Dienstag, 29. Juli 2014

Hinweis: "Supermarkt" im Lichtblick

Für Kurzentschlossene: das lauschige Lichtblick-Kino in Prenzl' Berg bietet heute Abend um 20:00 Uhr noch einmal die Gelegenheit, Roland Klicks vielleicht besten Film, den atemberaubenden Supermarkt auf 35mm zu bestaunen. (Ich kann leider nicht :( Sonst würde ich ihn mir in dieser Form gerne auch ein drittes Mal in diesem Monat ansehen...)

Montag, 28. Juli 2014

Supermarkt (Roland Klick, BRD 1973)


let's pretend we're lovers there's no time to lose
soon's gonna drift me out of town
loving's ever been an obvious dream to choose
heart beats always counting down
 
Das düster schummrige Bad einer Kneipe. Ein junger Mann steht am Waschbecken, wäscht sich das Gesicht, den Rücken zur Kamera. Er kommt raus an die Bar, trinkt seinen Kaffee aus. Die beiden Männer in der Küche sprechen Spanisch, die einzigen Gäste des Lokals, ein Paar an einem Tisch, Englisch. Der junge Mann ist ein Fremder, der keinen Ort hat, wo er hinkann - in der Stadt, aus der er vielleicht sein Leben noch nicht raus gekommen ist. Soviel macht die erste Szene von Supermarkt, aufgelöst in einer einzigen Einstellung, bei der die höchst agile Kamera dem Jungen folgt, unmissverständlich klar. Beim rausgehen versichert er sich, dass die beiden Männer in der Küche gerade nicht gucken, dann leert er das Tellerchen mit dem Trinkgeld in die Tasche seiner dreckigen Jacke. Draußen auf der Straße wird er von einer Gruppe Kinder umgerannt. Die Groschen landen auf dem Pflaster. Die Kinder stürzen sich gierig darauf, verschwinden mit ihrer Beute. Für ihn war das Schicksal, so scheint's, schon immer ein Arschloch. In der Totalen geht er davon, über das nassglänzende Pflaster einer grauen, tristen, vollgemüllten Hamburger Straße. Dazu hebt ein Song an, sein Song. "Celebration" heißt er, geschrieben von Roland Klick, gesungen von Marius (Müller) West(ernhagen).  

you know i want my celebration babe before i die
there's no place were i feel bound
it's not my destination here so babe don't cry
land of grace will soon be found
 
Der Junge heißt Willi (Charly Wierzjewski). Er ist obdachlos, ziellos, geldlos. Ein Drifter. Immer auf der Suche nach dem Platz, an dem es ihn hält. Immer dem Geld hinterher, das für ihn nie auf der Straße lag - aber eben ab und zu auf dem Trinkgeldtellerchen von Kellnern oder Klo-Frauen. Die Subproletarier können sich nur noch gegenseitig ausbeuten. Immer auf der Flucht vor der Polizei, für die Männer wie er mit seinen halblangen, fettigen Haaren und seinen abgegriffenen Klamotten unter Generalverdacht stehen.
Roland Klick sagte über den Film: "Das Wesen von Supermarkt ist das Weglaufen, das Rennen, das Sich-nicht-erwischen-lassen, das Unterkriechen. Das bedingte zweierlei: Erstens brauche ich einen Darsteller, der wirklich Rennen kann. Ich glaube von mir behaupten zu können, dass ich einem Kerl ansehe, ob er schon einmal vor der Polizei weggerannt ist. Zweitens braucht man einen Kameramann, der hinterherkommt."
Den fand er in Jost Vacano, dessen Kamera in allen Abstufungen der Beschleunigung hinter Willi her rast, -gleitet, -fliegt. Rastlos. Mit einer ruppigen Eleganz. Durch ein Hamburg des Drecks, des Schlamms, der unverwechselbaren Siebziger Jahre-Tristesse, die selten so roh und ungefiltert auf Zelluloid gebannt wurden. Aber auch der Verheißungen, der Clubs mit ihren Leuchtreklamen. Willis Wege durch die - meist nächtliche - Stadt führen hin und her zwischen dem engagierten Reporter Frank (Michael Degen), der ihm helfen möchte, dem schmierigen Gauner Theo (Walter Kohut), der ihn immer tiefer in seine kriminellen Machenschaften hineinzieht, einem reichen Homosexuellen (Hans-Michael Rehberg) und der Prostituierten Monica (Eva Mattes), die er aus dem Nachtclub, in dem sie arbeitet, "retten" möchte, mit ihr abhauen und ein neues Leben anfangen.    
 
so my journey's just a ride with an open end
one day i know what i've to pay
take a fancy to my dreams before it ends
come on it's time to slip away
 
Nachdem Deadlock relativ erfolgreich in den Kinos lief, habe man, so sagt Klick, ihm die Regie in einem Italo-Western angeboten. Er jedoch wollte sich nicht vereinnahmen lasse. Stattdessen drehte er Supermarkt - in eigener Produktion. Inspiriert hat ihn die Geschichte eines jungen Herumtreibers, den er selbst zu sich aufgenommen hatte. Wierzjewski übrigens, ein Laie, der vor dem Film nie vor einer Kamera stand, hat selbst eine ähnliche Biographie. Mit seinem dritten abendfüllenden Film befindet sich Klick auf dem Höhepunkt seines filmischen Schaffens. Die Konstanten in seinen Werk kristallisieren sich deutlich heraus. Seine Protagonisten sind Outlaws und Außenseiter. Es geht immer wieder um die Ausweglosigkeit, das Nicht-davon-kommen-können. Ob kleinbürgerliche Vorstadt, verlassenes Wüstenkaff oder Hamburger Milieu, nie sind die Orte, an denen die Filme spielen, bloße Schauplätze. Immer trachtet Klick danach, sie in ihrer Essenz zu begreifen, Figur, Plot und Ort in eine spezifische Beziehung zueinander zu setzen. Frank in seinem Trenchcoat scheint ein direkter Verwandter von Achims Vater in Bübchen. Einer, dem das Leben Versprechen gegeben hat, die es nicht einhielt. Der nicht weiß wohin mit seinem sozialen Engagement. Wie seine Partnerschaft scheint sein ganzes Leben fad geworden zu sein, brüchig. Und so verzweifelt und hilflos wie der Vater dort versucht, inmitten all des erdrückenden Spießerirrsinns eine Bindung zu seinem Sohn aufzubauen, klammert sich auch Frank an seinen Ersatzsohn. Und auch für ihn endet diese Beziehung in einer Art Komplizenschaft.
 
you know i want my celebration babe before i die
land of sunshine will be found
it's not my destination here so babe don't cry
it's gonna be a place we found
 
Ist es eigentlich Ironie, dass der Titelsong zu diesem düsteren, ausweglosen Film "Celebration" heißt? Sarkasmus? Mitnichten! Immer wieder gibt es in Willis trauriger Geschichte Momente größter Zärtlichkeit, puren Glücks. In der denkwürdigsten Einstellung dieses an denkwürdige Einstellungen reichen Films folgt die Kamera Willi bei seinem nächtlichen Weg über die Reeperbahn. Sein Kopf ist von hinten zu sehen, als Silhouette, aber scharf, während die Neonlichter vor ihm verschwimmen zu einem buntblinkenden Einerlei. Isoliert ist er, allein in der Welt. Aber die Kamera ist doch ganz auf seiner Seite, gegen die Welt, von deren Glücksversprechen er ausgeschlossen ist. Da ist die Szene, in der er aus dem Haus des Schwulen flüchtet, das in seinem Prunk und seiner Helligkeit so im Kontrast stand zu den anderen zwielichtigen Orten des Films. Und das doch für Willi einfach nur ein anderes Gefängnis, ein goldener Käfig hätte sein können. Die Kamera folgt ihm bis zur Verandatür, deren Klinke im rechten Bildrand zu sehen bleibt. Sie muss sich neu fokussieren während er weiter rennt, ans Sonnenlicht gewöhnen, an den Blick ins Freie. Ein Aufatmen. Draußen ein sonniger Tag, die aufblühende Natur, die Alster, auf der ein Schiff vorbei fährt. Dann die Szene, in der er Monica in Franks Sportwagen, den er sich "geliehen" hat abholt, um mit ihr einen Ausflug zu machen, zusammen mit ihrem kleinen Sohn. Zu dritt tollen sie am Strand entlang. Dass da einer nur so tut als ob, mit einem Auto, das nicht ihm gehört versucht ein Mädchen zu beeindrucken, "Familie zu spielen", tut nichts zur Sache. Ein Paar Minuten lang lebt er seinen Traum von einem besseren Leben, der alles ist, was er hat. Schließlich die Szene, wenn sie miteinander tanzen, sich aneinanderschmiegen, das Licht zärtlich auf ihren Gesichtern spielt. Und immer wieder erklingen dazu die jaulenden E-Gitarren von "Celebration", seinem Song. Nur im Angesicht der Ausweglosigkeit und des Todes kann die Intensität dieser Momente entstehen. Eine Feier des Lebens. Trotz allem.
Dass es für Klicks Hauptfiguren kein Happy End geben kann, dass sie sich auch bei ihrem verzweifelten Ringen nach Freiheit immer tiefer in (mörderische) Schuld verstricken, liegt nicht daran, dass er keine Gnade mit ihnen hätte.
Er liebt sie nur einfach zu sehr, um sie anzulügen. Das gleiche gilt wohl auch für sein Publikum.

so we'll have a celebration here before we die
land of sunshine will be found
you're all my fascination babe so please don't cry
it's gonna be a place we found

 

Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen. in der filmgazette

Für die filmgazette habe ich das angenehm entspannte Band-Portrait Kofelgschroa. Frei. Sein. Wollen. besprochen. Enjoy!

Donnerstag, 24. Juli 2014

Deadlock (Roland Klick, BRD 1970)

Ein Mann schleppt sich durch die Wüste. Im Zick-Zack, schwankend kommt er auf die Kamera zu. Sein grauer Anzug ist dreckig und zerrissen. Eine Schusswunde am Arm und die sengende Sonne machen jeden Schritt zur Qual. Er bleibt so stehen, dass nur seine Beine im Bild zu sehen sind. In der einen Hand hält er einen Aluminium-Koffer, in der anderen eine Maschinenpistole. Schnitt auf Marquard Bohms Gesicht, verbrannt, dreckstarrend. Er blinzelt, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Gegenschuss auf die Sonne, ein Feuerball aus gleißendem weißen Licht.
Die ersten drei Einstellungen von Deadlock fassen in extremer Verdichtung zusammen, worum es in dem Film gehen wird. Da ist der geschundene Mensch, ein Koffer voller Geld und eine Knarre. Da ist der Kampf ums Überleben, der immer auch ein Kampf gegen sich selbst ist, gegen den eigenen Körper und seine schwindenden Kräfte, später auch: gegen das eigene Gewissen. Da ist eine bedrohliche und unbarmherzige Natur als weiterer Antagonist in diesem erbarmunslos physischen Film. Die Wüstensonne als furchtbare, alles annihilierende Macht, die die Menschen in bloße Schatten verwandelt, und noch diese Schatten zu zersetzen, aus dem Bild zu tilgen droht. (Dass ein sadistischer Killer in diesem Film ausgerechnet auf den Namen Sunshine hört, ist gewiss alles andere als die plumpe Ironie, als die es zunächst erscheinen mag).
Der Mann, der nur Kid genannt werden wird (Bohm), will in dem verlassenen Wüstenkaff Deadlock seinen Komplizen Sunshine (Antony Dawson) treffen, um mit ihm die Beute aus einem Raub zu teilen. Als er, endlich am Ziel angekommen, in Ohnmacht fällt, entdeckt ihn ein Mann, der ebenfalls einen sehr sprechenden Namen hat: John Dump (Mario Adorf). Die Zivilisation scheint ihn hier, mitten in der Wüste, weggeworfen und vergessen zu haben, genau wie die abgetakelte ehemalige Prostituierte Corinna (Betty Segal) und ihre junge stumme Tochter Jessy (Mascha Elm-Rabben). Er sieht sich plötzlich im Besitz einer Millionen Dollar. Als Sunshine eintrifft, kommt es zu einem Kampf auf Leben und Tod um einen Koffer, eine Maschinenpistole und eine Luger, die in einem Dicht gespannten Netz der dreckigen Tricks und Intrigen immer wieder die Hände wechseln. Und schon der Titel verkündet, dass es am Ende keine Gewinner geben wird: Deadlock nennt man ein Schloss, dass nur von einer Seite öffnet.
Zunächst einmal ist Deadlock recht deutlich ein Genre-Film. An den Italo-Western  gemahnen der Schauplatz in der Wüste im allgemeinen und die provisorischen Kreuze eines kleinen Friedhofs im ganz besonderen. Auch Antony Dawson scheint ganz dieser Tradition verpflichtet, schon rein äußerlich mit seinem bärtigen, verkniffenen Gesicht unter einem verstaubten, breitkrempigen, schwarzen Hut, aber auch was seinen Spaß an der Grausamkeit anbelangt, mit der er John quält. Besonders markant ist die Szene, in der er Adorf befiehlt, Metallophon zu spielen und ihm dabei die Tasten wegschießt oder eine andere, in der er ihn nötigt, eine ganze Flasche Schnaps auszutrinken. Wo aber der Spaghetti-Western 1970 seinen Zenit bereits überschritten hatte und sich im selbst-reflexiv ironischen Niedergang befand (eine Entwicklung, die vielleicht im maßlos überschätzten Mein Name ist Nobody 1973 ihren Höhepunkt fand), gibt es in diesem Film eine Dringlichkeit, die das Genre in seinen besten Momenten auszeichnete.
Marquard Bohm hatte mit seinen Auftritten in den frühen Filmen Rudolf Thomes, Detektive, Rote Sonne und Supergirl das Zeug, zu einer Art deutschem Humphrey Bogart zu werden. Die große Karriere blieb dann aber aus - genau wie diese Filme, die mit einer coolen, vage (New) Hollywood'esken Leichtigkeit von Mord, ("freier") Liebe, Sex und Zärtlichkeit erzählten, das Versprechen auf ein anderes bundesdeutsches Genre-Kino lieferten, das so nie eingelöst werden sollte.
In Deadlock bildet Bohms oft zitiertes Nicht-Spiel den Gegenpol zur Brutalität Dawsons. Kid kämpft verzweifelt darum, sich in der grausamen Welt des Films ein Stück Menschlichkeit zu erhalten - und verstrickt sich doch immer mehr in Schuld, wird immer mehr zum Handlanger der Gewalt.
Zwischen den beiden, zwischen der Gewalt als letztem Mittel, eine Beziehung aufzubauen und der absoluten Resignation, steht der manisch und panisch agierende Mario Adorf, der zunächst versucht, an das Geld zu kommen, das ihm einen Ausweg aus seiner Misere bieten soll, später aber nur noch ums blanke Überleben kämpft.
So gnadenlos wie der Determinismus des Plots ist auch der Blick der Kamera. In einer Szene versucht John, mit einem Güterzug zu fliehen, wird aber von einem Arbeiter auf dem Zug unsanft daran gehindert. Die Kamera fährt davon und lässt Adorf auf den Gleisen zurück - und seine letzte Chance, mit dem Leben davonzukommen.
Doch da ist noch etwas, das zunächst paradox erscheinen muss: Deadlock ist ein ungemein zärtlicher Film. Das manifestiert sich am deutlichsten in der Figur Jessys. Schon in ihrer ersten Einstellung, in einem Türrahmen stehend, erscheint Mascha Rabben mit ihrem verdreckten Blümchenkleid beseelt von einer sehr spezifischen Unschuld. Sie bildet ein Außen zu der Männerwelt in der es - zumindest vordergründig - ausschließlich um Macht, Gewalt und Geld geht. Ihre pure Präsenz scheint die Kamera zu verzaubern, ähnlich wie es Renate Roland in Bübchen tat. In einer Szene ist ein verfallenes, zweistöckiges Haus zu sehen, über das ein weißes Licht huscht, die Reflexion der Sonne in einem Spiegel. Es kommt schließlich auf Rabben zur Ruhe, die auf einer Außentreppe steht und zu Kid blickt, der den Spiegel hält. Schnitt auf ihr Gesicht, umrahmt von ihren feuerroten Haaren, in denen der Wind spielt, sie zu liebkosen scheint. Aus ihrem Blick sprechen Neugierde, Begehren. In der Szene, in der John Kid die Kugel aus dem Arm holt, streichen Jessys Hände und Lippen über Kids Gesicht, über seine Brust. Später dann die Sexszene zwischen den beiden, behutsam ertasten sie ihre Körper, wie das letzte, das ihnen in einer feindlichen Umwelt Halt geben könnte. Von sanften Gitarrenklängen unterlegt ist da plötzlich eine irgendwie spröde, aber gleichzeitig verspielte Poesie in den Bildern.
Aber auch darüber hinaus gibt Klick seine Figuren nie preis, nimmt jede von ihnen bedingungslos ernst in ihrer Tragik. Dadurch, dass es im Angesicht des Todes geschieht, wird alles in diesem Film umso intensiver. Ein Fiebertraum. Eine 89-minütige fortwährende Agonie.
In der letzten Einstellung verlässt Bohm den Film, wie er ihn in der ersten betreten hat. Allein in der Welt. Ganz und gar verloren. Man möchte ihm fürsorglich nachrufen: "Hey, Kid, where are you going with that gun in your Hand?"  

Nachmals hingewiesen sei auf die Klick-Retro im Berliner Lichtblick-Kino, wo man auch am Montag, den 28. Juli nochmal Gelegenheit haben wird, Deadlock zu sehen - und zwar auf die einzige Art, wie man diesen Film mit seinen starken Hell-Dunkel-Kontrasten und seinen psychedelisch knalligen Farben wirklich erleben kann - von 35mm.

Sonntag, 20. Juli 2014

Bübchen (Roland Klick, BRD 1968)

Bübchen (1968)Das schrecklichste an Bübchen ist vielleicht, dass es für den Schrecken, den der Film zeigt, nirgendwo ein Ventil zu geben scheint. An keiner Stelle wird das so deutlich wie in der Szene, in der der Junge Achim seine kleine Schwester erstickt, indem er ihr eine Plastiktüte über den Kopf zieht. Das Mädchen, das unter der Tüte nach Atem ringt, scheint das komprimierte, buchstäblich ins Atemlose verdichtete Bild eines ganzen Milieus zu sein, der Hamburger Stadtrandgesellschaft der späten Sechziger Jahre. Zwischen den oft und ausgiebig betrunkenen Männern und keifenden Frauen, zwischen familiärer Gewalt in verschiedenen Formen und dem obligatorischen  Männerklaps auf den Frauenpo, hinter den um jeden Preis aufrecht erhaltenen heilen Fassaden scheint in diesen Verhältnissen die Luft zum Atmen zu fehlen. Dass als Verdächtige eines "Sittlichkeitsverbrechens" nicht die Männer aus der Nachbarschaft, sondern nur "Fremde" in Frage kommen, gibt ein weiteres Beispiel für die vorherrschende Gesinnung - und erscheint zugleich als blanker Hohn. Aber dann gehört zu dieser Szene auch noch der Gegenschuss auf das Gesicht des Jungen. Auf seinen Zügen zeichnet sich ganz kurz ein Schimmer des Entsetzens ab, ein Moment der Unsicherheit. Ein Gefühl, das wie ein Schatten kurz zu erahnen ist, sich dann aber nicht wirklich manifestieren kann. Als er das Telefon klingeln hört, verlässt er den Raum. Seine Mutter ist dran, aus der Kneipe. Er nimmt ab, bleibt aber stumm. Durch die Sprachlosigkeit fehlt der Reflexion der Gefühle, des Verhaltens, der Schuld auch das Medium, um sich ausdrücken zu können. So kann die Katastrophe endgültig ihren Lauf nehmen kann.
Am Gelingen des Films haben die großartigen Schauspieler einen großen Anteil. Allen voran der beeindruckende Sascha Urchs, der als Achim seine erste und einzige Filmrolle ablieferte. Ständig scheint es zu brodeln unter seinen bedrückten Zügen, ohne dass es jemals einen Ausbruch geben würde, eine fortwährende Implosion der Gefühle, die keinen Weg nach außen finden können.
Genau so toll und ebenfalls in ihrem ersten Leinwandauftritt spielt Renate Roland Monika, die adoleszente Tochter der Nachbarfamilie. Am Nachmittag, an dem Achim seine Schwester umbrachte, sollte sie auf die beiden Kinder aufpassen, vergnügte sich aber stattdessen mit ihrem Freund. Ihr Gesicht, ihr Lächeln scheint die Kamera zu verzaubern. Ihre Ungezwungenheit, ihre - wenn auch oft gehässige - Fröhlichkeit wirkt an sich wie eine fortwährende Rebellion gegen den kleinbürgerlichen Vorstadtalltag. Großartig sind die Szenen, in denen sie mit ihrem Freund durch die Natur tollt, in denen man regelrecht aufzuatmen scheint, befreit von der erdrückenden Tristesse des Hauses mit seinen typischen Sechziger Jahre Pastell - und Brauntönen.
Achims Vater wird gespielt von Sieghardt Rupp, der zuvor unter anderem in einigen Italo-Western zu sehen war. Redlich zeigt er sich bemüht, eine besondere Verbindung zu seinem Sohn aufzubauen, die in einer Komplizenschaft endet. Er lässt die Leiche des Mädchens verschwinden, aus dem Autowrack, in dem Achim sie versteckt hatte. Die Empathie, die Klick für seine Figuren hegt, die er an keiner Stelle preisgibt, wird auch an ihm besonders spürbar. Als er das Lumpenbündel, das seine Tochter war, aus dem Kofferraum holt, sieht man in seinem Blick wieder das Gefühl, das keinen Ausgang findet, die Unfähigkeit zur Trauer. In seiner Lederjacke wirkt er wie das nie erfüllte Versprechen auf eine anderes Leben. Der Schrottplatz wird zur Seelenlandschaft, zur Endstation der Träume der BRD nach dem "Wirtschaftswunder". In einem Minenschacht lässt er die Leiche für immer verschwinden. Die Fahrt hinab mit dem Aufzug in die Hölle, in der man sich in diesem Film doch immer schon befindet.
In der letzten Szene dann zieht sich Achim selbst die Plastiktüte über den Kopf, reißt sie aber nach einigen verzweifelten Atemzügen wieder herunter. Ein letzter gescheiterter Befreiungsversuch. Er schlurft zu seinen Eltern an den Tisch. Die erdrückende Stille der letzten Einstellung, die die Familie beim Essen zeigt, wird lediglich unterbrochen von der Aufforderung der Mutter, sich die Serviette zu nehmen. Das ist sie wohl, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin bestand, dass es immer so weiter geht.

Gesehen habe ich den Film übrigens gestern als Auftakt der Klick-Retrospektive im Lichtblick-Kino in Prenzlauer Berg mit seinem charmant alternativen Charme. Noch die nächsten Tage hat man dort die Möglichkeit das Gesamtwerk Roland Klicks zu bewundern - und zwar sehr löblicherweise von 35mm. Nach Bübchen und vor allem Deadlock ist für mich absolut klar, dass das die einzige Form ist, diese Filme wirklich zu erleben.   

Samstag, 19. Juli 2014

Employees' Entrance (Roy del Ruth, USA 1933)

Die größten genreübergreifenden Konstanten im Hollywood-Kino der frühen Dreißiger (zumindest wenn man von der Handvoll Filme ausgeht, die dieser Tage im Arsenal zu sehen sind) sind Arbeit und sozialer Aufstieg. Gerade im Angesicht der Massenarbeitslosigkeit in der Great Depression schien das Kino ein unbändiges Interesse an Arbeitsabläufen, an der Organisation und den Hierarchien der Arbeit zu entwickeln. Das, was man etwa in Night Nurse über den Arbeitsalltag in einem Krankenhaus erfährt und zu sehen bekommt, geht über ein bloßes Setting der Handlung weit hinaus. Der soziale Aufstieg schien in der Komödie (Hard to Handle), im Drama (Angel Face) oder im Gangsterfilm (The Public Enemy) gleichermaßen Thema. Die Utopie dieser Filme besteht in einer Chancengleichheit bei der weder Herkunft noch Geschlecht über den sozialen Status entscheiden, sondern lediglich der eigene Wille. Klassendünkel sind in einem Musical wie The Gold-Diggers of 1933 allenfalls ein Grund zur Belustigung und auch der Kaufhausvorstand Knut Anderson (Warren William) in Employess' Entrance hat für die Vorstandsmitglieder mit ihrem ererbten Geld und ihren großen Familientraditionen nichts als Verachtung - und der Film nichts als Spott - übrig.  Für eine schlichte Neugeburt des amerikanische Traums aus der Stimmung des Krise, auch in dieser Situation kann es jeder schaffen durch harte Arbeit from rags to riches zu kommen, sind die Aufstiegsgeschichten dieser Filme in ihrer oft lustvoll ausgestellten Amoralität, die mit der Durchsetzung des Production Codes 1934 ein Ende finden sollte, viel zu ambig. In The Public Enemy verkünden gleich drei Texttafeln zu Beginn und am Ende von der Verwerflichkeit des Treibens von Tom Powers (James Cagney), betonen mit inbrünstigem Pathos, dass wir Kinozuschauer die Öffentlichkeit sind, deren Feind dieser Mann ist, und das obwohl diese Figur wahrlich wenig geeignet scheint, Sympathien zu wecken und zudem den Aufstieg zum Unterweltboss am Ende mit dem Leben bezahlt. Vielleicht ist darin nicht nur eine Konzession an die Zensur zu sehen, sondern es findet sich auch eine Ahnung davon, wie attraktiv der soziale Aufstieg durchs Verbrechen für das zeitgenössische Publikum gewirkt haben mag.
Immer wieder geht es auch um das Verhältnis von Arbeit zum Privatleben im allgemeinen und zu Liebe und Sexualität im ganz besonderen.
Katharine Hepburn in Christopher Strong etwa verdankt ihre Jungfräulichkeit nicht irgendwelchen Moralvorstellungen, sie hat einfach nur Angst, durch die Bindung ihre private Unabhängigkeit, ihre Abenteuerlust zu verlieren.
In Baby Face ist der Sex Mittel zur Macht. Das einzige, das einer Frau aus armen Verhältnissen bleibt, um ganz nach oben zu kommen und einerseits ändert lediglich ihr Preis durch den Aufstieg aus der Kneipe ihres Vaters in den Slums, wo sie sich zu Beginn prostituiert, in die Führungsetage eines Firmenhochhauses. Andererseits subvertiert sie mit ihrem Aufstieg und den Männern, die sie dabei hinter bzw. unter sich lässt, die Geschlechterhierarchien, indem sie, wie es ihr ihr nietzscheianischer Mentor ganz unverblümt rät, die Männer ausnutzt statt sich von ihnen ausnutzen zu lassen.
In Female ist die Macht Mittel zum Sex. Die Vorsitzende eines großen Autokonzerns (laut IMDb-Trivia übrigens genau achtzig Jahre bevor es jemals in der Realität eine weibliche Vorsitzende eines großen Autokonzerns gab) hält sich ihre attraktiven jungen männlichen Untergebenen als eine Art Harem und hält von der Ehe gar nichts: "Most women consider a man a household necessity. Myself, I'd rather have a canary."
Nicht nur darin erscheint Warren Williams Figur in Employess' Entrance als ihr männliches Gegenstück. Auch er befehligt unerbittlich über ein großes Unternehmen, ein Kaufhaus in Manhattan mit 12.000 Angestellten. Auch er schläft mit seinen Angestellten und serviert sie hinterher ab. Auch für ihn scheinen beruflicher Erfolg und feste Bindung unvereinbar.
Die Figur Knut Anderson ist das große Faszinosum dieses Films. Unerbittlich und despotisch einerseits, ein moralisches Wrack, das Sätze von sich gibt wie: "There's no room for sympathy or softness - my code is smash or be smashed!" Folgerichtig quittiert er den Suizid eines ehemaligen Angestellten mit den Worten: "When a man outlives his usefulness, he ought to jump out a window." Andererseits scheint es ihm aber bei der Rücksichtlosigkeit seines unerbittlichen Führungsstils aber gerade nicht zu um private Bereicherung zu gehen. Seine absolute Asozialität dient letztlich sozialen Interessen, der Erhaltung von Arbeitsplätzen, und selbst wenn er am Ende abgesetzt zu werden droht, scheint seine größte Sorge zu sein, dass seine Nachfolger das Kaufhaus zu Grunde richten werden.
Simon Rothöhler beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen:
"Auf die einbrechenden Geschäftszahlen nach 1929 reagiert Anderson nicht mit Kündigungen im Maschinenraum des Kaufhauses, sondern mit salary cuts bei den Vorstandsmitgliedern. Weil er ein genialer Manager ist, lässt ihn Monoroe, der mäßig involvierte Eigentümer des Kaufhauses, zunächst widerwillig gewähren. Die Angestellten werden nicht en masse gefeuert, sollten dafür aber ihr Gehalt besser gleich im Haus wieder ausgeben, wenn sie dem gerechten Zorn Andersons entgehen wollen. Der Lohnscheck als In-House-Konsumgutschein, der Monroes Binnenkonjunktur ankurbelt. Der letzte (und erste) Keynesianer Anderson mag privat ein Ausbeuter sein, betriebspolitisch antizipiert er den New Deal - in den Grenzen des eigenen Unternehmens und gegen alle anderen."
Anderson ist stolz darauf, ein Emporkömmling zu sein und eine Ehefrau würde ihm bei seinem Aufstieg nur behindern. Ein Konflikt entsteht als einer seiner Angestellten, Martin Ford (angemessen geknickt: Wallace Ford) seine Kollegin Madeleine (Loretta Young) heiratet, mit der Anderson eine Affäre hatte, und die er im feucht fröhlichen Treiben einer Party erneut verführt, hauptsächlich um einen praktischen Beweis zu seiner These über den Unsinn und die Verlogenheit der Monogamie zu erbringen.
Den Konflikt zwischen Arbeit und Liebe muss ein Pre-Code-Film nicht im Sinne einer Läuterungsgeschichte oder eines Sieges des "Guten" über das "Böse" auflösen. Vielmehr gibt es ein doppeltes Happy End. "Der Mann, der mit einem Kaufhaus verheiratet ist" (Rothöhler) darf sich, nach einer kurzen eskapistischen Phantasie vom guten Leben (Paris und Riviera mit einer seiner Angestellten) im Angesicht des beruflichen Aus, nach der Sicherung seiner Position wieder mit alter Inbrunst und Hartherzigkeit in die Arbeit stürzen. Herr und Frau West dürfen einander in die Arme fallen. Statt einer allgemeingültigen transzendenten Moral also einfach jedem das Seine.

Ach übrigens: in der zum Brüllen komischsten Szene in diesem des Öfteren zum Brüllen komischen Film entsorgt Anderson einen dieser kleinen Handtaschenhunde, keine Ahnung, wie die Rasse heißt, fachgerecht in einem Papierkorb.

Freitag, 18. Juli 2014

Hard to Handle (Mervyn LeRoy, USA 1933)

"I've got nothing to run away from," sagt James Cagney einmal. Dennoch rennt er in Hard to Handle so viel wie wohl keine andere Hauptfigur in einem Film, außer in solchen, bei denen es explizit ums Rennen geht, etwa The Marathon Man oder Lola rennt (und auch da bin ich mir nicht so sicher). Cagney rennt und rennt und rennt. Und wenn er nicht rennt, dann redet er und redet und redet wie ein Maschinengewehr (und wer wissen möchte, was das bedeutet: "reden wie ein Maschinengewehr", den kann man zur Veranschaulichung eigentlich nur auf James Cagney in diesem Film verweisen).
Geht es in den amerikanischen Film der Zeit oft um verschiedene Wege mit den sozialen Realitäten der großen Depression umzugehen, dann besteht Cagneys Ansatz hier offenbar darin, einfach vor ihr wegzurennen und wo sie ihn doch einholt, zeigt er sich redlich bemüht, sie tot zu quatschen.
Der Film beginnt mit einem Tanzwettbewerb, der damit endet, dass Cagney die Siegerprämie nicht auszahlen kann, weil sein Kompagnon sich mit sämtlichem eingenommenen Geld aus dem Staub gemacht hat. Der Konntest mit den mitleiderregend schweißtropfenden Gesichtern und hängenden Körpern der letzten beiden Paare, die seit 1412 Stunden tanzen, gibt den Ton an. Der Überlebenskampf als Spektakel mit vollem Körpereinsatz, als spielerischer Wettkampf mit dem Elend. In einer großartig rasanten Kamerafahrt rennt Cagney zum ersten mal, um dem wütenden Mob zu entkommen.
Als wesentlich schwieriger stellt es sich heraus, vor seiner Freundin (Ruth Brian) wegzurennen, die den Wettbewerb gewann und sich nun um ihr Geld betrogen sieht. Und vor allem ihrer Mutter (Ruth Donnelly), die unerbittlich darum bemüht ist, ihre Tochter möglichst gewinnbringend zu verheiraten. Dabei springt ihre Gunst so schnell zwischen Cagney und seinem Mitbewerber, einem ziemlich biederen Fotografen, hin und her, wie die rasanten plot points den einen oder den anderen als bessere Partie erscheinen lassen. Sie ist gründlich von jeder Wertvorstellung befreit, die nicht monetärer Natur wäre und darüber hinaus mit einem zynischen Mundwerk ausgestattet, das selbst Cagney Paroli bieten kann.  
In halsbrecherischem Tempo rennt Cagney, um seine Schulden zu begleichen von einem Geschäftsmodell zum nächsten. Überdreht, manisch verkauft er, redend in einem Tempo, dass es einem schwindlig wird, eine obskure Geschäftsidee nach der anderen. Schließlich landet er dabei bei Grapefruit-Farmen, eine Anspielung auf die berühmt-berüchtigte Szene in The Public Enemy, in der Gagney seiner Gespielin eine Grapefruit im Gesicht zerdrückt.
Es ist erstaunlich, wie sehr das Hollywood-Kino dieser Zeit im Angesicht der wirtschaftlichen Not immer wieder die Zusammenhänge von Geld, Macht und Sex thematisiert. So maßlos ins Groteske überzeichnet die Donnelly-Mutter-Figur auch ist, es schimmert doch durch, dass ihre Situation noch prekärer ist, als die der jungen Frauen in anderen Filmen, die - oft sehr buchstäblich - hoch hinaus wollen. Nicht der eigene Körper, sondern der ihrer Tochter wird zur einzigen Möglichkeit, dem Elend zu entkommen, und damit, mehr denn je, zur Ware, die es an den Meistbietenden zu verkaufen gilt. Dass sie, wenn es um die Heirat ihrer Tochter geht, stets im Plural spricht ("wir heiraten") unterstreicht, wie wenig die Tochter noch eigenes Subjekt ist, wobei sich gut ins Bild fügt, dass Ruth Brian in den atemlosen Wortgefechten zwischen Cagney und Donnelly schlicht untergehen muss. Ihre Vorstellung von der Liebe, von Treue, die sie als sie einen Seitensprung Cagneys bemerkt in hysterische Verzweiflung stürzt, erscheint in Hard to Handle nicht als positive Alternative  zu dem - einmal mehr vollkommen unbekümmert zelebrierten - Zynismus, sondern einfach nur noch als heilloser Anachronismus.