Mittwoch, 29. Mai 2013

Spieler (Dominik Graf, D 1990)

Die wollen nur spielen! „Die“ das sind in der ersten Szene zunächst einmal der Filmemacher Dominik Graf und ein – vielleicht – irgendwie göttlicher, auf jeden Fall aber allwissender Voice-over-Erzähler. Genau fünf Einstellungen und ein Paar Zeilen Dialog brauchen die beiden, die ja dann doch eins sind, um unmissverständlich klar zu machen, dass sie sich für die gängigen Regeln des Filmemachens und des Erzählens nicht die Bohne interessieren. In den ersten vier Einstellungen des Films sehen wir eine Frau und einen Mann in Schuss und Gegenschuss und hören einen Dialog zwischen einem Mann und einer Frau, Jojo und Kathrin heißen sie, die sich uneinig sind, ob sie sich im Folgenden ineinander verlieben werden oder nicht. Allerdings passt der Dialog nicht wirklich zu den Bildern, weil die Menschen, die im Bild zu sehen sind nichts sagen, er erklingt aus dem Off. Auch passen Schuss und Gegenschuss nicht zueinander, weil sich die beiden offensichtlich an unterschiedlichen Orten befinden. In der fünften Einstellung ist ein wolkenverhangener Himmel zu sehen und nun mischt sich eine dritte Stimme ins Gespräch ein. „Ihr werdet Euch verlieben,“ sagt sie, „ich weiß es. Ich bin der Erzähler.“

Nur spielen wollen zunächst auch Jojo und sein Kumpel Tom. Ob im Wettbüro, am Pokertsich, am Automaten oder im Casino spielt dabei keine Rolle. Hauptsache, es geht um möglichst viel Geld. Folgen dieses exzessiven Spielens sind vor Allem andere Spiele. Das Schauspiel, mit dem sie das Mitleid von Toms „Kundinnen“, den Frauen mit denen er gegen Bezahlung schläft, ausnutzen, um noch mehr Geld aus ihnen heraus zu quetschen. Das Katz- und-Maus-Spiel mit den zahlreichen Schuldigern, bei dem Jojo und Tom in schöner Regelmäßigkeit die Bruchbude in einem heruntergekommenen Münchner Altbau, in der sie hausen, durch eine Dachluke verlassen müssen. Das Leben als Spiel, das nicht, wie Freud es vom Spielen der Kinder glaubte, das Erwachsensein probt, sondern sich diesem möglichst gründlich zu verweigern sucht. Ziel ist es, für nichts und niemanden Verantwortung übernehmen zu müssen, am allerwenigsten für sich selbst. Dieser spielerische Alltag, den der Film, ganz ohne moralischen Zeigefinger, dafür mit viel Tempo und großem Gespür für Situationskomik zeichnet, gerät unerwartet durcheinander, als Jojo auf der Beerdigung seiner Tante – und Geldquelle – auf seine Kusine Kathrin trifft. Zunächst interessiert er sich nur für die 20.000 Mark, die Kathrin geerbt hat, während er selbst nichts weiter als die riesige Bulldogge Johann bekam. Schnell jedoch wird daraus mehr, was genau da legt sich der Film aber nicht fest.

Zumindest spielen Kathrin und Jojo nun zusammen (manchmal) oder gegeneinander (meistens). Im Bett, im Wettbüro und anderswo. Ein ziemlich chaotisches Spiel ist das, in dem sich doch bald klare Regeln erkennen lassen. Sie gestehen sich bald ihre Liebe, behaupten dann wieder das Gegenteil, trennen und vertragen, küssen und schlagen sich. Die Fetzen fliegen, einmal frisst sie seine Brille, später dann setzt er beim Kartenspiel alles war er gerade noch hat: Sie – und gewinnt. So wenig, wie er sie loswerden kann (oder auch wirklich will), so wenig schafft sie es, sich von ihm zu trennen. Die gegensätzlichen Lebensentwürfe, die hier aufeinanderprallen, unvereinbar bleiben und sich doch so sehr anziehen, dass sie nur vom Tod schließlich geschieden werden können, werden definiert über ein unterschiedliches Verhältnis zum Spiel, zum Glücks- wie zum Liebes-Spiel. Sie spielt, um zu gewinnen. Er spielt, um zu verlieren. Für sie ist das Spiel nur eine Abkürzung auf dem Weg in die bürgerliche Biographie, eine Möglichkeit, sich Mann, Kind und Haus leisten zu können, ohne dafür sonderlich viel tun zu müssen. Für ihn ist es eine Möglichkeit, sich all das möglichst gründlich vom Leibe zu halten. Die Verachtung für das Geld, für die Ware, die es kaufen, das Leben, das es finanzieren kann, wie ihr Jojo ständig, in Wort und Tat, Ausdruck verleiht, ist die größtmögliche Transgression, die sich der Kapitalismus denken kann. Allerdings eine Transgression, der die Strafe immer schon immanent ist, weil das Geld, sofern man es nicht schafft, sich der kapitalistischen Gesellschaft ganz zu entziehen, umso mehr man es verachtet oder es einem einfach nur scheißegal ist, nur immer wichtiger wird. Je mehr Jojo mit dem Geld um sich wirft, je öfter er Unsummen in kürzester Zeit verzockt, desto mehr bestimmt das Geld sein ganzes Leben. Jede Begegnung, jede Beziehung, jede Handlung.

Tom übrigens bleibt in der „Beziehung“ zwischen Kathrin und Jojo außen vor. Das Dreieck, das sich ankündigt, wird keins. Einmal mehr evoziert Graf bekannte Genre-Muster, um ihnen dann nonchalant eine Abfuhr zu erteilen. Schnell hat Kathrin geklärt, dass hier sexuell nichts läuft, danach reden sie kaum ein Wort miteinander. Rat- und hilflos sieht Tom nun die selbstzerstörerische Verliebtheit seines Freundes mit an. Die Ereignisse spitzen sich zu, ein Polizist kommt ums Leben, das Trio ist auf der Flucht in Richtung Cote d’Azur. Tragisch wird’s und blutig, aber dabei doch nie wirklich ernst, bleibt doch irgendwie immer nur ein Spiel – und sei der Einsatz auch das Leben.

Am Ende dann, der Gegenschuss zur Einstellung am Beginn des Films, der Blick vom Himmel aus auf die Erde hinab. Ein Happy End also, aber eines, dass – buchstäblich – nicht von dieser Welt ist. Dass die Möglichkeit auf eine diesseitige Verwirklichung eines Lebens jenseits der Norm kategorisch verneint und solch strikten Pessimismus dann noch als harmlose metaphysische Spielerei inszeniert. Dass mit dem, was man sich allgemein unter einem „Happy End“ vorstellt, so wenig gemein hat wie der Film als Ganzes mit dem, was man sich sonst so unter einer Komödie vorstellt – zumal:  unter einer deutschen Komödien aus den Neunzigern. Drehbuch und Regie: Dominik Graf.   

Dienstag, 28. Mai 2013

Abel (Diego Luna, Mexiko 2010)

Das Regie-Debüt von Diego Luna, der mir als Darsteller vor Allem aus „Y tu mamá también“ in guter Erinnerung ist, beginnt als Drama um die neunjährige Titel-Figur mit dem biblischen Namen. Abel kehrt nach zwei Jahren aus einem Krankenhaus, in dem er wegen einer nicht genauer bestimmten psychischen Erkrankung behandelt wurde, nach Hause zurück, zu seiner Mutter Cecilia, dem jüngeren Bruder Paul und der älteren Schwester Selene. Der Vater hat sich ebenfalls vor zwei Jahren aus dem Staub gemacht, um auf der „anderen Seite“ (wie man das Land jenseits der nördlichen Grenze in Mexiko mythisch verklärend nennt) zu arbeiten. Abel spricht kein Wort, schläft kaum, starrt meist teilnahmslos ins Nichts, bemalt seine Hände mit Buntstiften. Den örtlichen Ärzten fällt zu diesem Zustand nicht mehr ein als ständig neue Tabletten zu verschreiben, dennoch weigert sich Cecilia, ihn ins Kinderkrankenhaus im weitentfernten Mexiko-City zu bringen.

Ein einziges Wort Abels genügt, um aus dem Drama eine groteske Komödie werden zu lassen: „Selene!“ herrscht er seine Schwester am Essenstisch an. Damit kehrt sich nicht nur Abels Schweigen in sein Gegenteil um (er redet von nun an wie ein Wasserfall), sondern er wechselt auch seine Position innerhalb der familiären Hierarchie. Er imaginiert und generiert sich fortan als sein eigener Vater, füllt die Leerstelle aus, die Anselmo, der wirkliche Vater, wohl auch vor seinem Verschwinden kaum ausfüllte. So offensichtlich freudianisch diese Phantasie auch sein mag, um Psychologisierungen (oder auch Psychoanalyse-Parodie) geht es Luna glücklicherweise nicht. Vielmehr nutzt er sie als Quelle grotesker Situationskomik, die sich vor allem aus den Reaktionen der Familie ergibt. Cecilia ist ein Kind, das sich für seinen eigenen Vater und damit ihren Mann hält, lieber als das apathische Etwas, das ihr geliebter Sohn vorher war. Paul, dem sein „gestörter“ Bruder zuvor nur eine Last war, kann nun durchaus zu ihm aufblicken und auch Selene spielt mit, und sei es auch nur, um von nun an wieder zwei Elternteile zu haben, gegen die die Fünfzehnjährige rebellieren kann.

Einerseits steigert sich die Komik noch als plötzlich, so unangekündigt wie er einst verschwand, Anselmo zurückkehrt, andererseits kippt der Film hier leider auch ins allzu Pädagogische, allzu gut gemeinte. Schnell zeigt sich, dass Abel ein besserer Vater ist als Anselmo es je war. Anselmo war die meiste Zeit gar nicht in den USA, ist nicht wegen seiner Familie zurückkehrt, sondern um das Haus zu verkaufen, hat inzwischen in einer anderen Stadt mit einer anderen Frau ein Kind, zeigt das Foto von den beiden, stolz, wie eine Trophäe einem Kumpel beim gemeinsamen Besäufnis und wird fuchsteufelswild als er erfährt, dass Cecilia in seiner Abwesenheit ebenfalls eine Affäre hatte. Wollte man einem Neunjährigen erklären, was „machismo“ ist, ohne dabei freilich auf den erhobenen Zeigefinger ganz zu verzichten, man müsste es wohl in etwa so anstellen. Jeder aber, der nun leider schon etwas älter ist, darf sich von solch plakativen Plumpheiten durchaus intellektuell unterfordert und bevormundet fühlen.

Schön dann aber wieder, wie der Film auf einer leise hoffnungsvollen Note endet, die von falscher Versöhnlichkeit vollkommen frei ist. Wie er am Ende nur das zu retten versucht, was vielleicht noch zu retten ist.

"Berlin-Filme"

Und los geht’s:


Im Rahmen einer privaten Retrospektive werde ich mir mit meinem guten Freund Meikl Knight Filme aus neun Jahrzehnten ansehen, die in unserer Heimatstadt spielen oder deren Geschichte zum Thema haben. Hier eine vorläufige Liste:




Der letzte Mann (F. W. Murnau, D 1924)
Menschen Untereinander (G. Lamprecht, D 1926)
Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (W. Ruttmann, D 1927)
Unter der Laterne (G. Lamprecht, D 1928)
Mutter Krausens Fahrt ins Glück (P. Jutzi, D 1929)
Ins Blaue hinein (E. Schüfttan, D 1929)
Zeitprobleme. Wie der Arbeiter wohnt (S. Dudow, D. 1930)
Menschen am Sonntag (Ulmer, Siodmak, D 1930)
Emil und die Detektive (G. Lamprecht, D 1931)
M (Fritz Lang, D 1931)
Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (S. Dudow, D 1932)
Grand Hotel (E. Goulding, USA 1932)
Das Veilchen vom Potsdamer Platz (J. A. Hübler-Kahla, D 1936)
Symphonie einer Weltstadt (Berlin – Wie es war) (L. de Laforgue, D 1941/50)
Zwei in einer großen Stadt (V. von Collande, D 1942)
Großstadtmelodie (W. Liebeneiner, D 1943)
Die Mörder sind unter uns (W. Staudte, D 1946)
Irgendwo in Berlin (G. Lamprecht, DDR 1946)
Razzia (W. Klingler, DDR 1947)
A Forreign Affair (B. Wilder, USA 1948)
Germania anno zero (R. Rossellini, I 1948)
Unser täglich Brot (S. Dudow, DDR 1949)
Weg ohne Umkehr (V. Vicas, BRD 1953)
Der Hauptmann von Köpenick (H. Käutner, BRD 1956)
Die Halbstarken (G. Tressler, BRD 1956)
Berlin – Ecke Schönhauser… (G. Klein, DDR 1957)
A Time to Love and a Time to Die (D. Sirk, USA 1958)
One, Two, Three (B. Wilder, USA 1961)
Die endlose Nacht – Nebel über Tempelhof (W. Tremper, BRD 1963)
Funeral in Berlin (G. Hamilton, GB 1966)
Torn Curtain (A. Hitchcock, USA 1966)
Ein Lord am Alexanderplatz (G. Reisch, DDR 1967)
Cabaret (B. Fosse, USA 1972)
Die Legende von Paul und Paula (H. Carow, DDR 1973)
Du und icke und Berlin (E. Schäfer, DDR 1977)
Die dritte Generation (R. W. Fassbinder, BRD 1979)
Berlin Alexanderplatz (R. W. Fassbinder, BRD 1980)
Berlin Chamissoplatz (R. Thome, BRD 1980)
Solo Sunny (K. Wolf, DDR 1980)
Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (U. Edel. BRD 1981)
Possession (A. Zulawski, BRD/F 1981)
Der Mann auf der Mauer (R. Hauff, BRD 1982)
White Star (R. Klick, D 1983)
Octopussy (J. Glen, GB 1983)
Richy Guitar (M. Laux, BRD 1984)
Demoni (L. Bava, I 1985)
Meier (P. Timm, BRD 1986)
Der Himmel über Berlin (W. Wenders, BRD 1987)
Linie 1 (R. Hauff, BRD 1988)
Coming Out (H. Carow, DDR 1989)
Der Todesking (J. Buttgereit, D 1989)
In weiter Ferne, so nah! (W. Wenders, D 1993)
Jenseits der Stille (C. Link, D 1996)
Das Leben ist eine Baustelle (W. Becker, D 1997)
Lola rennt (T. Tykwer, D 1997)
Nachtgestalten (A. Dresen, D 1999)
Angel Express (R. P. Kahl, D 1999)
Die Unberührbare (O. Roehler, D 2000)
Berlin is in Germany (H. Stöhr, D 2001)
Berlin Babylon (H. Siegert, D 2001)
Der Zimmerspringbrunnen (P. Timm, D 2001)
Berlin: Sinfonie einer Großstadt (T. Schadt, D 2002)
Kroko (S. Enders, D 2003)
Herr Lehmann (L. Haußmann, D 2003)
Status Yo! (T. Hastreiter, D 2004)
Die fetten Jahre sind vorbei (H. Weingartner, A/BRD 2004)
Muxmäuschenstill (M. Mittermeier, D 2004)
Alles auf Zucker! (D. Levy, D 2004)
Sommer vorm Balkon (A. Dresen, D 2005)
Netto (R. Thalheim, D 2005)
Gespenster (C. Petzold, D 2005)
Du hast gesagt, dass Du mich liebst (R. Thome, D 2005)
Wut (Z. Aladag, D 2006)
Knallhart (D. Buck, D 2006)
Schwarze Schafe (O. Rihs, D 2006)
Prinzessinnenbad (B. Blümmer, D 2007)
Leroy (A. Völckers, D 2007)
Berlin Calling (H. Stöhr, D 2008)
Wir sind die Nacht (D. Gansel, D 2010)
Neukölln Unlimited (A. Imondi/D. Ratsch, D 2010)
Im Angesicht des Verbrechens (D. Graf 2010)
Zivilcourage (D. Zahavi, D 2010)
Im Schatten (T. Arslan, D 2010)
Unknown Identity (J. Collet-Serra, USA/D 2011)
Hanna (J. Wright, D/GB/USA 2011)
Oh Boy (J. A. Gelser, D 2012)
Passion (B. dePalma, D/F 2013)


Versteht sich erst mal als Sichtungsliste. Einige wenige der früheren Filme haben wir schon gemeinsam gesehen. Einige der anderen kenne ich bereits. Auf einige von denen, die ich nicht kenne, freu ick mir jetzt schon wie Bolle! Wir werden, so weit es die Verfügbarkeit zulässt, chronologisch vorgehen und ich werde dann hier so regelmäßig wie möglich von den Eindrücken meiner filmischen Reisen durch die Stadt berichten. Ob in Form von Rezensionen zu einzelnen Filmen oder eher essayistisch – bspw. zu bestimmten Strömungen des „Berlin-Films“ – mache ich vor allem von den jeweiligen Filmen abhängig.


Eine – mal mehr, mal weniger – grobe Orientierungshilfe bot die entsprechende Liste bei Wikipedia. Vieles von dort habe ich weggelassen, bspw. habe ich historische Filme, gerade solche, die in den letzen Jahrzehnten entstanden sind und sich v. a. mit der DDR und dem National-Sozialismus beschäftigen, weitestgehend nicht berücksichtigt. Einiges, was dort aus unerklärlichen Gründen fehlte (Demoni z.B.) habe ich hinzugefügt. Wo es verschiedene Adaptionen derselben literarischen Vorlage gab (Emil und die Detektive, Alexanderplatz) habe ich grundsätzlich nur eine mit aufgenommen.
Für Tipps zu Filmen, die interessant sein könnten bin ich jederzeit dankbar. (So ist etwa die doch so interessante Nachwendezeit mit nur fünf Filmen aus den Neunzigern sträflich unterrepräsentiert.)