentierung von Bewegung und Bilderfluß.)



Freitag, 22. November 2013

The Gift (Sam Raimi, USA 2000)

Vor zwei Jahren ist der Mann von Annie (Cate Blanchett) bei einem Unfall ums Leben gekommen. Um sich und ihre drei Söhne über Wasser zu halten, nutzt sie ihre Gabe, bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit zu rekonstruieren oder aus der Zukunft vorherzusagen. Sie legt Karten für verschiedene Bewohner von Brixton, der Kleinstadt irgendwo im Süden der USA, in der sie lebt. Damit macht sie sich nicht nur Freunde. So rät sie Valerie Barksdale (Hillary Swank), ihren Mann Donnie (Keanu Reeves), der sie schlägt und misshandelt, zu verlassen, und zieht damit seinen Zorn auf sich. Er beginnt sie und ihre Kinder zu bedrohen. Als Jessica King (Katie Holmes), Tochter aus gutem Hause, Dorfschönheit und Verlobte des Schuldirektors Wayne Collins (Greg Kinnear), verschwindet, leiten Annies Visionen und Träume die Polizei zu einem Teich auf dem Grundstück der Barkdales, wo sie Jessicas Leiche finden. Donnie wird des Mordes angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt. Nur: hat er Jessica tatsächlich ermordet?
Nach dem ziemlich misslungenen Baseball-Liebes-Drama For Love of the Game, knüpft Raimi mit The Gift an die gute Tradition von A Simple Plan an (übrigens nach einem Drehbuch von Billy Bob Thornton, der dort eine der Hauptrollen spielte.) Ein Thriller um Mord in einem recht genau gezeichneten (wenn auch, hier mehr als dort, bisweilen stark überzeichneten) Kleinstadtmilieu - diesmal mit Mystery- und Horror-Elementen versetzt.
Wesentlich interessanter scheint es mir allerdings, The Gift als Komplementärfilm zu Army of Darkness zu lesen. Während Raimi beim Abschluss der Evil Dead-Reihe ein Mittelalter kreierte, dessen einziger "historischer" Bezugspunkt offensichtlich die Populärkultur des zwanzigsten Jahrhunderts war, reimaginiert er hier die Südstaaten des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts - gekennzeichnet durch die subtropische Vegetation und den breiten, die Worte schier endlos zerdehnenden Akzent aller Figuren - als Mittelalter. Hier hat die Kartenlegerin nicht nur regen Zulauf, sie erfüllt auch Funktionen, die um die letzte Jahrtausendwende eigentlich Psychologen und Sozial-Arbeiter inne haben sollten. Ja, sie wird sogar zur Hauptbelastungszeugin in einem Mordprozess. Diejenigen, die ihre Fähigkeiten - mit gutem Grund - fürchten, deklarieren sie als Hexe und fordern, zumindest tut Donnie das, mit ihr zu tun, was man im Mittelalter mit "Hexen" tat: sie verbrennen.
War schon A Simple Plan ein Film der es liebte, falsche Fährten zu legen - auch und nicht zuletzt, was die Identifikationsangebote für den Zuschauer anbelangte -, so greift The Gift das auf. Der Film beginnt mit in einander übergeblendeten Bildern von farnüberwucherten Bäumen in den Sümpfen. Mit einer eindeutigen Reminiszenz also auf die berühmten Kamerafahrten durch den Wald in The Evil Dead (die Gestaltung des Titels untermauert diesen Bezug). In den sehr gelungenen Bildern einer bedrohlichen unheimlichen Natur, die den Film durchziehen, evoziert Raimi den Horrorfilm und verweist zugleich auf dessen Ursprünge in Märchen und Schauerromantik. Das Grauen von Brixton geht dann aber gerade nicht von Dämonen oder Geistern aus - obwohl es letztere durchaus gibt -, es ist dezidiert diesseitig. Tratsch, Betrug, Mord, sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt. Genre-Dialektik. Die Mystik wird Aufklärung. Nicht nur weil Annie tatsächlich die einzige ist, die schließlich das Verbrechen aufklären kann, sondern auch weil gerade die Hellseherin ein Lichtblick in der wahrlich finsteren Welt des Films ist. Eine letzte Bastion von Vernunft und Menschlichkeit.
Die Besetzungsliste des Films ist nicht nur namhaft, die Darsteller sind auch durchweg ausgesprochen gut aufgelegt. Ist Annie eindeutig die einzige Figur, für die der Zuschauer Sympathien hegen kann, ohne dass sich diese irgendwann als Falle entpuppen, spielt Blanchett sie doch so undurchsichtig und geheimnisvoll, dass es die Identifikation reichlich erschwert. Großartig sind Keanu Reeves und Hillary Swank als Ehepaar, das kaum jemals eine gemeinsame Einstellung bekommt. Er spielt den Gewaltproleten abgrundtief böse - und doch mit genug Teenie-Schwarm-Charme, um ihm eine gewisse Ambivalenz zu verleihen. Raimi unterwandert nicht nur die physignomische Stereotype - "schlechte Menschen" erkennt man eben nicht automatisch an schlechter Haut und schlechten Zähnen -, sondern eben auch die negative Identifikationstruktur. Donnie ist Rassist und Antisemit ("You ain't better than a nigger or a jew," sagt er einmal zu Annie), ein fanatischer christlicher Fundamentalist, der Frauen verprügelt, wo er nur kann. Ein Riesen-Arschloch gewiss, aber deshalb eben noch nicht unbedingt ein Mörder. Swank ist beeindruckend als misshandelte Ehefrau. Ihre tiefe Verunsicherung und Verängstigung sieht man in jedem Schritt, jeder Geste, jedem Blick. Dennoch ist sie so zerrissen, ist ihre Bindung an den Peiniger so stark, dass sie nicht nur als Opfer erscheint - und dem Zuschauer der Figur gegen über nicht nur die - allzu bequeme - Position überbordenden Mitleids bleibt. Giovanni Ribsi spielt eine weitere wichtige Nebenrolle als Buddy Cole. Seine schwere psychische Erkrankung - nicht zuletzt die Folge katastrophaler Bedingungen in seiner Familie macht ihn zu einem - vielleicht zum einzigen echten - Verbündeten Annies. Im Finale nimmt er gar eine deus ex machina-Funktion, oder doch nicht? Schließlich sei noch Greg Kinnear erwähnt als an seinem Umfeld und seiner Verlobten zunehmend verzweifelnder Schuldirektor. Recht sympathisch, aber...
Sicher ist das alles sehr clever (vielleicht manchmal etwas zu clever und zu sehr in die eigene Cleverness verliebt). Was dem Film bisweilen allerdings abgeht ist die Dringlichkeit der Verhältnisse, die Hermetik des dargestellten Milieus, die A Simple Plan so meisterlich machte. So zunehmend abscheulich die Taten der Figuren dort auch waren, sie ergaben aus den Umständen heraus doch so sehr "Sinn", blieben so stark nachvollziehbar, dass es schwer war, sich ihnen zu entziehen. Das bleibt hier teilweise bloße Behauptung. Ein Beispiel: Nachdem Donnie in ihr Haus eindringt, ruft Annie die Polizei. Der eintreffende Polizist ist mit Donnie befreundet, so dass ihr der Versuch, Hilfe zu holen letztlich nicht mehr einbringt, als nur noch vehementere Drohungen. Reicht eine solche Szene aber tatsächlich aus, um die Hilflosigkeit zu erklären, mit der sie und ihre Familie Donnie in der ersten Hälfte des Films ausgeliefert scheinen?
Für Annie scheint das Geschehen des Films letztlich kathartische Funktion zu haben in der Bewältigung ihres Traumas, des Verlusts ihres Mannes. Dafür findet die letzte Szene eine ebenso schönes wie sonderbares Bild: Frau und Kinder am Grab des Mannes und Vaters als Menschenknäuel vereint. Dieser Konflikt scheint zwar vorher durchaus auf, geht allerdings unter der Vielzahl von Figuren, Handlungssträngen und Verweisen etwas unter.
Trotzdem: Unterm Strich bleibt ein spannender, exzellent gespielter und mitunter schaurig schöner Mystery-Thriller.

Dienstag, 19. November 2013

Movie of the week 8: Yankee (Tinto Brass, Italien, Spanien 1966)


"Einer, der Portraits sucht, um Rahmen zu verkaufen." So nennt Concho (Adolfo Celi), der große Schurke, einmal den Mann, den sonst alle nur Yankee nennen (Philippe Leroy). Diese geheimnisvollen Worte führen direkt zur Essenz des Films, in dem es um Portraits geht, um Bilder, um Rahm(ung)en. Ein Film, der das Genre dekonstruiert, indem er seine Bilder überhöht, verzerrt, rahmt und - in ihrer ganzen Bild-Haftigkeit - ausstellt. Eine groteske Galerie des Italo-Western.
Zunächst, im Saloon, eher implizit. An den Objekten und Körperteilen, die in Großaufnahme ins Bild gerückt werden - ein Flintenlauf, Augenpaare, fast das Dekoltee sprengende Frauenbrüste, ein Bündel Geldscheine, Spielkarten - ist der Fetischcharakter längst wichtiger, als ihre - sowieso rudimentäre - narrative oder dramaturgische Funktion. Dazu Ausleuchtung und Farben von exquisiter Künstlichkeit und die Schauspieler, die ihre - denkbar obskuren - Dialoge eher zu rezitieren scheinen, als dass sie sie sprechen würden.


(Auch großartig: der Vorspann. Die Sonne, ein roter Feuerball im Hintergrund, taucht das ganze Bild in Orange, im Vordergrund Ähren, dazwischen Yankee, der, als Schatten auf seinem Pferd, für die Kamera posiert und gar nicht so tut, als würde er etwas anderes machen, als eben das: für die Kamera posieren.)


Später dann, im Sheriffs-Office und der Kirche, in der sich die Banditen um Concho häuslich eingerichtet haben, explizit. Zwei Galerien sind das. Die erste zeigt Steckbriefe ("hässliche Visagen, aber hübsche Summen"). Die zweite eine Vielzahl von Portraits von Concho, mit denen er sich - Norma Desmond-like - umgibt - und die übrigens an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten sind.
Bei dem Kampf, der sich zwischen Yankee und Concho entspinnen wird, scheint es um nichts anderes zu gehen als um Bilder und die Verfügungsgewalt über sie. Yankee besucht die Bleibe seines Widersachers nachts, als dieser nicht zuhause ist. Er lässt nichts als leere Rahmen zurück. Das Badezimmer, in dem er Conchos Frau Rosita (Mirella Martin) in der Wanne antrifft, leuchtet rot gestrichen, mittig im Bild, während es ausserhalb des Rahmens der Tür, durch den gefilmt wurde, nur tiefe Dunkelheit gibt. Rosita übrigens lächelt den Mann nur an, der mit gezogener Pistole vor ihr steht, erwartungsvoll, wissend. Das Frauenbild. Außer ihr entwendet Yankee auch noch die vielen Abbilder ihres Mannes, schneidet sie aus den Rahmen, um sie an den Wänden der Stadt aufzuhängen. Darüber, nicht etwa über die Entführung seiner Frau, ist Concho so erzürnt, dass er die Bilder mitsamt den Wänden, Häusern, Frauen, Männern und Kindern, niederschießen und niederbrennen lässt. Die ganze Stadt in ein Bildnis des Höllenfeuers verwandelt. Brüllend verspricht er, das ganze Land mit Steckbriefen von Yankee pflastern zu lassen. Dann die Schießerei, zehn Minuten lang, in einem verlassenen Dorf, dessen Gemäuer mit ihren sinnlosen Fenstern und Türen zu nichts weiter dienen, als das Bild und die Figuren in ihm, die lebenden zuerst, später dann auch die toten, - manchmal gleich mehrfach - zu rahmen. Yankee gerät, wie es den Protagonisten eines Italo-Westerns im vierten Akt nun mal geschieht, in Gefangenschaft der Banditen. Concho erschießt Rosita. Tot liegt sie auf dem Boden, ihr Gesicht in Großaufnahme von oben, ein pittoresk gestalteter Blutfleck neben ihrem Mund. Yankee wird eingerahmt in einem Ring aus Feuer. Einen Menschen zu töten, bedeutet in diesem Film offenbar ein Bild von ihm zu machen, ihn in ein Gemälde zu verwandeln.
 

Mit politischen Lesarten des Films sollte man vorsichtig sein. Gewiss, überbordend ist die religiöse Symbolik. Einmal wird ein Gelage der Banditen als letztes Abendmahl inszeniert. Die Schurken haben mit "echten" Faschisten nicht nur die - oft willkürliche - Grausamkeit gemein, sondern auch die Bild-Besessenheit. Außerdem geht es ja auch irgendwie noch um Geld und Gold - auch wenn deren Wert hier eindeutig unter dem der Bilder zu stehen scheint -, was auch ein Bindeglied zwischen den vorigen Elementen sein könnte. Wer das alles jedoch zu voreilig beim Wort nimmt, ist im falschen Film oder zumindest auf der falschen Ebene der Repräsentation. Brass kritisiert nicht, er rahmt und stellt aus, zeichnet vielleicht Studien zu einer Kritik - woran auch immer.
Als Genre-Film, als narratives Unterhaltungskino also, funktioniert Yankee nur sehr bedingt. (Deshalb nimmt es kaum Wunder, dass der Produzent den Film - ich nehme an mit einigem Entsetzen und ziemlich radikal - umschneiden liess.) Als wahnwitziges Experiment im karikaturesken Genre-Gewand jedoch, ist er nicht nur großartig, sondern wahrscheinlich auch ziemlich einmalig. (Deshalb ist es umso löblicher, dass die Spaghetti-Western-Aficionados bei Koch Media ihn erstmals in seiner ursprünglich von Brass geplanten Form rekonstruierten und auf DVD veröffentlichten.)


P.S. Tinto Brass, später durch seine Sex-Filme berüchtigt geworden, hat nie wieder einen Western gedreht. Wie zum Teufel hätte der nächste denn auch aussehen sollen?

P.P.S. Schon erstaunlich, wie viel man aus diesem Film kennt - und zwar aus ungleich bekannteren, aber später entstandenen Western. Dass zu Beginn von The Wild Bunch (1969) ebenfalls ein sadistisches Spiel mit Skorpionen und Feuer stattfindet, ist wohl eher Zufall. Dass aber Sergio Leone diesen Film kannte, als er am Ende von Spiel mir das Lied vom Tod (1968) einen Menschen mit Schlinge um den Hals auf den Schultern eines Angehörigen stehen ließ, davon gehe ich jetzt einfach mal aus.


Donnerstag, 14. November 2013

For Love of the Game (Sam Raimi, USA 1999)

Billy Chapel (Kevin Costner), alternder Baseball-Star bei den Detroit Tigers, steckt tief in der Krise. Just an dem Tag, an dem er in New York ein entscheidendes Spiel gegen die Yankees zu beschreiten hat, eröffnet ihm der Manager, dass er das Team verkauft hat, und rät ihm zugleich sich nach einer eher mittelmäßigen Saison in Würde zur Ruhe zu setzen, solange er noch kann. Wenig später macht auch noch seine Freundin Jane Aubrey (Kelly Preston) nach fünf Jahren turbulenter Beziehung mit ihm Schluss. Sie hat sich entschlossen, ein Job-Angebot in London anzunehmen. Sein bester Kumpel und langjähriger Team-Kollege Gus Sinsky (John C. Reily) bringt es auf den Punkt: "This ain't your day, Billy."
Gerade der schlimmste Tag seines Lebens jedoch bietet Billy die Möglichkeit, das beste Spiel seines Lebens zu machen - und damit nicht nur sein Team zu retten.
Auf den ersten Blick mag schon der Titel in der Filmographie des Regisseurs sonderbar erscheinen. Sam Raimi, bekannt geworden durch exaltierte Splatter- und Comic-Exzesse, dreht ein Beziehungsdrama mit Baseball und Kevin Costner (oder doch eher: Ein Sportler-Drama mit Liebe und Kelly Preston? Sei's drum.) Bei genauerem Hinsehen jedoch passt dieser Film gleich aus mehreren Gründen in Raimis Oeuvre. Zum Einen stehen die fünf Filme, die Raimi in den Neunzigern gemacht hat, im Zeichen des Experimentierens mit verschiedenen Genres, denen er jeweils einen recht eigenen Stempel aufdrückte. Dann - und viel wichtiger - ist die Geschichte vom Sportler, der gerade an seinem beruflichen und privaten Tiefpunkt über sich selbst hinaus wächst, eine sehr typische Raimi-Geschichte. Raimis ProtagonistInnen finden sich immer in einer radikal veränderten Situation, in der sie nur bestehen können, indem sie über sich selbst hinauswachsen. Von Ash in The Evil Dead bis zu Peter Parker in Spider-Man. Natürlich kann man darin autobiographische Züge Raimis finden, der vom - sicherlich enorm talentierten - Film- und Comic-Freak mit zwanzig zum Blockbuster-Regisseur mit eigener Produktionsfirma mit vierzig wurde. From rags to riches. Der amerikanische Traum. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass Raimi diese Geschichte der Held-Werdung ein ums andere Mal radikal und bissig auf den Kopf gestellt hat. Für Darkman bleibt letztlich nur die Erkenntnis, dass man eine durch Gewalt aus den Fugen geratene Welt nicht durch Rache, also mehr Gewalt, wieder einrenken kann. Auch Hank, der etwas spießige Suburbia-Normalo in A Simple Plan, wird im Verlauf des Films Dinge tun, die er sich zu Beginn nicht einmal träumen ließ: etwa Menschen ermorden und Tatorte manipulieren.
Nur: Dass For Love of the Game ein "echter Raimi" ist, macht den Film leider auch nicht besser.
Doch zunächst zu den Stärken, die es durchaus gibt. Bei der Inszenierung der Spiel-Szenen kann Raimi seinem Stilwillen freien Lauf lassen. Der Lärm des vollen Stadions wird einmal komplett ausgeblendet, um nur die Konzentration auf Kostners Gesicht sichtbar zu machen, über das die Kamera langsam, in Zeitlupe gleitet. Nach dem gelungenen Wurf kehrt die Geräuschkulisse umso tosender zurück. Der Ball zischt so scharf durchs Bild, als wolle er es diagonal zerschneiden und es scheint geradezu logisch, dass Raimi hier überblendet zum Lärm des Flughafens, wo Jane - zunächst widerwillig, dann immer gebannter - das Spiel im Fernsehen verfolgt. Einmal scheint Kostner, in der Rückenansicht vollständig im Bild, vom Hintergrund des Stadions komplett losgelöst, geradezu zu schweben, oder eher: die Tribünen auf ihn zuzukommen. Vielleicht sind solche Bilder, streng affirmativ und nahe an der Ästhetik von Werbe-Clips, tatsächlich die geeignetste Art vom Verhältnis von Individuum und Masse im Star-System des Profi-Sports zu erzählen. Auf jeden Fall sind sie so spannend, dass sie einen gut bei der Stange halten. Was, von mir kommend, der ich allgemein nicht sonderlich sportinteressiert bin, und speziell über Baseball kaum mehr weiß, als dass da jemand nach einem Ball schlägt, den ein anderer geworfen hat, durchaus ein Kompliment ist.
Auch Kevin Costner macht seine Sache streckenweise sehr ordentlich. Wie er, am Abend vor dem Spiel, im luxuriösen Hotel-Zimmer sitzt und auf Jane wartet, die nicht kommt, den Ellenbogen im Sektkühler und die Flasche am Hals, sind gelungene Bilder von einem, der im und am Erfolg gescheitert ist. Vom Klischee des abgewrackten Sportlers, der nicht einsehen will, dass seine Karriere zuende ist, einige entscheidende Nuancen weit entfernt. Jedoch verheddert sich Costner bald dort, wo Kelly Preston von Anfang an hängt - in den Wendungen eines überambitionierten Drehbuchs. Erzählt wird also die Liebesgeschichte zwischen Billy und Jane, in Rückblenden während des Spiels. Dabei wird nichts ausgelassen - weder im Spiel noch in der Liebe. Es gibt Kräche und Versöhnungen, Seitensprünge und Beziehungspausen. Heathers adoleszente Tochter kommt ebenso ins Spiel, wie die Beziehungen zu früheren Team-Kollegen oder Balljungen, die heute als Gegner auf dem Platz stehen. Eine schwere Handverletzung, die er einst erlitt fängt gerade dann an, Billy Schulterprobleme zu bereiten, wenn das Spiel in die entscheidende Phase kommt und er seinen Arm als Werfer am dringendsten braucht. Retten kann schließlich nur noch der Team-Geist - und am Ende applaudieren sogar niedergeschlagene Yankees-Fans.
Das Problem ist nicht so sehr, dass das alles auf den reinen Effekt abzielt, auf großes Gefühl, Spannung und Dramatik, sondern dass der Film beständig so tut, als würden hier große Dinge verhandelt werden. Die kleine Geschichte über eine Beziehung und ein Baseball-Spiel, möchte großes verkünden über den Zustand der Projekte Familie, (heterosexuelle) Liebe und amerikanischer Profi-Sport, den Konflikt zwischen Star-Ruhm und Privatleben, und sicher noch einiges andere - und bleibt dabei ständig im Trivialen. Die unverständliche Lauflänge von fast 140 Minuten scheint da symptomatisch. Schlimm ist also nicht so sehr, dass der Film nichts zu sagen hat, dass er aber in einem fort behauptet, er hätte es, nervt irgendwann gewaltig.
Gut möglich, dass jemand, der mit Raimi die lebenslange Baseball-Leidenschaft gemein hat, For Love of the Game eher als das goutieren kann, was er - der Titel verrät's - sicherlich sein soll: eine große Liebeserklärung an den Sport. Für mich jedoch ist, ironischerweise, gerade Raimis Liebesfilm das, was seine anderen ungleich grelleren, gewalttätigeren, "lauteren" Filme nie waren: Viel Lärm um nichts.  

Montag, 11. November 2013

Darkman (Sam Raimi, USA 1990)

Darkman habe ich irgendwann in der ersten Hälfte der Neunziger als VHS-Kassette auf dem Flohmarkt erstanden. Wie bei härteren Genre-Filmen auf deutschen Speichermedien jener Zeit üblich: FSK18, indiziert und zu allem Überfluss noch - wenn auch nur leicht - gekürzt. Ich mochte den Film damals sehr, deklarierte ihn, etwas provokant und dem Spott eines bestimmten (Film-)Freundes zum Trotz, auch später noch als Klassiker. Dass der Film dieses Jahr endlich vom Index gestrichen (man fragt sich wirklich, was er jemals dort zu suchen hatte), neu in HD abgetastet und von Koch Media auf DVD und Blu-ray veröffentlicht wurde, fällt glücklich mit meiner Auseinandersetzung mit dem Raimi'schen Gesamtwerk zusammen. Auf die erste Sichtung nach mindestens zehn Jahren, war ich sehr gespannt. Die frohe Botschaft: ich mag den Film heute immer noch - vielleicht mehr denn je.
Der Wissenschaftler Peyton Westlake (Liam Neeson) arbeitet fieberhaft daran, eine künstliche Haut zu erschaffen. Bisher zerfallen deren Zellen nach 99 Minuten wieder. Zufällig bekommt seine Freundin Julie (Frances McDormand) ein Dokument in die Hände, das beweist das ihr Chef in einer Baufirma, Louis Strack Jr. (Colin Friels), bei dem Projekt eines gigantomanischen Hochhausviertels mit dem skrupellosen Gangster Robert Durant (Larry Drake) zusammenarbeitet. Dass sie das Papier im Peytons Büro liegen lässt, wird diesem zum Verhängnis. Denn genau hier suchen Durant und seine Männer es, töten den Labor-Assistenten, verätzen Peytons Gesicht mit Säure und jagen das Labor in die Luft. Peyton wird von der Explosion in den anliegenden Fluß geworfen. Er überlebt und wird mit Verbrennungen am ganzen Körper am Ufer geborgen und in ein Krankenhaus gebracht. Durch einen neuen medizinischen Eingriff wird sein Schmerzempfinden komplett ausgeschaltet. Peyton flieht aus dem Krankenhaus und sinnt darauf, seine zerstörtes Leben wieder herzustellen - und Rache zu nehmen an den Männern, die es zerstörten.
Raimi wollte eigentlich schon 1990, lange vor Spider-Man (2002), einen Comic verfilmen, erhielt aber weder für Batman noch für The Shadow die Rechte. Also schuf er mit Darkman seinen eigenen Super(anti-)helden, basierend auf einer von ihm selbst geschriebenen Kurzgeschichte, die er als Hommage an die alten Universal-Horrorfilme konzipiert hatte. Darkman ist zugleich mad scientist, Frankenstein, und Monster, und in seinen Verbänden sieht er aus wie eine Mumie, die von den Toten aufersteht. Die Art wie die Stadt, namentlich wird sie nicht benannt, gedreht wurde - erkennbar - in L. A., als gotischer düster märchenhafter Ort in Szene gesetzt wurde, erinnert an Tim Burtons, ein Jahr zuvor entstandenen Batman (Showdown in luftiger Höhe inklusive). Mit Hulk hat Darkman die unkontrollierbaren Wutausbrüche gemein. Auch zu Raimis eigenem Werk lassen sich mannigfaltige Bezüge finden: nicht nur chronologisch steht der Film zwischen dem zweiten und dem dritten Teil der Evil Dead-Reihe. In den Action-Szenen, besonders deutlich bei dem Überfall von Durant und seinen Männern auf das Labor, geht das Geprügel in seinen sonderbar abgehackten Bewegungsabläufen fließend in Slapstick über. Das Groteske entsteht nicht zuletzt durch den exzessiven Einsatz der subjektiven Kamera, die seit The Evil Dead eines von Raimis auffalendsten stilistsichen Markenzeichen ist. So wird hier etwa abwechselnd aus der Perspektive einer zuschlagenden Faust und dem Mann, der sie abkriegt gefilmt, und auch Peytons Weg ins Säurebad sehen wir durch seine eigenen Augen. Einer der Tricks von Darkman besteht darin, mittels der von ihm entwickelten künstlichen Haut, die Gestalt seiner Feinde anzunehmen. Wenn er so Durant mit "sich selbst" konfrontiert, erinnert das an die Verdopplung von Ash in Evil Dead II - bzw. seine Vervielfachung in Army of Darkness. In The Quick and the Dead, seinem übernächsten Film, sollte Raimi nicht nur die Rache-Thematik wieder aufgreifen, es gibt auch - mindestens - einen direkten szenischen Verweis. Nachdem er zu Darkman geworden ist, arbeitet Peyton weiter an seiner künstlichen Haut, per Überblende schweben dabei Reagenzgläser und allerlei andere Laborutensilien durchs Bild. In einer sehr ähnlich angelegten Szene wird Raimi fünf Jahre später in seinem Western Sharon Stone den Duellen beiwohnen lassen. Schließlich, und die Liste von Bezügen ließe sich wohl beliebig lange fortsetzen, erinnerte mich vieles in dieser düsteren, in der Gewalt aber auch den sozialen Kontrasten offen- und absichtlich überzeichneten Großstadt-Welt an Paul Verhoeven. Namentlich lassen sich einige Bezüge zu Robocop, auch so ein Comic-Film ohne direkte Comic-Vorlage, entdecken, etwa die Zusammenarbeit von organisiertem Verbrechen und Immobilien-Branche zum Bau der "Stadt der Zukunft".
Das faszinierende und verblüffende an Darkman ist, wie ernst Raimi die grelle, trashige, aus unzähligen popkulturellen Versatzstücken zusammengesetzte, vor comic-haften Ideen übersprühende, durch und durch ir- und surreale Welt dieses Films nimmt. Als Nebenwirkung der Behandlung, die Peyton absolut schmerzunempfindlich macht, treten extrem verstärkte unkontrollierbare Gefühle auf. Einsamkeit, Entfremdung, Wut. Es scheint als würde dieser ständige emotionale Overkill auf den ganzen Film übergreifen. Wie das monströse Antlitz der Hauptfigur sich hinter diversen Masken verbirgt, versteckt sich unter der Comic-Maske des Films ein finsteres im Tonfall grimmigisten Pathos erzähltes Melodram. Die Ärztin, die ihren Kollegen den Eingriff schildert, der an Peyton vorgenommen wurde, erklärt ihn zu einem der namenlosen Obdachlosen, die man täglich an den Ufern des Flußes findet, für die sich, so sagt sie, niemand interessiert, bis sie im Krankenhaus landen. Diese Worte scheinen performativen Charakter zu haben. Wenige Szenen später sehen wir Peyton, in Lumpen gehüllt, unter einem Pappkarton schlafen, im sinntflutartigen Regen, in dem die Stadt zu einem unscharfen Lichtermeer verschwimmt. Von hier erhebt er sich, kämpft sich auf seinem Weg der Rache bis an die Spitze der Skyline.
Eine Szene macht besonders deutlich, wie sich Darkman zum bisherigen Werk Raimis verhält. Die Evil Dead-Filme, der zweite vielleicht noch mehr als der erste, stellen sich dar wie wilde Achterbahnfahrten, kreuz und quer und auf und ab durch die Filmgeschichte. Das Ziel, das, wie es die Achterbahnmetapher besagt, der Weg ist, ist der Ursprung des Mediums als Jahrmarktsattraktion. Genau hier, auf dem Rummel also, kommt Darkman, per Maske zu Peyton zurückverwandelt, mit Julie an - und muss doch schnell wieder weg. Größeres wartet auf ihn, tragischeres. Das Schicksal des Monsterjägers, der längst selbst zum Monster geworden ist, des Gesichtslosen, der danach trachtet, eine alte Identität zurück zu gewinnen, die es nicht mehr gibt, und der erst im Anerkennen seiner Identitätslosigkeit zu sich finden kann. "I'm everyone - and no one. Everywhere - nowhere. Call me... Darkman."