Montag, 24. November 2014

Timbuktu (Abderrahmane Sissako, Frankreich, Mauretanien 2014)

Eine Gazelle rast durch die Wüste. Sie flüchtet vor vermummten Männern, die sie von einem Jeep aus mit ihren Kalaschnikows jagen. Danach machen die Männer Schießübungen auf traditionelle afrikanische Masken und Statuen. Die Kamera streicht über das zersplitterte Holz. Für die Unterwerfung, die Zerstörung einer Kultur durch eine andere findet der Filmemacher Abderrahmane Sissako schon in den ersten Szenen seines vierten abendfüllenden Spielfilms sehr eindrückliche Bilder. "Timbuktu" spielt in der gleichnamigen Stadt, die von islamischen Fundamentalisten besetzt wurde. Auch wenn die Gewalt erst in der zweiten Hälfte des Films direktere, physischere Formen annehmen wird, ist sie doch von Anfang an allgegenwärtig - wie die Schnellfeuergewehre der Besatzer und ihre Verbote. Musik ist verboten. Zigaretten sind verboten. Fußball spielen auch. Die Frauen müssen sich auf der Straße nicht nur verschleiern, sondern auch, entgegen ihren Traditionen und bei der Arbeit oft sehr hinderlich, Handschuhe und Strümpfe tragen. Gegen erzwungene Hochzeiten mit den Besatzern sind sie relativ machtlos.

Weiterlesen in der filmgazette

Dienstag, 11. November 2014

Fingers (James Toback, USA 1978)

Ein Blickwechsel durchs Fenster. Harvey Keitel sieht Tisa Farrow an, die ihn von der Straße aus beim Klavierspielen in seiner Wohnung beobachtete. Ein Blickwechsel, Schuss und Gegenschuss, sind alles, was es braucht, damit Keitel der Frau verfällt, oder eher: seiner Idee von ihr. Den Kassettenrecorder, aus dem "Summertime, Summertime" plärrt im Arm, spricht er sie an: "You like all kinds of music, huh? So do I." Was er in ihr sucht ist eine tiefe Übereinkunft. Eine Verwandtschaft der Seelen in der Zerrissenheit, die ihren Ausdruck in einem eher disparaten als vielfältigen Musikgeschmack findet. "All kinds of music", das heißt für ihn: Bach und The Jamies, Piano und Ghettoblaster.
Jimmy Fingers (Keitel) ist der Sohn eines kleinen italienischen Gangsters und einer jüdischen, Klavier spielenden und psychisch kranken Mutter. Dass diese Eltern beide dicht am Klischee und der Karikatur gebaut sind, vergrößert nur das Dilemma des Sohnes, seine von vornherein tragische Aufgabe, inmitten dieser Identifikationsangebote zu einer eigenständigen, "ernst zu nehmenden" Persönlichkeit zu werden. Während Jimmy sich einerseits als brutaler Geldeintreiber für seinen Vater verdingt, strebt er andererseits eine Karriere als Konzertpianist an.
Die unüberwindbaren Risse in dieser Person geht der Film durch in Jimmys Beziehung zu Carol (Farrow), der Frau, für die er eine regelrechte Obsession entwickelt, ohne sie doch wirklich zu kennen oder zu verstehen. Der Frau, in der er eine Verwandtschaft sucht, die es doch nur in seiner Vorstellung gibt, die eine reine Projektion ist, seine Projektion. Gleich zu Beginn, wenn sie sich auf der Straße zu ihm umkehrt, ihn das erste Mal direkt ansieht, zuckt er zurück. In seinen Zügen wird eine unvermittelte Angst vor der Frau sichtbar. Wenig später die Szene in der Wohnung/dem Atelier Carols. Ein stürmischer Kuss, ein einander Kennenlernen, ein langsames Ertasten des Gegenübers. Doch zu einer Zusammenkunft führt das gerade nicht. Die eine Einstellung, in der James Toback und sein Kameramann Michael Chapman diese Szene auflösen, endet mit den Beiden, die nebeneinander stehen, den Rücken zur Kamera und ihre Spiegelbilder vor sich.
Im tollen Audiokommentar der DVD sagt Toback, dass Keitel Jimmys Sexualität darstellt mit der Unsicherheit eines Mannes, der nach einer sexuellen Identität sucht, die er vielleicht nie finden wird, der nicht weiß, ob er die Rolle des Vaters oder der Mutter einnehmen soll, nicht weiß "rather he's an asshole or a dick."
Dieses Scheitern am Finden einer - nicht nur sexuellen - Identität wird für Jimmy die Gestalt einer fortwährenden Abfolge von Erniedrigungen und Niederlagen annehmen.
Da ist die Szene, in der er die Freundin eines Schuldners seines Vaters zu einem Quickie im Bad  verführt. So dicht wie Verführung und Vergewaltigung in dieser Szene beieinanderliegen, so wenig scheint Jimmy dabei jemals in seinem Element zu sein. Sein Charme will viel zu ungestüm an ein Ziel, das ihm keine Freude bereitet. Der Sex wird eher zu einem Kraftakt als einer lustvollen Angelegenheit.
Wenn Toback auf diese Szene die beim Urologen folgen lässt, der Jimmy einer Prostatauntersuchung unterzieht, dann lässt er seine Hauptfigur per Finger im Arsch nicht nur vom Subjekt zum Objekt der Penetration werden, es folgt auch eine weitere sexuelle Qual. Jemand mit Jimmys Biographie, so scheint es, kann nur immer wieder neu, aber immer wieder "falsch" gegendert werden.
Dann ist da das Vorspielen am Klavier. Eine weitere Niederlage. Jimmy kann nicht, wenn jemand guckt. Keine seiner beiden Seiten hat die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Jeder Weg, den Jimmy nimmt, scheint sich als neue Sackgasse herauszustellen.
Schließlich der Höhepunkt der Erniedrigungen mit Carol, bei deren Lover Dreems (Jim Brown). Zu viert mit einer anderen jungen Frau in einem Hotelzimmer. Die beiden Frauen mit dem Alphamann, der Jimmy nie sein wird, beide liebkosen Browns Brustwarzen, während Jimmy nicht nur das fünfte Rad am Wagen zu sein scheint, sondern auch das ewige Kind, das nicht erwachsen werden, sich von den Eltern lösen kann, verdammt in die Rolle des ewigen Beobachters in der Urszene.
Dann der finale Racheakt, der zeigt, wie der Vater über seinen Tod hinaus Macht über Jimmy hat. Die Kastration des Feindes als ein letzter homoerotischer Akt einer Sexualität, die keinen anderen Ausdruck als die Gewalt finden kann.
James Toback legte mit Fingers 1978 sein Regie-Debüt vor. Zu der Zeit also als das Neue Hollywood langsam alt wurde und einige der Regisseure, die es hervorgebracht hatte mit ihren Blockbustern seinen Untergang einläuteten. Im amerikanischen Kino der Siebziger wirkt Fingers wie ein Nachzügler, der dennoch einiges an neuen Talenten beförderte. Neben Toback etwa auch den Kameramann Chapman, der wenig später Scorseses Raging Bull fotografieren sollte.
Natürlich kann man dem Film einiges vorwerfen. Etwa seine Diskurslastigkeit im allgemeinen oder die Überdeutlichkeiten im Hinblick auf die sexuelle Ambivalenz und die Impotenz des Protagonisten im besonderen. Wo Keitels und Farrows Hauptfiguren mit der richtigen Dosis an Abgründigkeit ausgestattet sind, kommen die Nebenfiguren doch deutlich klischierter daher, am Störendsten vielleicht in Browns Darstellung des hyperpotenten, schwarzen Mannes.
Im Kern aber nimmt Fingers die Tragik seiner Hauptfigur ernst und verteidigt sie gegen die Lächerlichkeit. Und Hervey Keitel verleiht seiner Figur Gewicht, brilliert in der Rolle eines Mannes, der nie ganz aufgeht in den Rollen, die ihm sein Leben zuweist, der in der Welt, die ihn umgibt, daran scheitern muss, dass er sich keine dieser Rollen wirklich zu eigen machen kann.  
Die letzte Einstellung zeigt, wie die erste, Keitel am Klavier, nun vollständig nackt. Wartend. Er spielt nicht mehr, sondern blickt kauernd ins Leere, zu der Stelle, an der am Anfang Farrow stand. Es gibt für diesen Mann keinen Ausweg mehr. Keine Bezugspunkt außer dem leeren Bürgersteig, dem Asphalt und der Kamera, die ohne falsches Mitleid auf den Mann blickt, dessen Schicksal doch von Anfang an besiegelt schien.   

Montag, 10. November 2014

Sils Maria (Olivier Assayas, Frankreich, Schweiz, Deutschland 2014)

Vielfältige Maskierungen

Olivier Assayas macht ein "internationalistisches" Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im höchsten Maße polyglott und mobil sind. "Carlos", in dem alleine die Titelfigur fünf Sprachen spricht und sich zwischen gefühlten hundert Schauplätzen hin und her bewegt, bildet nur einen Höhepunkt dieser Tendenz. So sprach schon die Protagonistin in "Clean" (2004), eine abstinente Süchtige, in Kanada, Paris und London Kantonesisch, Französisch und Englisch. Es scheint, dass es in der Welt des Olivier Assayas, in der die Herkunft eine immer geringere Rolle spielt, eine - gar nicht zwangsläufig negativ gedachte - "Entwurzelung" um sich greift, umso bedeutender ist es, zu einer klaren Position in der eigenen Biographie zu gelangen. Pathetisch könnte man sagen, dass Assayas' ProtagonistInnen angesichts des Verlustes der "Heimat" keine andere Wahl haben, als sich selbst zu finden.    
Weiterlesen in der filmgazette

Samstag, 1. November 2014

Fading Gigolo (John Turturro, USA 2013)

Sexual Healing

John Turturro spielt einen Gigolo. Woody Allen seinen Zuhälter. Zur ebenfalls rapide gealterten Kundschaft gehört unter anderem Sharon Stone. Dass diese Grundkonstellation in ihrer Durchgeknalltheit allzu berechnend auf die Zielgruppe zugeschnitten daher kommt, ist noch eines der kleineren Probleme von "Fading Gigolo", der fünften Regiearbeit Turturros, der als Darsteller unter anderem aus verschiedenen Filmen der Coens und Spike Lees bekannt ist. Wesentlich heikler ist da schon die Tatsache, dass man nach den 98 Minuten des Films relativ ratlos ist, was genau er mit dieser Prämisse eigentlich vorhatte. Was Sie schon immer über männliche Prostitution wissen wollten … erfahren Sie hier jedenfalls nicht.
 
Weiterlesen in der filmgazette