Dienstag, 23. Juni 2015

Die Lügen der Sieger (Christoph Hochhäusler, Deutschland, Frankreich 2014)

"Go to a movie. Relax." Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas "Zeuge einer Verschwörung" ("The Parallax View" (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, von seinem Redakteur mit auf den Weg. Die Tatsache, dass dieser Unerschrockene seine Recherchen letztlich mit dem Leben bezahlen wird, zeigt deutlich, dass wir uns hier gerade nicht in einer Tradition des Kinos bewegen, die die Zuschauenden entspannt, mit der Welt versöhnt zurück in ihren Alltag entlässt. Vielmehr waren die US-amerikanischen Paranoia-Thriller der siebziger Jahre, für die Pakulas Film ein Paradebeispiel liefert, Ausdruck einer tiefen Verunsicherung der Menschen gegenüber der Macht. Dass "die da oben" im Interesse des Volkes handelten, schien im Angesicht von Watergate und Vietnam fraglicher denn je. (Bestimmte Spielarten des Horrorfilms, der in dieser Dekade in den USA ebenfalls florierte, lieferten dazu gewissermaßen das Gegenstück: Statt der Angstphantasie des Mittelschichts-Großstädters vor den Machenschaften der Mächtigen, kam die Bedrohung hier von "unten". In Form kannibalischer Rednecks in Hoopers "Blutgericht in Texas" ("The Texas Chainsaw Massacre") oder Cravens "Hügel der blutigen Augen" ("The Hills have Eyes") oder Romeros Zombies, die den bürgerlichen Individuen das Land streitig machten, eine neue frontier mitten durch das amerikanische Hinterland verlaufen ließen.)
Weiterlesen in der filmgazette

Donnerstag, 28. Mai 2015

Child 44 (Daniél Espinosa, USA, Großbritannien, Rumänien 2015)

Der Prolog zeigt in wenigen Minuten, wie innig die Biographie des Protagonisten mit der Geschichte eines Staates, eines Systems verzahnt ist: der Sowjetunion. Die Eltern von Leo Demidow verstarben, als er noch ein Kind war, bei der Holodomor, einer Hungersnot, die in den Jahren 1932 und 1933 in der Ukraine mehrere Millionen Opfer forderte. Ob Stalins Politik absichtlich zu dieser Katastrophe führte, wie es die kurzen Texttafeln zu Beginn des Films behaupten, ist in der Geschichtsschreibung umstritten. Jedenfalls erscheint die Sowjetunion in "Kind 44" von den ersten Sekunden des Films an als böser Vater, der seine unliebsamen Kinder zwar nicht auffrisst, aber doch im Wald sich selbst und dem Hunger überlässt (später im Film wird dieser Staat dann in die Rolle eines alttestamentarischen Gottes schlüpfen, der das Opfer eines nächsten Angehörigen als Loyalitätsbeweis fordert). "Im Paradies gibt es keinen Mord", diese Worte, als Motto und Leitmotiv dem Film vorangestellt, klingen von Anfang an wie blanker Hohn.
weiterlesen in der filmgazette

Donnerstag, 21. Mai 2015

Mad Max

Anlässlich des Starts des neuen, hervorragenden Franchise-Beitrags "Mad Max: Fury Road", habe ich mir die ganze Serie wieder angesehen und für die filmgazette einen Text dazu geschrieben.

Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern (Stina Werenfels, Deutschland, Österreich, Schweiz 2015)

"Was ist ein Mongo?" will die achtzehnjährige Dora von ihrer Mutter Kristin wissen. Die Befragte antwortet mit einer Gegenfrage, will wissen, wo sie dieses Wort her habe, erklärt ihr, dass niemand das Recht habe, sie so zu nennen. "Ich will nicht behindert sein!" schreit Dora wütend, unter Tränen. Eine Schlüsselszene in Stina Werenfels′ Film "Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern", in dem es vielleicht vor allem anderen um eine äußerst schwierige Mutter-Tochter-Beziehung geht. Darum, dass die Tochter (Victoria Schultz) trotz ihrer geistigen Behinderung ein normales, selbstbestimmtes Leben führen möchte und darum, dass es der Mutter (Jenny Schily) aufgrund der Beeinträchtigung ihrer Tochter nur umso schwerer fällt, diesen Ablösungsprozess zuzulassen.
Weiterlesen in der filmgazette

Montag, 27. April 2015

Ein Junge namens Titil (Kanu Behl, Indien 2014)

Titli bedeutet Schmetterling. Und dass der jugendliche Protagonist in Kanu Behls Debütfilm "Ein Junge namens Titli" seine Flügel aufspannen möchte, um davon zu fliegen, das ist die zunächst einmal sehr konventionelle, tief in den Genre-Mythologien von Gangsterfilm und Film noir verwurzelte Prämisse, der dieser Film folgt.

Titli (Shashank Arora) also möchte raus. Raus aus der engen, schmutzigen Gasse in einem Slum am Rande von Delhi. Raus aus dem Haus, das so winzig ist, dass man beim Essen immer jemandem zuhört, der sehr geräuschvoll seine Zähne putzt (gegessen und Zähne geputzt wird viel in diesem Film, der anstatt auf eine betont reißerische Darstellung des Lebens in einem Armenviertel darauf setzt, dieses möglichst alltäglich zu vermitteln). Raus aus der dysfunktionalen, von patriarchalen Strukturen und Gewalt der Älteren gegen die Jüngeren und der Männer gegen die Frauen geprägten Familie. Raus aus den kriminellen Machenschaften, in die ihn seine beiden älteren Brüder verwickeln, mit denen er gemeinsam Raubüberfälle begeht.
Weiterlesen in der filmgazette

Sonntag, 26. April 2015

Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort (Andrea Roggon, Deutschland 2015)

"Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!", sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea Roggons Film "Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort", die belegt, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, einen Dokumentarfilm über Helge Schneider zu drehen. Unübersichtlich ist das Schaffen des Jazz-Musikers, Komikers, Kabarettisten, Filmemachers, Theaterregisseurs, Entertainers und Autors Helge Schneider. Fünf lange, nun ja, Spielfilme hat er seit 1993 vorgelegt, unzählige Bücher geschrieben und Platten aufgenommen, in diversen Bands gespielt und immer noch geht er regelmäßig auf Tour. Obwohl schon seit den Siebzigern aktiv, entwickelt sich erst in den Neunzigern ein recht rätselhafter Hype um Schneider, der seine sehr eigene Mischung aus Klamauk, abstrusem Humor und Jazz-Klängen in den Mainstream holte, wo er sich jedoch nie ganz heimisch fühlte.

Weiterlesen in der filmgazette

Sonntag, 12. April 2015

Cinema of Outsiders: Part II

Bevor sie in den Endspurt geht, auch hier nochmal ein Hinweis auf die vorzügliche Filmreihe zum US-Kino der Neunziger im Zeughauskino und auf meinen Text dazu in der filmgazette.

Wenn es blendet, öffne die Augen (Yvette Löcker, Österreich 2014)

Die Vergessenen der Geschichte

Die erste, relativ lange Einstellung zeigt die triste, heruntergekommene Fassade eines Plattenbaus. Dazu erklingen aus dem Off zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche. Wenn das Bild ein Relikt eines untergegangenen Systems, eines untergegangene Staates, der Sowjetunion, zeigt, dann erzählen die Stimmen dazu von denjenigen, die bei dem Umbruch, der mit diesem Untergang einherging, auf der Strecke geblieben sind, die nicht mitgenommen wurden, sondern die die Geschichte hier in ihrem Plattenbau vergessen zu haben scheint. Von der Freiheit, die man auch zu nutzen wissen muss, erzählen diese Stimmen, von den Drogen.
 
Weiterlesen in der filmgazette

Donnerstag, 5. März 2015

Hard Times (Walter Hill, USA 1975)

Bildergebnis für hard times 1975Mit dem Güterzug kommt Charles Bronson zu Beginn in den Film gefahren, die Ballonmütze auf dem Kopf wie die "Wild Boys of the Road". Aber von den harten Zeiten der Großen Depression, die im amerikanischen Kino der frühen Dreißiger so ausgiebig ihre Spuren hinterließen, erfährt man in Walter Hills erster Regie-Arbeit eigentlich so gut wie nichts. Oder eher - darin ist die Verschiebung vom historischen Kontext auf die Hauptfigur, die der deutsche Titel "Ein stahlharter Mann" vollzieht, durchaus interessant - die harten Zeiten erfahren in dem Mann, der zu Beginn kein anderes Kapital hat als sechs Dollar und seinen gestählten Körper, ihre Konkretion. Der Rest ist ein eher pittoreskes Bild vergangener Tage: Koloniale Fassaden (der Film spielt überwiegend in und um New Orleans), alte Autos und Anzüge, ein Gospel-Gottesdienst, Schuhputzer, Billardsalons.  
 Ivo Ritzer schreibt: "In seiner Konzeption von Kino verzichtet Hill stets auf eine Motivation der Figuren über ausführliche Hintergrundinformationen. Sie besitzen keine Geschichte und Leben im Hier und Jetzt. Das Kino von Walter Hill ist ein Kino der Präsenz im Präsens... Seine Welt ist eine Welt der puren Evidenz." Charles Bronson ist deshalb die ideale Besetzung für einen Hill-Film, weil er die Geschichte, von der wir nichts erfahren, gleichsam in seinen Gesichtszügen mit sich rumzutragen scheint. Nicht als Last und Leid, sondern als eine gewisse Abgeklärtheit, als eine Desillusionierung von der Welt, mit der er immer schon abgeschlossen hat. Das Lächeln, das immer auf diesen Zügen zu spielen scheint, ohne dass es sich kaum jemals manifestieren würde, verbindet Bronson mit dem Burt Lancaster aus Siodmaks "The Killers", der in der letzten Einstellung des Films nicht so sehr vor dem Zuschauer als vor der Einsicht in sein Scheitern, in die absolute Vergeblichkeit all seines Tuns gut aufgelegt den Hut zieht.
Bronson verdient sich sein Geld mit Street Fights, bei denen Männer mit bloßen Fäusten und fast ohne störendes Regelwerk aufeinander geschickt werden. Hier trifft er auf einen aufbrausenden, mit Leib und Seele zockenden und deshalb hoch verschuldeten James Coburn, der der eigentliche Kämpfer in diesem Film ist, während Bronson, in absoluter Sicherheit über seinen Sieg im Ring, doch eigentlich immer schon weiß, dass es für ihn nichts zu gewinnen gibt. Diese beiden gegensätzlichen Männer also tun sich gemeinsam mit Strother Martin als opiumabhängigem Amateur-Arzt zusammen, um in den Hierarchien des Business um die Kämpfe, bei denen um große Beträge gewettet wird langsam nach oben zu kämpfen.
Die Stärken von "Hard Times" werden offenbar, vergleicht man ihn mit anderen Filmen um illegal veranstaltete Faustkämpfe, die oft groß angelegte Ambitionen zu ihren Szenarien treiben, denen es darum geht, von Macht und Begehren in Zeiten der Sklaverei zu erzählen ("Mandingo") oder von der sadomasochistischen Triebabfuhr einer ganzen frustrierten und gelangweilten Männergeneration ("Fight Club"). "Hard Times" hingegen ist ein im besten Sinne kleiner, was seine historischen Implikationen angeht auf sehr entspannte weise unambitionierter Film, der sich nicht damit herumplagt, irgendetwas weltbewegendes, wichtiges oder besonders cleveres zu erzählen.
Darin kommen Film und Hauptfigur wiederum vorteilhaft zusammen. Warum Bronson die Strapaze der Kämpfe überhaupt noch auf sich nimmt, wird eigentlich nie so ganz klar. Ums Geld geht es ihm sagt er mehrmals. Nur weiß einer wie er mit Geld so wenig anzufangen, dass er am Ende einen Großteil davon verschenkt. Auch scheint es eher unwahrscheinlich, dass er der Welt, die er doch längst abgeschrieben hat, noch etwas beweisen muss, etwa was für ein stahlharter Mann er ist.
Seine Art, über den Dingen zu stehen wird besonders deutlich in seinem Verhältnis zum von Bronsons real life-Ehefrau Jill Ireland gespielten love interest. Ein Leben mit ihr hätte vielleicht etwas sein können, wofür er sein hart erkämpftes Geld brauchen könnte. Weil sie andere Vorstellungen hat als er, geht er einfach, wortlos wie immer, um Männerangelegenheiten zu regeln. "Dann eben nicht" scheinen seine reglosen Züge zu sagen und damit sein Lebensmotto griffig auf den Punkt zu bringen.   

Focus (Glenn Ficarra, John Requa, USA 2014)

"Gedränge nur dem Dieb gefällt, drum Augen auf und Hand aufs Geld." Mit diesem Reim warnte die Berliner Polizei einst vor Dieben in der U-Bahn. Und "Focus", ein Film über Diebe und ihre groß angelegten Betrügereien, lässt es sich im Gedränge, in der Menschenmenge so richtig gut gehen, fühlt sich hier sichtlich pudelwohl. Die Hand am Geld respektive der Uhr oder den Klunkern haben hier nur Nicky (Will Smith) und seine Bande. Unter vorgehaltenem Stadtplan oder die Augen und Ohren ablenkendem Tohuwabohu entwenden sie den Menschen in der Masse allerlei Wertgegenstände. In einem besonders imposanten Clou wird die Kreditkarte aus einer Tasche gezogen, mit dem mitgebrachten Scanner die Daten aus ihr gelesen und sie dann wieder dahin befördert, wo sie herkam. Die Art, wie die Kamera sich dazu verhält, im Gedränge den Überblick über die blitzschnell zugreifenden Hände und mit allerlei Ablenkungsmanövern beschäftigten Körper behält, zeigt eindeutig: Dieser Film verschreibt sich mit Leib und Seele dem Geschäft seiner Hauptfiguren. Dazu passt gut, dass die Diebe und con artists in dieser Gaunerkomödie keinerlei Gegenspieler auf der anderen Seite des Gesetzes haben. Die Gesetzeshüter, die sich ihnen in den Weg stellen könnten, scheinen diese Profis längst abgehängt zu haben. Gefährlich werden können sie sich nur noch untereinander.
Weiterlesen in der filmgazette

Mittwoch, 25. Februar 2015

Robert Altman...

...wäre dieser Tage (20. 02. 2015) neunzig Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass ein Dossier in der filmgazette mit einem längeren Essay und fünf Filmbesprechungen, darunter eine von mir zum grandiosen "The Player".

Sonntag, 8. Februar 2015

Berlinale 2015

Auch dieses Jahr hat die Filmgazette einen Berlinale-Kanal eingerichtet, auf dem unter anderem ich über einiges schreibe, was ich vorab gesehen habe.

Mittwoch, 28. Januar 2015

Incompresa / Missverstanden (Asia Argento, Italien, Frankreich 2014)

Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der schwarzen Katze Dac. Ein Kind ohne einen Platz in der Welt. Nach der ruppig gewaltsamen Trennung ihrer egozentrischen Eltern, deren Zusammenleben bestimmt wurde von Geschrei, Gewalt und gegenseitigen Anschuldigungen, bleibt ihre älteste Halbschwester beim Vater (Gabriel Garko), die mittlere bei der Mutter (Charlotte Gainsbourg). Aria aber, die jüngste und einzige Tochter aus der wahrlich unheiligen Allianz, fällt durchs Raster. Sie wird mal von der Mutter, einer neurotischen Pianistin, (Guilia Salerno), deren beständige Sinnsuche sie zu Kommunismus, Buddhismus und ständig wechselnden Partnern treibt, aufgenommen und wieder verstoßen, dann wieder vom Vater, einem so eitlen wie hysterisch abergläubischen Filmstar.
Weiterlesen in der filmgazette

Montag, 19. Januar 2015

Top 25 Filme 2014...

...ausgewählt von den Kritiker_innen der filmgazette.

Weitere Favoriten, die es ganz knapp nicht in die Liste geschafft haben bzw. mir einfach nur nicht in den Sinn kamen:

Die geliebten Schwestern (Dominik Graf)
Night Moves (Kelly Reichardt)
Nymph()maniac (Lars von Trier)

Samstag, 17. Januar 2015

Der Fan (Eckhart Schmidt, BRD 1982)

Starkult und Kannibalismus

Die erste Einstellung zeigt Désirée Nosbuschs Augenpartie. Dazu hören wir einen Herzschlag, der sich beschleunigt. "Italienische" wird diese Art der Einstellung im Fachjargon genannt, nach ihrem beliebten Gebrauch in den Spaghetti-Western von Leone und Co. Es ist bezeichnend für Eckhart Schmidts Film "Der Fan", dass er, einerseits tief in der popkulturellen Gegenwart der Bundesrepublik im Jahr 1982 verwurzelt, doch andererseits gleich mit dem ersten Bild über die Enge seines filmhistorischen Entstehungskontextes hinausweist.
 
Weiterlesen in der filmgazette

Freitag, 16. Januar 2015

The Gambler (Rupert Wyatt, USA 2014)

Das Glück als Glückssache

Zielstrebig bewegt er sich durch die zwielichtigen Räume. Vorbei an den Tischen voller Menschen, überwiegend Männer, von denen einige, während sie auf das ganz große Glück warten, nervös an ihren E-Zigaretten ziehen. Am Ziel seines Ganges durch diese Unterwelt setzt er alles auf eine Karte, gewinnt zunächst Unsummen, setzt weiter alles auf eine Karte. Unruhig blickt die Dealerin zu ihren Vorgesetzten, der Erlaubnis harrend, das Spiel fortzusetzen. Es sei zu seinem eigenen Schutz, erklärt sie ihm. Doch gerade diesen Schutz will er nicht. Er will weiter spielen, immer alles auf eine Karte, bis er alles verloren hat. Und wenn er das noble Gambling Establishment verlässt, hat Jim Bennett (Mark Wahlberg) 60.000 Dollar Schulden - selbstverständlich bei Leuten, denen man besser kein Geld schuldig bleibt.
 
Weiterlesen in der filmgazette

Sonntag, 4. Januar 2015

The Pirate (Vincente Minnelli, USA 1948)

"Macoco leaves a flaming trail of masculinity/ And suddenly I feel I've got a big affinity/ And I'm loco for Mack, Mack, Mack the Black Macoco"

Alles beginnt mit einer Frauenphantasie. Judy Garland träumt davon, von dem berüchtigten Piraten "Mack the Black" Macoco verführt zu werden, und mit ihm aus ihrem karibischen Kaff fortzukommen in die große weite Welt. Der sexuelle Gehalt dieser Phantasie ist so offenkundig, dass sie um das Lied von ihrer Anbetung für den Piraten zu singen unter Hypnose stehen muss.
Auf der Seite ihres Gegenparts, Gene Kelly, gibt es zunächst eine weitaus gewöhnlichere Männerphantasie. So vielen schönen Frauen begegnet er als reisender Schauspieler, dass er sich in seiner ersten Nummer - vielleicht gleich der schönsten des ganzen Films - darauf verlegt, sie alle mit einem einzigen Namen anzusprechen: Ninia. So tänzelt er sich von einer Schönheit zur nächsten (Ninia, Ninia, Ninia, Ninia), kreuz und quer und auf und ab durch die rührigen Tropendorfkulissen. (Bemerkenswert an dieser Szene ist auch, wie die Frauen in ihrem Verlauf vom Objekt zum Subjekt des Blickes werden, wie Kelly zunächst viele attraktive Frauen sieht, um schließlich beim Tango auf einem Podest selbst zur Attraktion für die nun weiblichen Blickträgerinnen zu werden.)
Um von der Polygamie dieser Phantasie "geheilt" zu werden, bedarf es nur eines einzigen Blickes auf Garland. Männerliebe ist im Musical immer Liebe auf den ersten Blick, der einschlägt wie ein Blitz. Die Frau widersteht den beharrlichen Avancen, dem Stürmen und Drängeln zunächst, muss erst nach und nach erobert werden. So auch Garland hier, die ja in Macoco verliebt ist, den Mann ihrer Phantasie, die in Filmen wie diesem allemal der schnöden Realität überlegen ist.
Doch Kelly und der Pirat haben zunächst noch einen Mitbewerber. Ihre Tante, bei der Garland lebt, hat eine gewinnbringend Hochzeit mit dem Bürgermeister des Ortes (Walter Slezak) arrangiert. Weit über die erste Hälfte des Films und durch einen wunderbar abstrusen Plot Point hindurch, bleibt Macoco, der Phantasiemann, das Objekt von Garlands Begehren. In einem doppelbödigen Spiel der falschen Identitäten gilt es, Macoco zu sein, um ihr Herz zu gewinnen.
Von den Musicals, die ich in den letzten Wochen im Arsenal gesehen habe, ist The Pirate vielleicht das schönste, jedenfalls das, in dem mir Judy Garland am besten gefiel. Sie gibt ihre Rolle mit einer Hysterie, die das ganze Figuren-Dreieck, ja, den ganzen Film ansteckt. Die Inbrunst mit der sie ihre Sehnsucht aufs Meer, in die weite Welt zieht, zu Beginn. Dann später die Leidenschaft in ihrer Macoco-Nummer - einem der Durchweg großartigen Songs von Cole Porter. Schließlich eine Szene, in der ein herrschaftlicher Salon nur deshalb vollgestellt mit Vasen und allerlei anderen Tand erscheint, damit Garland etwas hat, was sie nach Kelly schmeißen kann.
Toll ist auch die Nummer in der Garlands Piratenphantasie in einem leicht bekleideten Kelly Fleisch wird - pyrotechnischer Mehraufwand inbegriffen.
Schließlich Kellys letzte Performance mit dem reizenden Ratschlag "Be a Clown" - zunächst mit den Nicholas Brothers, dann mit Garland, dem neuen Star in seinem Programm, der mit den übergroßen Clownsklamotten ganz reizend aussieht.
MGM gaben mit The Pirate alles, was sie hatten - und scheiterten kolossal. Der Film wurde ein Flop - der Freude an der entfesselten guten Laune, wie sie typisch ist für das Musical der Vierziger und Fünfziger ist, tut das sicherlich keinen Abbruch.  

Samstag, 3. Januar 2015

Ich will mich nicht künstlich aufregen (Max Linz, Deutschland 2014)

"Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße…" Nur in der ersten Szene regt sich Asta Andersen so richtig auf. Sie liegt da, wälzt sich, rauft ihre roten Haare und wiederholt in einem enervierten und enervierenden Singsang das Wort "Scheiße". Asta (Sarah Ralfs) arbeitet als Kuratorin an einer Ausstellung, die "Das Kino! Das Kunst!" heißen soll. Als sie in einem Radiointerview kritische Thesen vertritt, gehen ihr die Geldgeber flöten. Sich nicht künstlich aufzuregen, eine geradezu stoische Ruhe zu bewahren, scheint Astas Stärke zu sein in ihrer Odyssee durch die Gremien und das Berlin der Gegenwart. Ob bei dem Zusammensein mit einigen Kreuzberger Türken, die sich in der Initiative "I Love Kotti" gegen steigende Mieten engagieren oder beim Warten auf einen indischen Geldgeber.

Weiterlesen in der filmgazette