Dienstag, 11. Februar 2014

Hinweis auf meinen Text zu "True Heart Susie" in der filmgazette....

...und einige Gedanken zur Struktur des Begehrens in zwei Filmen von D. W. Griffith

Zur Vorbereitung auf meinen Text zum großartigen True Heart Susie von D. W. Griffith, habe ich mir auch The Birth of a Nation, Griffith' vielleicht berühmtesten und sicherlich umstrittensten Film, erstmalig angeguckt. Mit dem großen Bürgerkriegs- und Nationsbildungsepos konnte (bzw. wollte) ich mich nicht  anfreunden. Die technische und formale Meisterschaft wiegt für mich seine rassistische Herrschaftsideologie nicht auf. Erschwerend kommt noch hinzu, dass mich der erste-, der Bürgerkriegsteil eher kalt ließ,  während mich erst der zweite-, der Reconstructionteil, in dem der Film dann ideologisch endgültig unerträglich wird, wirklich mitgerissen, stellenweise umgehauen hat. Nur hatte ich da eben gar keine Lust mehr, mich von einem Film mitreißen oder umhauen zu lassen, der Schwarze als niederträchtige und primitive Untermenschen darstellt - und den Ku-Klux-Klan als Widerstandsbewegung, die den Süden aus den Klauen der schwarzen Barbarei befreite. 
In beiden Filmen hat das Melodram ein klares Ziel vor Augen: Die Schaffung einer intakten anständigen Familie in True Heart Susie, die einer großen zivilisierten Nation in Birth. Um das Kleine, das individuelle Begehren der Menschen, so in den Dienst des Großen stellen zu können, wird zunächst ein gutes von einem schlechten, ein legitimes von einem illegitimen Begehren unterschieden. In True Heart Susie ist es das Begehren des Mannes, William heißt er, für zwei verschiedene Typen von Frauen, man könnte auch sagen: Zwei verschiedene Frauenbilder. Die treuherzige Titelfigur, plain and simple, steht auf der einen Seite, die "Schminke - und Puderbrigaden" (die martialische Metaphorik ist überaus aufschlussreich: Die "Liebe" als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln) auf der anderen.
Während Susie sich für ihren geliebten ganz und gar aufopfert, von Anfang an nur und immer für ihn da ist, wollen die aufgetakelten Frauen vor allem eins: Leben. Sie wollen ausgehen, tanzen, ficken, womöglich gar nicht nur mit einem Mann. Dass der Mann gerade den zweiten Frauentyp begehrt, dass Märtyrerinnen offenbar schrecklich unsexy sind, ist eine Prämisse, die Griffith setzt, und die durch die Domestizierung des männlichen Begehrens überwunden werden muss. Im Dienste der größeren Sache muss William aufhören, die Frauen zu begehren, die sich auch begehrenswert machen, und damit immer schon gefährlich für den Mann sind (nicht weil sie wirklich selbst zu Subjekten eines sexuellen Begehrens werden würden, aber immerhin scheinen sie sich, ganz anders als Susie, ihres Status als Objekt des männlichen Begehrens - und der gewissen Macht, die ihnen dieser verleiht - durchaus bewusst zu sein).
In Birth nun wird die Unterscheidung gemacht zwischen dem Begehren von weißen und schwarzen Männern - das sich bei beiden ausschließlich auf weiße Frauen richtet. Natürlich ist nur das der ersteren legitim. Melodram und Historie müssen sich hier so verbinden, dass nur das zusammenwächst, was auch zusammengehört (die Weißen aus den Nord- und Südstaaten), während das, was nicht zusammengehört (Weiße und Schwarze) tunlichst getrennt zu bleiben hat. Weiße Männer begehren Frauen wie es echte Gentlemen tun, Schwarze hingegen in der Art gefährlicher Wilder. Nur das gute, das zivilisierte, das "weiße" Begehren kann zum Zeugungsakt einer guten, zivilisierten (und weißen) Nation führen.
Auf den ersten Blick ist die sexualitätsfeindliche Bigotterie von True Heart Susie auch nicht viel liebenswürdiger als der unverhohlene Rassismus von Birth. Nur baut Griffith hier unverkennbar einige Widerhaken ein.
William heiratet schließlich die "Schminke- und Puderfrau" Bettina, sie ist - wie könnte es anders sein - eine ziemlich miserable Ehefrau. In einer Szene wird verbildlicht, wie er sein Eheleben gerne hätte, wie es aber in Wirklichkeit absolut nicht ist. Hier wird die biedere Männerphantasie von der überaufmerksamen, liebevollen Hausfrau inszeniert als Phantasie eines biederen Mannes.
Durch ein Unwetter, relativ leicht als göttlicher Eingriff erkennbar, wird ihm die falsche Frau vom Hals geschafft. Als er nach ihrem Tod auch noch von ihrer Untreue erfährt, steht seinem Glück mit Susie nichts mehr im Wege.
Allerdings lautet der letzte Zwischentitel dieses Films, der zu Beginn noch verkündete, alles was er erzählt sei absolut wahr:

And we may believe that they walk again as they did long years ago.

Mögen wir das glauben? Oder klingt das nicht viel eher, als ob der Film selbst seinem Märchen von der Domestizierung des Begehrens nicht ein einziges Wort glaubt?

Berlinale 2014: Anja Marquardt: She's lost Control (Forum)

Hinweis auf meinen Text in der filmgazette - der einzige, der soweit zu dem ohnehin sehr Wenigen, was ich gesehen habe, entstanden ist.

Montag, 10. Februar 2014

Die Mauer (Jürgen Böttcher, Deutschland 1990)

Die Sichtung des Films im Arsenal vergangenen Monat verlief nicht gerade optimal. Dafür, dass ich bei der Nachmittagsvorstellung irgendwie übermüdet war und mir ständig die Augen zu fielen, kann niemand was - am Film lag es ausdrücklich nicht. Dass der anwesende Regisseur sich in der letzten Szene lautstark echauffierte, dass der Ton zu leise sei und der Film dadurch verfremdet werde, machte das Kinoerlebnis allerdings auch nicht besser. Einerseits konnte ich seinen Ärger durchaus verstehen, andererseits ist es dann auch ärgerlich für jemanden, der den Film nicht zum hundertsten mal sieht, wenn gerade die letzten Minuten aus dem Kinosaal totgequatscht werden. (Dass ich nicht zur anschließenden Diskussion bleiben konnte, fand ich jedenfalls glatt etwas weniger schade.) Jedoch: Dass Die Mauer, den ich nun auf DVD nochmal gesehen habe, absolut faszinierend ist, merkte ich auch so - und zwar als Zeitdokument und als Film gleichermaßen.
Böttcher filmt das Geschehen an, unter und auf der Berliner Mauer unmittelbar nach der Öffnung. Der zeitliche Rahmen ist gesetzt vom November 1989 bis zum "The Wall"-Konzert auf dem Potsdamer Platz im Juli 1990. Natürlich weiß Böttcher, dass die Gegenwart, die er mit seiner Kamera einfängt in kürzester Zeit in den Geschichtsbüchern landen wird. Allein um Gesichtsschreibung geht es dem Film absolut nicht. Die Bilder von der Mauer, vom gespenstischen S-Bahnhof Potsdamer Platz und vom Brandenburger Tor werden auf keine Weise kommentiert; einen Voice Over gibt es ebenso wenig wie eingeblendete Daten, o. ä., extradiegetische Musik schon gar nicht.
Vielmehr scheint es Böttcher, DDR-Dokumentarfilmer und - unter dem Namen Maler Strawalde - Künstler darum, Geschichte auf eine ganz bestimmte Art erlebbar zu machen. Das wird etwa deutlich in den Szenen, in denen Böttcher historische Aufnahmen gegen die Mauer projiziert: Paraden zur Kaiserzeit, das Brandenburger Tor unter Hakenkreuzbeflaggung und die Fackelzüge der Nazis, Bilder aus dem geteilten Berlin und schließlich von der Maueröffnung. Böttcher ist auf der Suche nach der Materialität von Geschichte, ihren Texturen. Was ist Geschichte? Wie fühlt sie sich an? Wie klingt sie? In einer Szene legt eine Frau ihr Ohr an die Mauer, sie behauptet man könne hören, was drüben auf der anderen Seite passiert. Was sie hört sind jedoch vor allem die Geräusche der "Mauerspechte", wie man die Leute nannte, die mit Hammer und Meißel Stücke aus der Mauer klopften, um sie zu verkaufen oder als Souvenir mit nach hause zu nehmen. Auch die holt Böttcher kurz vor seine Kamera, etwa zwei türkischstämmige Jungs, die ihre Stücke feil bieten oder eine Gruppe japanischer Touristinnen. Der Klang der Gesichte im Berlin Ende 1989 scheint ein beständiges tack-tack-tack-tack zu sein, bei dem sowohl historische Artefakte als auch neue Texturen entstehen.
Geschichte, wie wir sie kennen, wird aber auch sehr deutlich als Inszenierung erkennbar. Vor dem Brandenburger Tor wird eine Reportage für CNN aufgenommen, viermal wiederholt der Reporter sein Statement: "this gate going nowhere, now goes somewhere. And all of East Germany knows where it goes."
In der Silvesternacht 89/90 schmeckt Geschichte dann hauptsächlich nach Sekt und riecht nach dem Feuerwerk, das den Himmel über dem Brandenburger Tor erhellt. Ein junger Mann hält eine leere Flasche Wodka Gorbatschow in die Kamera und ruft dazu: "Gorbi, Gorbi, Gorbi...." Ein anderer verkündet, am Boden sitzend, Woodstock sei gar nichts dagegen. Indem es der Kamera mitten im Getümmel gelingt, eine gemessene Distanz zu wahren, verwehrt sich der Film erfolgreich gegen jede platte Nutzbarmachung des Gezeigten. Er feiert nicht mit, er kritisiert aber auch nicht den kapitalistischen Event-Charakter, den Geschichte im späten zwanzigsten Jahrhundert angenommen hat, oder warnt, dass nach dem Rausch der Kater kommt. Vielmehr interessiert er sich im Großen, in den Massenaufläufen, im historischen Ereignis für das Kleine, die einzelnen Menschen, die einzelnen Begegnungen. In der Silvesternacht kommt ein junger Italiener mit einer Frau aus Kansas City ins Gespräch. In einer anderen Szene flirtet eine Frau aus Hannover mit einem jungen Volkspolizisten, Nummern werden getauscht. Klaus Kremeier bezeichnet das als "Liebesgeschichte im Schnee. Die Liebesgeschichte entsteht aus dem Nichts und flattert ins Nichts zurück."
Klar ist da begegnet sich was im Berlin der Maueröffnung. Was daraus werden wird, das ist eine andere Gesichte.

Sonntag, 9. Februar 2014

Hinweis: "Beat Street" in der filmgazette

Wie schon angekündigt steht mein Text zu "Beat Street" jetzt auch in etwas kürzerer Form (aber dafür mit ein paar Zeilen zur kürzlich erschienenen Blu-ray) in der filmgazette. Und hier gibt's nochmal den Trailer, der fast komplett aus Material besteht, das nicht im Film zu sehen ist, und auch sonst einfach nur schau ist.

Samstag, 8. Februar 2014

Menace II Society (The Hughes Brothers, USA 1993)

Filme, die sich mit dem Leben in afroamerikanischen Ghettos (besonders in Los Angeles) auseinandersetzten, schienen in den Neunzigern (besonders den frühen Neunzigern) en vogue zu sein. Was Menace II Society, den Debütfilm der Hughes Brothers, zu einem der besten (wenn nicht dem besten) dieser Filme macht, sind zwei eigentlich relativ einfache Clous.
Erstens ist er, vor allem der Form nach, eher Gangsterfilm als Sozialdrama, also mehr ein Goodfellas mit Schwarzen statt Italienern, mit West Coast Gangsta-Rap statt Guiseppe Di Stefano und den Stones, als eine Neuauflage von Boyz n the Hood. Die Inszenierung ist stilbewusst und elegant und verwehrt sich, wie bei Scorsese, der Faszination des gezeigten life styles nicht.
Zweitens ist da die radikale Beschränkung auf die Perspektive einer einzelnen Figur, die das Geschehen per Voice Over kommentiert.
Im Prolog wollte Caine (Tyrin Turner) eigentlich nur mit seinem Kumpel O-Dog Bier kaufen gehen. Als er den Laden verlässt, ist er Komplize eines kaltblütigen Doppel-Mords und bewaffneten Raubüberfalls.
Dann sieht man historische Bilder von den Watts Riots, die das fast ausschließlich von Schwarzen bewohnte Armenviertel in Los Angeles 1965 erschütterten. Mit den Worten: "When the riots stopped, the drugs started", leitet Caine über in seine Kindheit in den späten Siebzigern. Sein Vater verkauft Drogen, seine Mutter nimmt sie. Beide sterben früh. Ein helicopter shot führt in das Watts der Gegenwart der frühen Neunziger. Caine lebt bei seinen Großeltern und hat mit ach und krach seinen High School-Abschluss gemacht. Die fehlenden Eltern, die schon vor ihrem frühen Tod kaum für ihn da waren, sind der entscheidende missing link zwischen ihm und seinen bigott religiösen Großeltern. Der Film begleitet Caine einige Sommertage durch den Alltag im Ghetto zwischen Drogen, Kriminalität und Mord.
Dabei wird auf Realismus heischendes Handkamera-Gewackel größten Teils verzichtet. Auch von den gängigen Bildern verwahrloster Ghetto-Straßen gibt es eher wenige. Stattdessen gleitet die Kamera mit Hang zur Plansequenz - auch hier der deutliche Scorsese-Bezug - meist durch oft ziemlich stylisch ausgeleuchtete Interieurs. Das unterstreicht das klaustrophobische Setting eines Films, der, wie sein Protagonist, das Ghetto nicht ein einziges Mal verlässt. (Dementsprechend kann man die nicht-schwarzen Figuren, die - alle sehr kurz - zu sehen sind, wohl tatsächlich an einer Hand abzählen.)
Die Figuren, die diese Welt bevölkern, sind oft dicht am Stereotyp (schwer zu sagen, ob sie das auch 1993 schon waren, oder ob man sie einfach nur seitdem zu oft gesehen hat). Es gibt die mehr oder minder psychopathischen Freunde, wie O-Dog, den Kane als "America's nightmare" beschreibt: "Young, black and didn't give a fuck." Es gibt die junge Frau, die sich allmählich in Caine verliebt, und aus dem Ghetto raus will, um ihrem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen, als es der im Knast sitzende Vater hatte. Es gibt diejenigen, die in verschiedenen Konfessionen ihren Glauben gefunden haben und versuchen, verlorene Seelen vor den Straßen von Watts zu retten. Es gibt diejenigen, die das Ghetto, in dem tagtäglich Schwarze einander töten und sich gegenseitig Drogen verkaufen für ein Grand Design des weißen Mannes halten und es gibt die brutalen rassistischen Übergriffe weißer Polizisten.
Was es jedoch nicht gibt - und das ist der entscheidende Unterschied zu den meisten thematisch verwandten Filmen - ist irgendeine moralisierende oder didaktische Instanz, die zwischen den Protagonisten und uns geschaltet werden würde. Was falsch oder richtig ist, wird dem Zuschauer nicht vorgekaut oder eingebläut, vielmehr muss er sich in einer Welt ohne Anleitung selbst ein Bild schaffen - so wie Caine. Die Gewalt in diesem Film ist nicht in erster Linie "böse", sondern schrecklich banal, sinnlos, allgegenwärtig. Man sieht sie durch die Augen eines Menschen, der als Kind zum ersten Mal beobachtete, wie sein Vater einen Mord verübte, der es nie anders kennengelernt hat. Auch hier wird konsequent auf eine vermittelnde dramaturgische Instanz verzichtet.
Caine ist weder ein Held noch geht es um eine Läuterungsgeschichte. Er entscheidet sich nicht für den Weg des Rechtschaffenden, sondern lediglich fürs Überleben. Er tut es zu spät. Einmal mehr gibt es weder die Erlösung in der Genreform noch die Zuflucht in Melodram oder Pathos.
Menace II Society ist ein wichtiger Film. Einer, der auf sehr kluge Weise verdammt wütend ist.

Beat Street (Stan Lathan, USA 1984)

(Dies ist die Extended Version eines Textes, der in etwas gestraffter Form demnächst in der filmgazette erscheinen wird.)



Die Bronx in den frühen Achtzigern: Ein paar Freunde machen sich auf den Weg auf eine Party in einem leer stehenden Haus. Für die Elektrizität wird der nächste Strommast angezapft. Kenny sorgt am Mikrofon und den Turntables für Musik, während sein kleiner Bruder Lee auf der Tanzfläche halsbrecherischen Break Dance hinlegt. Ramón (A. K. A. Ramo), passionierter Sprüher, hatte seinen großen Auftritt schon auf dem Hinweg, als er Fotos von dem vergangene Nacht produzierten whole car, einem über die gesamte Fläche besprühten U-Bahn-Waggon machte. Chollie hingegen, der vierte im Bunde, macht sich hauptsächlich Gedanken darüber, wie er seinen Freunden helfen kann, ihr Talent zu Geld zu machen.

Beat Street ist ein Film über die Hip-Hop-Kultur, die sich in den 1970er Jahren im Süden der New Yorker Bronx entwickelte. Der Stadtteil wurde durch eine Entwicklung, die in den sechziger Jahren einsetzte, zugleich zu einem Muster- und einem Extrembeispiel für die Mechanismen von innerstädtischem Verfall und Ghettoisierung. Wer es sich leisten konnte zog weg; im Verlaufe der Siebziger verringerte sich die Bevölkerung in den Kerngebieten der South Bronx um mehr als die Hälfte. Die, die blieben – oder durch Sozialbauprojekte systematisch hierhin umgesiedelt wurden – waren die Ärmsten der Armen der amerikanischen Gesellschaft. Überwiegend afroamerikanische Sozialhilfeempfänger oder Migranten-Familien, vor allem aus der Karibik und Lateinamerika. Drogen und Bandenkriminalität griffen um sich. Die gängige – und von behördlicher Seite weitestgehend tolerierte – Praxis resignierter Hausbesitzer, ihre leer stehenden und wertlosen Immobilien nieder brennen zu lassen, um Versicherungsgelder zu kassieren, gab weiten Teilen des Bezirks das Aussehen einer Stadt nach einem Bombenangriff.  

Vor diesem Hintergrund stellt die Entstehung des Hip Hop, der im Verlaufe der Siebziger aus dem DJing auf Block Partys entstand und bis Ende der Dekade um die Kunstformen des Rappens (MCing), des Graffiti-Writings und des Break Dance erweitert wurde, in mehrerer Hinsicht eine Utopie dar.

Zum einen legt sie Zeugnis ab von der Kreativität der Abgehängten und Ausgeschlossenen. Aus den musikalischen Wurzeln im Soul und Funk sowie den jamaikanischen Sound Systems entstand gerade dort wo keiner hin will, etwas vollkommen Neues. Zum anderen sollte ihre ungezügelte Kreativität die Jugendlichen davon abhalten, die Probleme ihres Alltags mit Drogen zu betäuben. Sie anregen, Konflikte nicht mit Gewalt, sondern im battle mit der Sprühdose, am Mikrofon oder auf der Tanzfläche auszutragen.

Um 1980 belegte der immense Erfolg von Rappern und Gruppen wie The Sugar Hill Gang, Kurtis Blow oder Grandmaster Flash and the Furious Five die kommerziellen Möglichkeiten, die vor allem die Musik bot: Die Subkultur aus dem Ghetto als Neuauflage des amerikanischen Traums. Aber auch in seinen schlechter vermarktbaren Formen schien Hip-Hop die Möglichkeit zu bieten, soziale Hierarchien zu subvertieren: Ihren Namen in bunten Bildern an eine U-Bahn zu sprühen, gab den Kids aus den Armenvierteln die Möglichkeit, ihn in die ganze Stadt zu tragen.

Beat Street nun handelt vor allem von dieser Kommerzialisierung des Hip-Hop. Dem Weg von den Block Partys in die angesagten Diskos der Stadt. Aus dem mit mühsam ersparten technischem Equipment ausgestatteten Kinderzimmer ins professionelle Tonstudio. Vom breaking for pennies an der Straßenecke auf die große Bühne.

Das wird schon in der Genese des Films sichtbar. In den Jahren zuvor hatten sich der semidokumentarische Spielfilm Wild Style (1982) und die fürs Fernsehen produzierte Doku Style Wars (1983) mit Hip-Hop beschäftigt, wobei das Hauptaugenmerk auf Graffiti lag. In Beat Street finden sich deutliche Bezüge zu beiden Filmen, er bindet diese aber eben schon in den Rahmen einer  professionellen B-Film-Produktion, die offensichtlich ein größeres Publikum ansprechen soll. Als Produzent zeichnet unter anderem Harry Belafonte verantwortlich. Unter den Sponsoren finden sich Puma und Kangol. Während im Mittelpunkt Tanz und Musik stehen, wofür vieles, was im Rap und Break Dance 1984 Rang und Namen hatte, vor der Kamera versammelt wurde, tritt die Handlung um den Graffiti-Künstler Ramo eher an den Rand. Dabei ist bezeichnend, dass es gerade ihm nicht gelingt, seine immer selbstzerstörerische Leidenschaft mit dem Privatleben in Einklang zu bringen. Als er schließlich das ultimative Objekt seiner Begierde erreicht, den nagelneuen weißen U-Bahn-Zug, den er zuvor jagte wie Kapitän Ahab den weißen Wal, nimmt es ein böses Ende mit ihm. Gerade die anarchischste, am schwierigsten den Gesetzes des Marktes und dem Streben nach Erfolg zu unterwerfende Ausdrucksform des Hip-Hop muss in einem Film wie Beat Street buchstäblich auf der Strecke bleiben.

Die sozialen Realitäten klingen durchaus immer wieder an, ohne dass der Film allzu sehr in die Tiefe gehen würde. Da ist der ältere Bruder von Kenny und Lee, der, wie man aus Erzählungen erfährt, Opfer der Ganggewalt wurde. Da ist Ramo, der nicht zuletzt daran scheiterte, seine eigenen Vorstellungen vom Leben mit denen seiner puertoricanischen Familie in Einklang zu bringen. Da ist sicherlich nicht zuletzt das leer stehende Haus, das zunächst für illegale Partys, später dann als illegaler Wohnraum genutzt wird. Dabei fällt auf, dass der Film sichtlich darum bemüht ist, auch das jüngste Publikum zu erreichen: Keine Waffen und Drogen, kein Sex und kaum Gewalt, die F- und S-Wörter lassen sich an einer Hand abzählen.

Die vehementeste Kritik jedoch findet sich in den Song-Texten, vor allem im wunderbaren und ziemlich bissigen ‚Santa’s Rap‘ von The Treacherous Three, sowie im bloßen Zeigen der heruntergekommenen Bronx-Straßen. In der eindrücklichsten dieser Szenen werden während des finalen Titel-Songs die Bilder von Abrisshäusern, verfallenden Brown-Stones, noch tristeren Sozialbautürmen und müllübersäten Brachen in einer beinahe Antonioni‘esken Montage-Sequenz zusammengefügt. Mit ihrem dokumentarischen Duktus sind diese Aufnahmen noch weit entfernt von den stereotypen Bildern des armen Amerikas, die im Verlauf der Achtziger Einzug in den Mainstream hielten, sei es in Eddie Murphy-Blockbustern oder Michael Jackson-Videos, und über die Georg Seeßlen einmal schrieb, sie seien „ungefähr so wahr wie Disneyland“. Beat Street ist auch hier das, was ihn, von den künstlerischen Schauwerten einmal abgesehen, am Interessantesten macht: Ein Umbruchs-Film.

Dass, diplomatisch ausgedrückt, weder das Drehbuch noch die Schauspieler Oscar-verdächtig sind, dass der Film nicht durchgehend gut gealtert erscheint, weil vieles was 1984 vielleicht (so ganz sicher bin ich mir da auch nicht) noch cool wirkte, zwischenzeitig eher unfreiwillige Komik entwickelt hat, tut eigentlich kaum etwas zur Sache.

Für hip hop heads und solche, die es werden wollen, für jeden, der sich für Jugendkulturen und ihre Kommerzialisierung interessiert führt an Beat Street eh kein Weg vorbei. Aber auch jedem, der einfach nur den mit immer wieder verblüffender Akrobatik über den Boden wirbelnden Körpern, bunt besprühten U-Bahnen, treibenden Break Beats, oder dem auf wunderbar naive Weise sozialkritischen Pathos früher Rap-Songs etwas abgewinnen kann, sei dringend ein Blick empfohlen.

Mittwoch, 5. Februar 2014

Hinweis: "Nanuk" in der filmgazette

Für die filmgazette habe ich Robert Flahertys wundervollen ersten Film Nanook of the North besprochen, der kürzlich bei absolut Medien auf einer kongenialen DVD erschienen ist.
Zur Einstimmung:


Dienstag, 4. Februar 2014

My Sweet Pepper Land (Hiner Saleem, Frankreich, Deutschland, Kurdistan 2013)



Irgendwo im Irak: Nach dem Sturz von Diktator Saddam Hussein ist ein Teil der Kurden unabhängig. Der Freiheitskämpfer Baran (Korkmaz Arslan) arbeitet für die provisorische kurdische Regierung. Auf der Flucht vor der Überfürsorge seiner Mutter, die kein anderes Ziel kennt, als ihren Sohn zu verheiraten, lässt er sich in einen kleinen Ort im Norden, an der Grenze zur Türkei und zum Iran versetzen – als Polizist. Hier ist Schmuggel die vorwiegende Beschäftigung, und das Gesetz, das Baran verteidigen soll, keinen Heller wert.

Stattdessen herrscht der lokale Klanchef Aziz Aga mit harter Hand. Der rechtschaffene und unbestechliche Baran macht sich bei ihm und seinen Männern schnell unbeliebt. Zudem tut er sich auch noch mit einer anderen Außenseiterin zusammen: Govend (Golshifteh Farahani), die als Lehrerin den Kindern des Ortes lesen und schreiben beibringt. Die junge schöne Frau muss nicht mehr tun, als unabhängig und allein stehend zu sein, um sich den zunehmenden Hass ihrer vielen Brüder und den Argwohn der Männer des Dorfes zu zuziehen. Als sich Baran auch noch in den Auseinandersetzungen zwischen dem Klan und einer Gruppe von Frauen die Govend von früher kennt und die sich zum Guerilliakampf in die Berge zurückgezogen haben für letztere einsetzt, eskalieren die Ereignisse zunehmend.

Ein kurdischer Western also. Saleem lässt reichlich Bezüge zur amerikanischen Populärkultur in seinen Film einfließen: Wenn Baran zu seinem neuen Arbeitsplatz fährt, singt Elvis im Radio: "You're so square, but Baby I don't care." Eine Tankstelle, an der er anhält, sieht aus wie aus einem Gemälde von Edward Hopper. Americana in Kurdistan. Auch viele Western spielten nach einem Krieg, dem amerikanischen Bürgerkrieg, der für die Entfaltung der Handlung als Vorgeschichte essenziell war. Baran ist der Sheriff, der in eine entlegene Stadt kommt, um für Recht und Ordnung zu sorgen, wie ihn etwa Joel McCrea des Öfteren spielte, in den tollen Western, die Jacques Tourneur in den Vierzigern und Fünfzigern drehte.  Auch die Lehrerin, die mit Büchern statt Waffen für ein besseres Land kämpfen will, ist an gängige Figuren des amerikanischen Westerns angelehnt. Allerdings erledigte den Job dort meist noch ein Mann, wie etwa in The Man who shot Liberty Valance. (Interessant: wenn man die Verbindung zwischen Govend und der Gruppe von Guerilla-Kämpferinnen betrachtet, ergibt sich eine ähnliche Konstellation, wie die zwischen Jimmy Stewart und John Wayne in dem Ford-Klassiker - nur dass alle beteiligten hier Frauen sind.) Gleichzeitig schließt Saleem aber auch an die zynischere, gewalttätigere, "dreckigere" Tradition des Italo-Westerns an. Das Gesicht von Korkmaz Arslan hat in den Großaufnahmen, deren es gerade am Anfang viele gibt, einen gewissen Franco Nero-Touch. Zu Beginn ist er daran beteiligt, das erste Todesurteil der unabhängigen kurdischen Regierung zu vollstrecken. Eine Szene, die wesentlich mehr als der Rest des Films eindeutig ins Groteske überzeichnet ist: Um jemanden zu hängen braucht man also, so lernen wir, erstens einen Strick, der zweitens so befestigt werden muss, dass er auch hält. Nach dem gescheiterten ersten Versuch wird erst mal ausgiebig debattiert, wie weiter zu verfahren sei. Ergebnis: Der Verurteilte muss nach der Hinrichtung auf jeden Fall tot sein. Wenn ihm die Augen verbunden werden, sind diese leinwandfüllend im Bild, eine Art der Einstellung, die man "Italienische" nennt. Nur ist das Bild bei Saleem nicht, wie bei Sergio Leone und Co., genau zentriert, sondern ein Stück verschoben. Diese Verschiebung beschreibt die Art, wie sich My Sweet Pepper Land dem Genre nähert.

Einerseits werden dessen Motive in einem fort evoziert: Da ist der Ort an der Grenze, nicht der US-mexikanischen, sondern der irakisch-iranisch-türkischen. Da ist der patriarchalische Ober-Schurke, der über diesen Ort mit harter Hand herrscht. Da ist die Bar, das Pepper Land, das deutlich einem Saloon nachempfunden ist. Andererseits begnügt sich der Film nicht damit, auf den Verfremdungseffekt zu zielen, der sich aus der Änderung von Epoche und Schauplatz ergibt. Also Turban statt Sombrero, Maschinenpistolen statt Colts, Tee statt Whisky.

Eher nutz er eine Genre-Erzählung, die einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext entstammt, um eine ganz andere kulturelle und historische Situation zu zeigen. Es gelingt ihm dabei, beide gleichermaßen ernst zu nehmen, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten aufzuzeigen. So ist der patriarchalische Ehrbegriff, dem sowohl Aziz Aga als auch Govends Brüder folgen, schon ein deutlich der "arabischen Welt" entstammender. Andererseits ist aber Steinzeitpatriarchat, egal ob muslimischer oder - im Spaghetti-Western  katholischer - Prägung, ein Stück weit immer auch Steinzeitpatriarchat.

Die Genre-Form ist für Saleem weder Mittel zum Zweck für postmoderne Spielereien, noch wie vielleicht in vergleichbaren Arthaus-Filmen etwas, dass "überwunden" werden müsste. Er nimmt sie kompromisslos ernst als Form des Erzählens, bis zum Schluss, wenn Baran ebenso kompromisslos mit seinen Feinden abrechnet. So entsteht vielleicht kein großer, aber ein  feiner, kleiner Film.



Die Traurigkeit der vielgelobten Golshifteh Farahani ist mir übrigens immer ein bisschen zu penetrant. Dafür ist ihrer Lachen wirklich ganz bezaubernd: Toll sind die Szenen (hier gibt es sie einmal im Klassenzimmer, in Stein der Geduld sind sie mir gegen Ende aufgefallen) in denen ihre Leidensmine in einem Lächeln aufbricht, wie eine Wolkendecke. Ich würde sie gerne einmal in einer anderen Rolle sehen als der einer sich zwar wehrenden und starken, aber auch immer stark leidenden Frau. Einer Komödie vielleicht.