Freitag, 27. September 2013

Carancho (Pablo Trapero, Argentinien 2010)

Laut einer wunderbaren Definition war "der Film noir eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid hat mit Leuten, die ihre Seele verloren haben."
Wollte man das um die Jahrtausendwende entstandene "Neue argentinische Kino", dem auch Pablo Trapero zugeordnet wird, auf eine ähnlich griffige Formel bringen, könnte man sagen, dass es ein Kino der Nachkrise ist, dass Mitleid mit Leuten hat, die ihre Existenz verloren haben - aber auch solchen, die noch nie eine hatten.
In Traperos Carancho, einem Film, der einem den Begriff "Neo-Noir" wahrlich aufdrängt, geht es, kurz gesagt, um zwei verlorenen Seelen, die, eigentlich auf der Suche nach einer auch nur halbwegs würdevollen Existenz, einander im nächtlichen Buenos Aires finden.
Er, Sosa (Ricardo Darín), ist Anwalt, hat seine Lizenz verloren und arbeitet seitdem für eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat, für Opfer von Verkehrsunfällen - oder deren Angehörige - Schadensersatz einzuklagen. Ein sehr lukratives Geschäft, denn, so informiert eine Texttafel zu Beginn, in Argentinien sterben jedes Jahr 8000 Menschen bei Autounfällen, sie sind die Haupttodesursache bei unter 35-jährigen. So lukrativ, dass es in durch und durch mafiosen Strukturen organisiert ist - von fingierten Unfällen bis zu windigen Firmen, die nur einen Bruchteil des erklagten Schadensgeldes tatsächlich an die Betroffenen weitergeben. Dort wo er nachts Klienten sucht, in den Notaufnahmen der Krankenhäuser und an den Straßenecken, behandelt sie, Luján (Martina Gusman), Notärztin, frisch aus der Provinz-Uni im Arbeitsleben und der Hauptstadt angekommen, Patienten. Den enormen Belastungen ihres Jobs ist sie bald nur noch gewachsen, indem sie sich mit allerlei Medikamenten betäubt. Die beiden werden ein Paar und versuchen nun gemeinsam dem Netz der kriminellen Verstrickungen, das sich immer enger, um ihn schließt - und in das er sie zunehmend mit hinein zieht - zu entkommen.
Wenn Isabel Caetanos Pizza, birra, faso 1997 einer der Schlüsselfilme des neuen argentinischen Films war, dann nimmt er auch dessen Tendenz vorweg, sich den Schicksalen der neuen und alten Marginalisierten mit den Mitteln des Genre-Kinos zu nähern - kaum zufällig läuft in einer Szene Dog Day Afternoon im Fernsehen, ein New-Hollywood-Klassiker von Sidney Lumet, der bekannt war für seine politisch engagiertes Genre-Handwerk. Pablo Trapero hatte 2002 mit El Bonarense einen Polizeifilm gedreht, der das Genre regelrecht aushöhlte. In den prototypischen modernen Polizeifilmen der Siebziger Jahre ging es immer um das Individuum, dass sich im beständigen Kampf mit dem System befand, in dem und für das es eigentlich arbeiten sollte. Dieser Konflikt einte seine (Anti-)Helden - die "rechten" (Popeye Doyle, Dirty Harry) unterschieden sich von den "linken" (Serpico) nur in der grundverschiedenen Beschaffenheit des "bösen Systems", mit dem sie sich anlegten. Der Protagonist von El bonarense, der vom Kleinkriminellen zum Polizisten wird und schließlich in Uniform zu einem größeren Verbrecher als er vorher je war, ist das genaue Gegenteil: er macht - will sagen: prügelt und kassiert - einfach mit. Bestimmt kein guter Bulle, aber über weite Strecken so passiv, dass er auch nicht wirklich ein böser Bulle ist. Keiner, der sich irgendeinen moralischen Kodex leisten würde, aber auch kein criminal mastermind in Uniform. So einer, das ist das Fazit des Films, bringt es im Argentinien nach dem "Corralito", wo viele auf der Strecke bleiben, zu etwas.
Sehr anders sieht der Zugriff aufs Genre in Carancho aus. Wo dort das Identifikationsangebot für den Zuschauer durch eine Figur, die nicht gegen, sondern mit dem Strom schwamm, konsequent demontiert wurde, wird es hier durch die Liebesgeschichte zweier Menschen, die einer absolut unmenschlichen Arbeitswelt zu entkommen versuchen, neu zusammengesetzt. Während Trapero dort die horrenden Misstände im Polizeiapparat von Buenos Aires - Vetternwirtschaft, Korruption, Polizeigewalt - mehr im Vorbeigehen schilderte, schreibt er sich hier die politische Brisanz seines Themas gleich per Texteinblendung im Vorspann auf die Fahnen. War El bonarense über weite Strecken so unaufgeregt, dass die Bezeichnung Thriller beinahe sarkastisch wirkt, lässt Carancho seine zwei Hauptfiguren, Melodram und Thriller, Film und Zuschauer mit denkbarer Wucht aufeinander prallen - wie einen Lastwagen auf einen Fußgänger, wie den Stiefel auf den Solar Plexus oder den Vorschlaghammer auf das Knie.
In der ersten Szene wird parallel montiert, wie Sosa am Boden liegt, nur ein Schatten im gelben Licht der Straßenlaternen, und von den erzürnten Hinterbliebenen eines Unfallopfers zusammengetreten wird, während sich Luján Morphium in den Fuß spritzt. Er steht auf, spuckt einen Mundvoll Blut aus, sie versucht sich zu sammeln, die Kamera auf ihrem Gesicht im Profil, in Großaufnahme, unscharf. Der mitleiderregende "Schlafzimmerblick" scheint auf der Arbeit zu ihrem Erscheinungsbild zu gehören wie der Kittel. Dann sind beide unterwegs, im Auto. Auf Kollisionskurs. Aufeinanderprallen als Synthese.
Vom klassischen Film noir entleiht sich Trapero nicht zuletzt das zentrale Thema der Mobilität, das jener seinerseits von der hard boiled detective fiction übernahm. Die Stadt ist ein bedrohlicher Nicht-Ort, leere, gesichtslose Straßenecken bei Nacht, an denen es immer wieder ziemlich unvermittelt rumst. Menschen, die aneinander vorbeihetzen am Tag. Von der Suche nach Intimität in dieser durchanonymisierten, entmenschlichten Welt, in der der Crash zur letzten Form sozialer Interaktion geworden zu sein scheint, handelt der Film einerseits. Andererseits von dem Ausbruchversuch aus einer vollkommen unmenschlichen Arbeitswelt, von der vernarbte Venen und lädierte Gesichter nur die äußerlichen Spuren sind, die nach außen, an die Körperoberfläche gekehrten Traumata der beiden Hauptfiguren, über deren Vergangenheit wir nur wenig erfahren. Wie Sosa seine Lizenz verloren hat, woher die riesige Narbe an Lujáns Schulter rührt etwa, wissen wir nicht. Von den an sich schon denkbar zerrissenen Biographien bekommt man wiederum nur Fetzen präsentiert.
Das große Problem des Films ist, dass Trapero die (a-)soziale Realität, von der er erzählen möchte, und die Form des Genre-Films, die er dafür wählt, nicht wirklich zusammenbekommt. War der klassische Film noir mehr ein Stil als ein Genre, eine stark stilisierte Ästhetik, deren pessimistische Dunkelheit sich eher abstrakt aus den Erfahrungen des Weltkriegs speiste, ist es sicherlich schwierig, in einer solchen Ästhetik von einer sehr konkret gefassten Gegenwart zu erzählen. Zumal "Neo-Noir" eben auch immer einen Rückbezug auf die Geschichte des Films bedeutet. Man denkt eben bei den Gesichtern im flackernden Blaulicht, den sich in weiße und rote Lichter hinter der Windschutzscheibe auflösenden Straßen in Carancho eher ans Kino und seine Geschichte als an irgendeine außerfilmische Realität. Auch fiebert man mit den beiden Protagonisten so sehr mit, dass das wo vor sie fliehen eher ins Hintertreffen zu geraten droht.
Jedoch: diese entscheidenden Unstimmigkeiten tun der Wucht des Films, an dessen Ende das Auto - einmal mehr - zur tödlichsten aller Waffen wird, keinen großen Abbruch.
   

Mittwoch, 25. September 2013

Movie of the Week 1: The Killing (Stanley Kubrick, USA 1956)

Großartig ist die letzte Einstellung. Die beiden Polizisten, die, symetrisch im Bild angeordnet, mit gezogenen Waffen auf die Kamera und den Protagonisten zukommen. Hinter ihnen die Flughafentür, der letzte Ausweg, verstellt. Dann die Schrifteinblendungen. Zuerst, mittig, "The End", dann, darüber, "The Killing".


Teile eines Puzzles nennt das Voice-Over zu Beginn die Männer, die gemeinsam den Überfall auf eine Trabrennbahn planen. Wie das große ganze hinterher aussieht, darauf haben sie alleine keinen Einfluss. Der große Puzzle-Spieler aber heißt Stanley Kubrick. Aus - deutlich als solche gekennzeichneten - Versatzstücken des Genres setzt er einen Film zusammen, dessen unbedingter Determinismus immer wieder ins Absurde kippt. Es geht mit einem Spiel los, dass man nicht gewinnen kann: ein Mann setzt auf der Rennbahn fünf Dollar auf jedes Pferd. Die letzten im Film gesprochenen Worte sind: "What's the difference?"
Die Überdeutlichkeit der Bildsprache sucht in der Tragik, der absoluten Ausweglosigkeit immer wieder eine herrlich groteske Komik. Da ist der Mann, der seiner zynischen Frau, eine lupenreine Karikatur einer femme fatale, kein bisschen gewachsen ist, und tatsächlich einen halben Kopf kleiner ist als sie.
 

Da ist ein anderer Mann, der in Untersicht zwischen reichlich zerlöcherten Schießstandfiguren zu sehen ist. (Spoiler: Es wird wohl eher kein gutes Ende nehmen mit ihm.)


Da ist der Räuber in Clownsmaske, eine tragische Witzfigur wie alle anderen. Da ist der größte Koffer, den er finden konnte, der sich doch als wesentlich zu klein für das erbeutete Geld erweist.
Das Voice-Over ist schierer Sarkasmus, nicht obwohl, sondern gerade weil es kaum etwas anderes macht, als genau festzuhalten, wer, wann, wo, was tut: "Nikky died at 2:15". Ein minutiös geplanter Weg ins Verderben in einem Film, in dem jede Szene und jede Einstellung (oft in sich abgeschloßene kleine Kunstwerke), unerbittlich zusteuert auf das große Töten, das vom Winde verwehte Geld und das letzte Bild.
Wenn sich die Finsternis des Film noir aus den durch den Krieg zertrümmerten Biographien speiste, dann baute Stanley Kubrick 1956, als sich die klassische Ära des Film noirs bereits ihrem Ende entgegen neigte, aus dessen Trümmern eine wahrlich rabenschwarze Komödie.

Projekt: Movie of the week

Um in mein Geblogge etwas Struktur zu bringen, habe ich mir vorgenommen, jeden Montag ein paar Zeilen zu einem Film zu schreiben, den ich in den letzten sieben Tagen gesehen habe, und den ich so schön, so großartig, so faszinierend (oder aber auch: so abstrus, so abseitig, so weird) fand, dass ich meine Eindrücke - möglichst kurz - festhalten möchte. Eine Diskrimineirung von Filmen nach Alter, Herkunftsland, Farbe (oder auch nicht) Geschlecht und sexueller Orientierung schließe ich strikt aus. Ob ich den Film zum ersten, zum zweiten oder zum hundertsten Mal gesehen habe, spielt ebenfalls keine Rolle.
Da ich aber ein ziemlich ungeduldiger Mensch bin - und vielleicht auch, weil mir jede Art von Struktur dann doch immer ein Stück weit suspekt ist - geht's heute, an einem Mittwoch also, los mit einem Film, den ich am Montag gesehen habe: Stanley Kubricks frühes Meisterwerk "The Killing" von 1956.

Freitag, 20. September 2013

Kino-Tipp: Room 237

Heute startet Rodney Ashers Room 237 in den deutschen Kinos. Hier habe ich ausführlich über den Film geschrieben, der mir - auch (oder vielleicht gerade) - wenn seine Kubrick-Exegese teilweise denkbar abstrus ist, ziemlich viel Spaß gemacht hat.

Dienstag, 17. September 2013

'El golpe' oder: der andere 11. September...

...im Arsenal

An jedem 11. September jährt sich nicht nur der Tag der Anschläge in New York und Washington 2001, die über 3000 Menschenleben kosteten, und die Welt im beginnenden 21. Jahrhundert wohl so entschieden prägten, wie kein anderes Ereignis. Sondern auch der faschistische Militärputsch in Chile unter Augusto Pinochet im Jahr 1973, bei dem mit Unterstützung des CIA die demokratisch gewählte sozialistische Regeirung Salvador Allendes gestürzt wurde. Abrupt ertranken die Hoffnungen gerade der ärmeren und ärmsten Chilenen, aber auch von Millionen Sympathisanten weltweit, im Blut. Gerade zu Beginn des knapp siebzehn Jahre währenden Pinochet-Regimes, aber auch in dessen weiteren Verlauf wurden Zehntausende Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet.
Das Arsenal erinnerte am vergangenen Mittwoch, also nach genau vierzig Jahren, mit einem von Florian Wüst kuratierten Programm an diesen Tag der zerstörten Hoffnungen. Wüst setzte damit auch seine Beteiligung am Living Archive fort, bei dem er im Juni mit der Reihe "Also gehen sie und kaufen" chilenische Filme aus der Zeit von Allendes Unidad Popular-Regierung zu zeitgenössischen westdeutschen in Beziehung setzte (meine Eindrücke zu einem Teil des Programms habe ich hier festgehalten).
Der erste Film war Reportaje a Lota, eine Dokumentation über die prekären Arbeits- und  Lebensbedingungen der Minenarbeiter in der Kleinstadt Lota an der chilenischen Küste. Der siebzehnminütige Film ist in Schwarzweiß, auf 16mm und ohne synchronen Ton gedreht. Trotz dieser sehr beschränkten Mittel gelang den Regisseuren ein sehr eindringliches, bisweilen geradezu bildgewaltiges Portrait der Einwohner Lotas und ihres Alltags, der ganz bestimmt wird vom Elend und der Kohle, die sie mühevoll 4000 Meter unter dem Meer dem Stein abgewinnen, um andere mühelos reich zu machen. Die Szene, die mir am stärksten im Gedächntnis bleibt zeigt die "Umkleidekabine" der mineros. Am Eingang der Mine verstauen sie ihre Kleidung in Körben, die mit Ketten an die Decke gezogen werden, um hier, vier Meter über dem Boden, auf die Rückkehr ihrer Besitzer zu warten - von denen viele niemals zurückkehren werden. Die Mine wird hier - auch rein assoziativ auf der Bildebene - zu einer Hölle, an deren Pforte die Arbeiter, das Wenige an persönlichem Besitz, das sie haben zurücklassen, die sie anonymisiert, ganz ihrer Funktion im Produktionsprozess unterordnet, und die sie dann noch - oft - endgültig verschluckt. Das auf und ab der Körbe, die Ketten, die in ständiger Bewegung das Bild horizontal und vertikal zerschneiden zeigen diese Hölle in ihrer menschengemachten Mechanik. Reportaje a Lota entstand im Februar 1970, also mehr als ein halbes Jahr vor dem Wahlsieg der Unidad Popular, aber der Film endet bereits auf einer hoffnungsvollen Note, wenn am Ende die gewerkschaftliche Organisation der Minenarbeiter gegen die Firmen und die Gleichgültigkeit der Regierung steht. Bilder vom großen Streik 1960, in dem die Arbeiter von Lota nach Concepción zogen. Bilder von Lichtern in der Dunkelheit.
"Dass so viele schrecklich arm sind und so viele reich, hängt zusammen", lautet die grundlegende Erkenntnis von Peter Nestlers 1974 für das schwedische Fernsehen gedrehtem Chilefilm, dem zweiten Film des Abends. Nestler zieht einen Bogen vom Eintreffen der ersten europäischen Eroberer im frühen sechzehnten Jahrhundert bis zum 11. September 1973, den er als konsequente Fortsetzung von knapp fünf Jahrhunderten imperialistischer Machtpolitik und Ausbeutung in Chile ansieht. Leider bleiben Nestlers Ausführungen so schematisch, dass es ihm kaum gelingt in die Tiefe des globalen Zusammenhangs zwischen Armut und Reichtum zu gehen. Hatte Nestler 1966 die Bundesrepublik verlassen, weil man es ihm wegen seiner linken Gesinnung zunehmend verunmöglichte, als Dokumentarfilmer zu arbeiten, stieß er mit Lördags Chile auch in seiner Wahlheimat Schweden erstmals auf eine Grenze. Seine marxistische Lehrstunde wurde unmittelbar vor der geplanten Ausstrahlung aus dem Programm genommen.
Filmischer Abschluß und für mich eindeutiger Höhepunkt des Programms war Contra la razón y por la fuerza des Mexikaners Carlos Ortiz Tejeda, dem es unter schwierigsten Bedingungen (u. a. wurde er vorübergehend verhaftet) gelang, in Santiago unmittelbar nach dem Putsch zu drehen. Der Film schließt im Hinblick auf Reportaje a Lota einen historischen Rahmen: von der Aufbruchstimmung im Chile vor der Unidad Popular bis zu deren gewaltsamen Sturz. Wie Reportaje a Lota beginnt auch Contra la razón mit Aufnahmen von leeren Straßen, mit Wänden und Mauern, an denen übermalte Parolen und zerrissene Plakate von dem poltischen Umsturz, von der zerrissenenen Geschichte eines Landes zeugen. In den Armenvierteln regiert die Verzweiflung, suchen die Menschen nach verschleppten Angehörigen, kursieren immer neue Geschichten von dem Gefangenen in den provisorischen Konzentrationslagern von denen das Stadio Nacional, in dem bis zu 40.000 Männer zusammen getrieben worden sein sollen, nur das größte war, von den sich immer weiter türmenden Leichenbergen an den Flüssen am Rande der Stadt, wo sich das Militär den Ermordeten notdürftig entledigt. Ebenso beunruhigend sind aber auch die Interviews mit sichtlich verstörten Vertretern der oberen Mittel- und Oberschicht, die den Putsch ohne Abstriche gut heißen und die Gewalt des Militärs strikt verleugnen, weil sie den Beginn eines kollektiven Verdrängungsprozesses gegenüber den Verbrechen der Diktatur, auf Seiten derjenigen, denen sie nützt, zu markieren scheinen. Allerdings endet auch Ortiz Tejedas Film auf einer sehr leise hoffnungsvollen Note. So wird nicht nur das durch die Militärs verwüstete Haus Pablo Nerudas gezeigt, der sich selbst in der Unidad Popular engagierte und einige Tage nach dem Putsch - vermutlich - einem Krebsleiden erlag. Es gibt auch Bilder des Trauerzuges, der einen ersten öffentlichen, wohl nur durch die Anwesenheit internationaler Presse möglichen Protest gegen Pinochet darstellte. Die Trauernden sangen die "Internationale" und entonnierten die Parole: "Camarada Pablo Neruda", "Presente, ahora y siempre".    
Eine Diskussion mit Wüst und Ullrich Gregor, bei der Interessantes unter anderem zur Wahrung des chilenischen Filmerbes durch die Diktatur und darüber hinaus zu erfahren war, rundete diesen gelungenen Abend zur Erinnerung an den anderen 11. September ab, für den man allen Beteiligten nur danken kann.

Reportaje a Lota gibt es übrigens auch bei YouTube zu sehen.

Sonntag, 15. September 2013

Navajo Joe (Sergio Corbucci, Italien, Spanien 1966)

Sergio Corbucci "verdanke" ich eines meiner frühen traumatischen Film-Erlebnisse. Dass es einen Western geben konnte, der nicht nur ausgesprochen unhappy endete, sondern auch für gängige Western-Happy-Ends nichts als Spott und Hohn übrig hatte. Dass die Welt auch im Film so schlecht sein konnte. Dass also am Ende von Il grande silencio (den ich natürlich damals noch unter dem reißerischen deutschen Verleihtitel Leichen pflastern seinen Weg kannte) der böse Klaus Kinski und seine Bande den Helden mitsamt seiner Freundin ermorden, ein Massaker unter den wehr- und schuldlosen Bewohnern eines Dorfes anrichten und anschließend ungestraft davon reiten konnten, das war für mich, im zarten Alter von elf oder zwölf, dann doch etwas viel des Schlechten und hinterließ bleibenden Eindruck.
Zwei Jahre vor Il grande silencio, 1966, hatte sich Corbucci im italienischen Genre-Kino einen Namen gemacht. "Der zweite Sergio" wurde er genannt, weil sein Django, neben den Filmen Sergio Leones wohl der berühmt-berüchtigste "Spaghetti-Western", sprichwörtliche Bekanntheit erlangte, und mehrere - mehr oder minder - offizielle Fortsetzungen und unzählige Rip-Offs nach sich zog.
Wesentlich unbekannter hingegen ist Navajo Joe, der nach dem überragenden Erfolg von Django noch im gleichen Jahr und in den selben Kulissen gedreht wurde.
Die marodiernde Bande um Duncan () tötet willkürlich Indianer, um ihre Skalps für einen Dollar pro Stück an den Sheriff in der nächsten Stadt zu verkaufen. Unter ihren Opfern befindet sich auch die Frau des "Halbbluts" Joe (Burt Reynolds), der nun darauf aus ist, ihren Tod zu rächen. Die Gelegenheit dazu bietet sich ihm, als Duncans Bande plant einen Zug zu überfallen, der eine halbe Millionen Dollar in die Bank des abgelegenen Ortes Esperanza bringen soll. Joe gelingt es, den zunächst von den Banditen entführten Zug in seine Gewalt und nach Esperanza zu bringen. Die Bevölkerung dort ist ohne jeglichen Schutz dem anrückenden Duncan und seine Männern ausgeliefert. Joe erklärt sich bereit, für einen Dollar Kopfgeld für jeden getöteten Banditen, sie zu beschützen. 
Navajo Joe ist für mich, von den (gemessen an einer Filmographie, die - laut IMDb - 63 Titel umfasst, sehr wenigen) Corbuccis, die ich kenne, einer der schwächeren, und sicherlich nicht das Meisterwek, das das DVD-Cover vespricht. Georg Seeßlen schreibt es gebe noch in Corbuccis "miserabelsten Filmen Szenen ..., die von ungeheurem Können zeugen, und umgekehrt noch in seinen besten Filmen solche von übelster Schlamperei". Gerade in der ersten halben Stunde sind die inszenatorischen Kabinett-Stückchen eher rar gesät, die Komposition der breiten Techniscope-Bilder zeugt des öfteren von ziemlicher Unbeholfenheit. Auch dramaturgisch findet der Film erst nach knapp der Hälfte der Laufzeit zu sich, kann die - allesamt tragischen - Geschichten seiner Figuren voll entfalten, während er vorher immer wieder zu einer relativ unmotivierten Aneinanderreihung von Grausamkeiten zu verkommen droht, die Corbuccis bessere Filme, bei aller Härte und allem Zynismus, nie sind. Ein weiteres Problem ist die Hauptfigur, wobei es sich hier genau entgegengesetzt verhält. Richtig "gut" ist Burt Reynolds nur zu Beginn des Films. Wortlos, als Schatten auf einer Bergkette, einer der, vornehmlich in Untersicht gefilmt, ständig lauert, um dann blitzschnell und lautlos zuzuschlagen und systematisch einen nach dem anderen von Duncans Männern zu töten. Wenn es dann jedoch daran geht, aus dieser bedrohlichen Präsenz, diesem geradezu übernatürlich anmutenden Racheengel eine Figur, einen Menschen zu machen, stehen dem Reynolds in seiner ersten Kino-Hauptrolle doch sehr begrenzten schauspielerischen Mittel im Weg. Trotz dem - etwas lächerlich - rot geschminkten Gesicht bleibt er ziemlich blass, und lässt sich von Aldo Sambrell als ebenso bösem wie zerrissenem Antagonisten relativ widerstandslos die Show stehlen. 
Trotz dieser Schwächen ist es sehr erfreulich, dass Koch Media den Film seit einigen Jahren in einer absolut makellosen DVD- und Blu-Ray-Veröffentlichung einem geneigten deutschsprachigen Publikum zugänglich macht. Von filmhistorischer Bedeutung ist er schon deshalb, weil die Figur eines indianischen Racheengels 1966 ein Novum im Genre darstellte - und damit zumindest ein Stück weit auch dem amerikanischen Western vorgriff. Zwar hatte John Ford mit Cheyenne bereits im selben Jahr einen Film gedreht, der sich mit den Leiden des titelgebenden Stammes beschäftigte, der versucht, aus dem lebensfeinlichen Gebiet, in das er umgesiedelt wurde in seine Heimat zurückzukehren, und den Ford selbst als seine Entschuldigung bei den Indianern bezeichnete. Erst um 1970 häuften sich jedoch in den USA Filme wie Soldier Blue, A Man called Horse und Little Big Man, die sich kritisch - und teilweise denkbar drastisch - mit dem Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern auseinandersetzten.
Auch im Schaffen Quentin Tarantinos hat der Film deutliche Spuren hinterlassen. In Kill Bill verwendete er ein Stück aus dem einprägsamen Score von Ennio Morricone (der hier unter dem Pseudonym Leo Nichols arbeitete). Ebenso deutlich sind die Bezüge in Inglourious Basterds. Wie Joe in einer Szene einem Gegner das Emblem seines Stammes mit dem Messer in die Stirn ritzt, so brandmarkten, mehr als vierzig Jahre später, die Basterds die überlebenden Nazis auf die gleiche Weise mit dem Hakenkreuz. Bei Tarantinos jüdisch-amerikanischer Rachephantasie ist die Umkehrung der Gewalt immer auch ein symbolischer Akt, eine Inversion der Zeichen, wie Georg Seeßlen in seinem Buch über Inglorious Basterds ausführlich erläuterte: Auf den Davidsstern am Revers der Juden reagieren die Basterds mit dem Hakenkreuz auf der Stirn der Nazis. "Auf die Bücherverbrennung der Nazis haben wir endlich mit der Verbrennung des Nazi-Films reagiert." Auch das findet sich bereits bei Corbucci angelegt. Joe verlangt als Vorraussetzung dafür, sich Duncan zu stellen, dass er den Stern des Sheriffs bekommt. Unter dem Zeichen des Gesetzes, dass sich am Genozid an den Indianern - mindestens - mitschuldig machte, will er diese rächen. Und auch der Dollar Kopfgeld, den er für jeden getöteten Banditen verlangt ist sehr buchstäblich symbolisch zu verstehen. Der Wertlosigkeit, die ein indianischen Leben für seine Feinde hat, setzt er die "Entwertung" ihres eigenen Lebens entgegen.
Ein denkwürdiger Dialog entsteht, als die Autoritäten von Esperanza Joe den Sheriffs-Stern verweigern wollen mit der Begründung, dass nur ein "rechtmäßiger Amerikaner" dieses Amt bekleiden könne. Joe antwortet: "Mein Vater wurde hier geboren, der Vater meines Vaters, genauso der Vater meines Vaters meines Vaters. Wo wurde dein Vater geboren?" Als der Sheriff nach einigem Zögern zugibt: "In Schottland", erwidert Joe: "Dann bist du kein rechtmäßiger Amerikaner. Nur Amerikaner können das Gesetz und die Gerechtigkeit der Amerikaner schützen." Steffen Wulff schreibt in seinem ausführlichen Text im Booklet der Blu-ray: "Mit dieser intelligenten Argumentation führt Joe das Gesetz und die Selbstgefälligkeit Amerikas ad absurdum - und Corbucci dem Zuschauer vor Augen, dass sein indianischer Held der Stadtbevölkerung nicht nur moralisch, sondern auch intelektuell überlegen ist." Diese Lesart mag, sieht man einmal von dem etwas plumpen Antiamerikanismus und der archaischen Berufung auf das Geburtsrecht ab, zutreffend sein. Corbucci geht jedoch noch ein gutes Stück weiter, indem er nicht nur dem Mythos des Siegs der Zivilisation im amerikanischen Western, die Darstellung des Genozid und einen indianischen Racheengel entgegenstellt, sondern auch diesen Helden selbst gleich wieder, wie es eben seine Art ist, eher kaputt macht als dekonstruiert. Ein guter Wilder ist Joe mitnichten. Mehr noch als bei Leone spiegelt bei Corbucci der "Gute" den "Bösen" und beide gleichen sich nicht zuletzt darin, dass sie ziemlich "häßliche" Dinge tun, um ihre Ziele zu erreichen. Wie Joe ist auch Duncan Mestize, und wo der Protagonist die Gewalt gegen sein Volk rächen will, tötet der Antagonist aus Hass auf seine beiden Eltern relativ beliebig Indianer und Weiße. Gut ist keiner von beiden. Nur wild.
Corbuccis Western zelebrieren die Gewalt, aber sie weigern sich strikt, sie zu instrumentalisieren - für welche Seite auch immer. Die Boshaftigkeit der Figuren macht dem Regisseur immer wieder sichtlich Spaß, doch es findet sich nirgendwo eine große Erzählung hinter ihr, die sie rechtfertigen würde. Der "guten Sache" des nation building im amerikanischen Genre-Kinos setzt Corbucci Figuren entgegen, die aus reinem Partikularinteresse handeln. Sie wollen sich rächen und sich bereichern - und fast immer schwingt dabei auch ein gehöriger Teil Sadismus mit.
Doch Corbucci geht nochmal ein Stück weiter. Im furiosen Finale töten Joe und Duncan sich gegenseitig und im Sterben schickt Joe sein Pferd mit der halben Millionen Dollar zurück nach Esperanza. Was aus Joe geworden ist, ist den Bewohnern vollkommen gleichgültig, wie einer von ihnen unverhohlen bemerkt. Hauptsache, das Geld ist da. Die Wilden sind immer noch besser als die Zivilisation, der sie Platz machen. Rache ist für Corbucci immer noch ein "edleres" Motiv als reines Streben nach Besitz. Dieses Ende mag nicht ganz so schockierend sein wie das von Il grande silencio, aber es ist - mindestens - genauso zynisch. Zumal, wenn man den Namen des Dorfes bedenkt. Das ist also von der Hoffnung auf eine neue Welt geblieben - laut Sergio Corbucci. 

Mittwoch, 11. September 2013

Meine erste Nachtschicht...

...oder: Das taktile Kino des Signor Argento


Schon lange hatte ich vor, die u. a. von Thomas Groh kuratierte Filmreihe "Die Nachtschicht" zu besuchen, bei der es an jedem ersten Samstag im Monat "Abseitiges und Abscheuliches" (Groh) im Babylon in Mitte zu sehen gibt. Anlässlich der Veröffentlichung des Buches Dario Argento Anatomie der Angst, der ersten Sammlung von Aufsätzen und Essays in deutscher Sprache, die sich ausschließlich mit dem Schaffen des italienischen Horror- und Giallo-Meisters beschäftigt, gab es diesmal ein Argento-Special. Angekündigt war ein Überraschungsfilm, jetzt darf ich wohl verraten, dass es sich um Tenebre von 1982 handelte, so großzügig wie humorvoll eingebetet durch einen Vorfilm, eine Einführung zum Regisseur und die Präsentation eines Spezial-Gasts. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen - zumal es mir die Möglichkeit gab, erstmals einen Argento auf großer Leinwand zu sehen und zwar, der Maxime der Reihe entsprechend, als 35mm-Kopie. 
In seiner Einführung betonte Jochen Werner das Sinnliche an Argentos Kino. Die Sinnlichkeit in den auditiven und visuellen Exzessen des Regisseurs bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterung. In Tenebre ist mir aber diesmal, wie auch schon bei vorigen Sichtungen, eines besonders aufgefallen: Die Konzentration auf Texturen, die - nicht nur aber besonders - während der ausufernden Kamera-Fahrten ertastet werden. Argentos Kino lässt sich also auch, zumindest in Tenebre - seine anderen Filme müsste ich erneut sehen, um beurteilen zu könne, wie es sich dort verhält - als ein sehr taktiles Kino beschreiben. Die Hervorhebung spezieller Texturen zieht sich durch den gesamten Film: von dem brennenden Holz im Vorspann über das Rasiermesser von dem Blut abgewaschen wird bis zu den Autoscheiben im strömenden Regen gegen Ende. Die wichtigste Szene in diesem Hinblick, und gleichzeitig die einzige, die mir nach etlichen Jahren, in denen ich den Film nicht gesehen habe, noch deutlich in Erinnerung geblieben ist, ist eine Plansequenz im ersten Drittel des Films. Der Killer mit den schwarzen Handschuhen hat es diesmal auf ein lesbisches und momentan ziemlich zerstrittenes Paar in ihrem protzig-futuristischen Eigenheim abgesehen. Die Kamera nähert sich zunächst einem Fenster des Hauses, in dem das Gesicht einer der beiden Frauen zu sehen ist, dann gleitet sie nach oben an der Fassade empor bis zum Dach, tastet sich vorwärts, erfühlt auf ihrem Weg Beton, Sandstein, das verwitterte Holz der Jalousien, Dachziegel, erforscht durch die Fenster die Tiefe der Räume und vom Dach hinab die des Hofes, zieht sich dann wieder zurück, um ihren Weg am Haus entlang fortzusetzen, bleibt schließlich an der Jalousie eines Fensters stehen, links unten kommt ein Bolzenschneider ins Bild, der die Jalousie aufschneidet. Dann gibt es einen Schnitt ins Innere des Hauses, wieder auf die Frau. Der verschachtelte, auch bei mehrmaligem Sehen kaum genau nachvollziehbare Weg der Kamera steht sowohl in Beziehung zur verwinkelten Architektur als auch zu den sich gegen Ende häufenden immer abstruseren plot twists des Films. Andreas Rauscher schreibt in seinem Aufsatz über Tenebre, dessen Dramaturgie "realisiert in ihrem Wechselspiel aus atmosphärischen Abschweifungen und abrupten Plot-Points ein erzählerisches Äquivalent zu den ausladenden Kamerafahrten."
Für mich bildet diese Szene aber zugleich einen Höhepunkt in dem Versuch des Films, Texturen filmisch erlebbar, also erfühlbar zu machen. Ausgangs- und Endpunkt der Fahrt bildet der menschliche Blick, der point of view des Killers, an den sich der Kamera-Blick allerdings eher herantastet als wirklich mit ihm eins zu werden. Die Bewegung, die dazwischen liegt transzendiert das menschliche Sehen nicht zuletzt dadurch, dass es sie mit dem Tastsinn kurz schließt, die Kamera "sieht" und "tastet" zugleich. Wo die Kamerafahrt eigentlich die Dramaturgie des Films eher unterbricht als sie voranzutreiben (betrachtet man die starke Sexualisierung der Morde bei Argento einerseits, die Tatsache, dass jeder einigermaßen geübte Zuschauer schon bei Beginn der Einstellung weiß, was passieren wird andererseits, könnte man sie als mehrminütige Lustverzögerung deuten) bringt sie dem Film doch einen Mehrwert, indem sie ein eigenständiges Grauen der Textur schafft. Kalt und abweisend sind diese Oberflächen wie die Architektur, zu der sie sich zusammensetzen, eine menschenfeindliche Umgebung, auf die passt, was Walter Benjamin über die bürgerlichen Wohnungen des späten 19. Jahrhunderts schrieb: "Die seelenlose Üppigkeit des Mobilars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam."  
Schließlich im Finale gesellt sich zu diesem Grauen der Textur eine spezifische Textur des Grauens. Eine Frau verwandelt mit der aus dem Stumpf ihres abgehackten Arms spritzenden Blutfontäne eine Wand in eine Art Action-Painting, schafft so ein sehr texturbetontes "Kunstwerk", wie es der Film selbst ist. Der (zweite) Killer wird in der letzten Szene von einem spitzen Stab, Teil einer Skulptur, aufgespießt, der ihm durch den Bauch bis in die Wand hinter ihm dringt. Im Todeskampf versucht er sich diesen aus dem Leib zu ziehen, doch seine Hände gleiten an dem polierten Stahl ab wie dem Zuschauer zuvor immer wieder der Plot in seinen absurden Volten entglitt. Die Textur bietet keinen Halt mehr. Dann schreit Daria Nicolodi - und der Film ist vorbei. 



Freitag, 6. September 2013

Julia X (P. J. Pettitte, USA 2011)

SerienkillerInnen

"Let's just keep this physical." sagt an einer Stelle der Serienkiller zur Serienkillerin. Und der Film, das ist seine große Stärke, hält sich über weite Strecken streng an diese Maxime.
"Keeping it physical" heißt zunächst: Scheiß auf Exposition! Vergiß Figuren, Psychologie, Glaubwürdigkeit und, wenn wir schon mal dabei sind, auch jede herkömmliche Spannungsdramaturgie! Vor dem Vorspann sehen wir eine Frau, Julia (Valerie Azlynn) heißt sie, auf einem Date mit einem Mann (Kevin Sorbo), der keinen Namen hat ("The Stranger" nennt ihn der Abspann). Die beiden haben sich per Internet verabredet und Julia scheint es zunächst so zu ergehen, wie es Frauen, die fremde Männer im Internet daten, in dieser Art von Filmen nun mal ergeht. Während der Credits werden wir dann informiert, dass ein Serienkiller umgeht, der die Frauen, die er ermordet, im Internet kennenlernt und der ihnen ein X auf die Haut brennt. Das ist alles, was wir an Informationen brauchen, um durch die erste halbe Stunde und zur entscheidenden Volte zu kommen: Julia selbst war nämlich im Internet ebenfalls auf Männerjagd - und das nicht im übertragenen Sinne. Auch sie zielt darauf ab, ihre Online-Bekanntschaften, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Jessica (Alicia Willis Leigh), zur Strecke zu bringen. Hat sich das Blatt einmal gewendet, befindet sich der Mann zum ersten Mal vollständig in der Gewalt der beiden Frauen, ist die restliche Stunde des Films Show-Down.
"Keeping it physical" bedeutet hier auch die despektierliche Subgenre-Bezeichnung sadomasochistisch beim Wort zu nehmen - und sie sich gleichzeitig stolz auf die Fahnen zu schreiben. Torture porn? Na logo! Nicht nur werden in Julia X die Metzeleien zwischen dem Figurentrio so ungeniert wie offensichtlich als sexueller Akt inszeniert, als flotter Dreier mit Hämmern und Nageln, Stechen und Gestochenwerden bis das Blut an die Kamera spritzt. Der Film ist auch vollkommen schamlos im Bezug auf seine Intention, macht keinen Hehl daraus, dass das Publikum in allererster Linie Spaß haben, ihm die zunehmende Versehrtheit der Körper der Figuren zum Lustgewinn gereichen soll. Die "Porno-Haftigkeit" wird noch augenzwinkernd unterstrichen in einer Szene, in der Jessica in einer typischen Porno-Situation einen vierten Mann ins Haus lockt. Der, ein ziemlicher Milchbubi noch, kann mit dem Foltersex für Fortgeschrittene allerdings gar nichts anfangen, weshalb er bald und einigermaßen unversehrt wieder gehen kann. Natürlich hat dieses Bekenntnis des Films zur "Gewalt-Pornographie" und der sadistischen Freude, die sie bringen soll, etwas ziemlich zynisches, es ist im Vergleich zu der Verlogenheit, mit der viele Genre-Vertreter ihre Exzesse in reaktionäre Moralvorstellungen hüllen aber vor allem eins: erfrischend ehrlich.   
Seine Schwächen hat der Film überwiegend dort, wo er seinen entscheidenden Vorsatz, sich ganz auf's Physische zu beschränken, immer wieder doch nicht einhält. Material für psychoanalytische und/oder feministische Deutungen bietet er durchaus - und wohl auch mit voller Absicht - einiges. Nur: Man täte ihm wahrlich keinen Gefallen, würde man sich darauf einlassen. (Besonders schrecklich sind die Flashbacks in die Kindheit der beiden Schwestern. Fertigteile aus dem Drehbuch-Baukasten. Zum Glück kommen solche Entgleisungen schon rein quantitativ so kurz, dass man getrost über sie hinwegsehen kann.) Auch kommt das Ende, die finale Pointe, mit der offensichtlichen Absicht, geballte, nun ja, Star-Power in Form eines Ving Rhames-Cameos zu bieten, und gleichzeitig den Weg für ein Sequel zu ebnen, reichlich platt daher.
Ein Meisterwerk oder ein Meilenstein ist Julia X  sicherlich nicht. Aber ein kleiner, unterhaltsamer und fieser Genre-Film, der unprätenstiös ist, ohne dumm zu sein, an politischen Korrektheiten aller Art gänzlich uninteressiert, ohne reaktionär zu werden. Um sich vom öden Einerlei gängiger Folter-Horror-Konfektionsware so weit wie wohltuend abzuheben, reicht das allemal.  

Donnerstag, 5. September 2013

Fantasy Filmfest 2013: Und sonst?

Ziemlich gerne mochte ich die erste Hälfte von Rob Zombies The Lords of Salem. Der Musiker/Filmemacher/Comicautor setzt seine Gemahlin Sheri Moon Zombie als "traurige Frau", so nennt sie ein Priester im Film einmal, in Szene. Sheri Moon Zombie mit Brille, Dreadlocks und volltätowiertem Körper. Scheri Moon Zombie, die nackt auf dem Bett liegt und offenbar überhaupt keinen Bock hat, aufzustehen. Sheri Moon Zombie als Schatten mit Hund im gleißenden Neon-Licht der Straßenlaternen. Sheri Moon Zombie, die mit einem Arbeitskollegen in ihrer Küche zu Venus in Furs tanzt (mit The Velvet Underground und Lou Reed hat man mich ja sowieso immer voll auf seiner Seite.) Sheri Moon Zombie, dann später, wie sie, vom Verlauf der Ereignisse des Films sichtlich aufgezehrt, auf dem Bett sitzt und Heroin raucht. Zu Zombies bisherigem filmischen Werk läuft The Lords of Salem also zunächst gleich doppelt quer: Zum einen, weil dem Hang des Regisseurs zum Ensemble-Film hier die Konzentration auf eine einzelne Figur entgegensteht, zum anderen, weil er, sonst eher für's Grobe und Laute bekannt, hier zunächst einen leisen und melancholischen Film inszeniert, in den sich erst ganz langsam der gewohnte Zombie'sche Exzess, auch wenn er sich im Prolog in Form von bizarren Hexenritualen bereits ankündigt, einschleicht. Das Finale, in dem sich Zombie dann ganz seinen deliranten blasphemischen campig-satanistischen Bilderwelten hingibt, die bei aller Offensichtlichkeit der Referenzen doch etwas sehr Eigenes haben, kommt dann etwas kurz - wie vieles, ja, so ziemlich alles in diesem Film außer: Sheri Moon Zombie. Auch könnte man durchaus fragen, ob sie - Familienbande aside - wirklich die richtige für die Rolle der nicht nur traurigen, sondern auch zunehmend zerfallenden Frau ist. Dass das eine oder andere Bild, die eine oder andere Szene in Erinnerung bleibt, dass der Regisseur zumindest versucht sich selbst treu zu bleiben und dabei doch neue Wege zu gehen, auch wenn's ihm nicht so wirklich gelingen mag, ist das, was einen insgesamt doch eher mittelmäßigen Zombie dann immer noch ein gutes Stück über gängiges Genre-Mittelmaß hebt.  
Die beiden anderen Filme, die ich neben den schon ausführlicher besprochenen noch gesehen habe, widmen sich jeweils verschiedenen Bereichen der Filmgeschichte, an denen sich unsere Retro-Kultur in der unmittelbarsten Vergangenheit vermehrt abarbeitet. Pablo Berger inszeniert mit Blancanieves eine ins Torrero-Millieu verlegte Version von Schneewittchen als Stummfilm, Federico Zampaglione mit Tulpa einen Giallo.
Berger hält sich einerseits sehr streng an die Vorgaben des Formats. Also nicht nur Schwarzweiß, Seitenverhältnis 1,33:1, Zwischentitel, sondern auch, im Gegensatz zu dem ja schon in der Anlage grundverschiedenen Tabu, aber auch dem zumindest ähnlicheren The Artist, beide ebenfalls von 2012, der ja den Übergang vom Stumm- zum Ton-Film nicht nur inhaltlich behandelt, sondern auch formal mit den Formaten spielt, vollständiger Verzicht auf gesprochene Sprache. Andererseits ist der Film so frei in seinem Umgang mit (pop)kulturellen und (film)geschichtlichen Verweisen, dass dieses streng durchgehaltene Format kaum mehr ist, als ein Zitat unter vielen - angefangen bei den Grimm-Brüdern über recht eindeutige Bezüge zu verschiedenen Tonfilm-Klassikern bis zur Umdeutung der bösen Stiefmutter als Domina. Interesant ist dabei der Umgang mit dem Märchen. Nicht nur streicht der Film alles Übernatürliche aus der Handlung: den Spiegel der bösen Stiefmutter gibt es zwar, da dieser aber stumm bleibt, muss die Zeitung verraten, dass die verhasste Stieftochter noch am Leben ist, und der Kuss, der die ewig Schlafende zum Leben erwecken soll - dass der aus einem anderen Märchen stammt, stört Berger herzlich wenig - ist hier, eine der bösen Pointen, an denen der Film nicht arm ist, nur noch Jahrmarktsnummer mit unübersehbarem nekrophilen Touch. Er kehrt auch das übliche Verhältnis von Film und Märchen um: Während sich der Film immer wieder beim Fundus der Motive und Figuren der Grimm'schen Märchen bedient, dreht Berger eine Märchenverfilmung, die immer wieder auf die Filmgeschichte anspielt - von Tod Brownings Freaks bis zu Robert Aldrichs What ever happened to Baby Jane? Ob es Berger dabei um mehr geht als zu zeigen, dass man auch 2012 noch einen spannenden und unterhaltsamen Stummfilm drehen kann, sei dahingestellt. Immerhin gelingt ihm das über weite Strecken recht gut und man merkt, dass er eine Idee hat, was er mit seinem Material anfangen kann und will.
Beides geht Federico Zampaglione in Tulpa ab. Der dreht einfach einen Giallo. Punkt. Also gibt es nicht nur einen Killer mit schwarzen Handschuhen, der in ebenso artifiziell wie bunt ausgeleuchteten set pieces Frauen auf recht blutige Weise ins Jenseits befördert, sondern auch noch okkultistischen Gruppensex und esoterischen Unfug auf Glückskeks-Niveau. Der etwas konfuse Plot, der das alles zusammen halten soll, wird am Ende zwar, sagen wir, nicht wirklich zwingend, dafür aber gleich doppelt aufgelöst. Das ist wohl in etwa die abstruse und irrwitzige Mischung, die viele "echte" Gialli tatsächlich auszeichnete. Nur: Wie kann ein Film funktionieren, in dem das, was sich eben früher aus einer Mischung aus unbedingtem Stilwillen und widrigen Produktionsbedingungen "natürlich" ergab, zum durchgestylten Konzept erhoben wird? Glaubt Zampaglione tatsächlich, den teilweise beträchtlichen Charme, den die Billigproduktionen von Gesterntag bisweilen haben, in einem dann doch eindeutig gegenwärtigen Film einfach nachmachen zu können, ohne irgendwie zum Nachgemachten oder dem Akt des Nachmachens Position zu beziehen? Oder, anders gefragt: Was soll der Scheiß?       
 Gerne hätte ich mehr gesehen als die fünf Filme, die ich letzlich gesehen habe, zumal qualitativ nach oben durchaus Luft gewesen wäre. Schade auch, dass ich Johnny Tos Drug War aus meiner Liste gestrichen habe, über den es ja einiges Gutes zu lesen gab (siehe: hier, hier und hier).