Freitag, 12. Dezember 2014

Lluvia (Paula Hernández, Argentinien 2008)

Lluvia habe ich das erste Mal im FSK gesehen, ohne vorher irgendetwas über ihn zu wissen. Die freudige Überraschung über diesen zugleich absolut unaufgeregten und doch eindrücklichen kleinen Film machten das zum wohl schönsten Kinoerlebnis 2011.
Es ist gut möglich, dass meine Begeisterung für den Regen im Kino maßgeblich von diesem Film ausgeht. In Lluvia ist es als würde nicht nur der Schauplatz, Buenos Aires, aus dem Regen Kontur annehmen, aus Lichtern hinter der verregneten Windschutzscheibe langsam zusammenfließen, im Rhythmus der Scheibenwerfer Gestalt annehmen, um sich sogleich wieder zu verflüchtigen, oder genauer: zu verflüssigen, sondern das gleiche scheint auch für die beiden Hauptfiguren des Films zu gelten und für die Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickeln wird.
Zu Beginn sitzt eine Frau alleine in ihrem Auto und fährt durch eine verregnete Großstadtnacht. Als sie im Stau stehen bleibt, steigt plötzlich von draußen, aus dem Regen ein fremder Mann zu ihr ins Auto. Das bedrohliche Moment an dieser Situation hält nur einige Sekunden vor. Schnell wird klar, dass der verletzte Mann vor etwas auf der Flucht war und nur einen Unterschlupf suchte. Nach und nach kommen die beiden ins Gespräch und einander ganz allmählich näher.
Was Alma (Valeria Bertuccelli)  und Roberto (Ernesto Alterio) eint, ist das sich beide in einer Umbruchphase in ihrem Leben befinden. Roberto lebt seit seiner Kindheit in Madrid, wo er Frau und Kind hat. In seine Geburtsstadt Buenos Aires kam er, weil sein Vater im Sterben liegt.
Alma hat ihren Mann verlassen und wohnt seitdem in ihrem Auto, mit dem sie unermüdlich durch die Stadt fährt.
Es ist ein beständiges Spiel von Anziehung und Abstoßung, das sie von den ersten gemeinsamen Momenten an zu verbinden scheint. Nach und nach gibt jeder ein wenig von sich preis, dann gibt es harte Worte, einen Konflikt und eine vorübergehende Trennung. Die Dynamik, die diesem langsamen Ertasten des Gegenübers und der Bereitschaft, sich ihm anzuvertrauen zu Grunde liegt, ist wohl ein Konflikt, nicht so sehr zwischen den beiden als in jedem selbst. Es geht um ein Austarieren der Hemmung, einem Wildfremden die eigenen intimen Geheimnisse und Dilemmata mitzuteilen gegen das Verlangen, in der schwierigen und einsamen Situation, in der sie sich gerade befinden, nicht alleine zu sein. Die Arten mit ihren jeweiligen Gefühlen umzugehen variieren. Während Alma mehrmals unvermittelt in Tränen ausbricht, muss bei Roberto schon ein Klavier aus dem Fenster fliegen, um von seinem Vater, der Musiker war, Abschied zu nehmen und sich zugleich der eigenen Herkunft zu stellen.
Bei der langsamen und schwierigen Annäherung zwischen zwei Menschen, von der der Film erzählt, ist die Sicht des Zuschauers die ganz subjektive der Figuren. Wie sie den jeweils anderen, lernen auch wir sie Stück für Stück kennen. Nach und nach bekommen sie einen Namen, eine Geschichte, einen Charakter, bis wir schließlich wissen, wie sie in die Situation kamen, in der sich ihre Wege kreuzten. Durch diese behutsame Art des Erzählens, scheinen die Figuren im beständigen Werden begriffen zu sein, sich ganz langsam vor unseren Augen zu entwickeln.
Der Film steuert zu auf die Sex-Szene im Auto, die für Alma und Roberto nicht den Beginn, sondern das Ende ihrer Beziehung markiert. Von der Ansicht der Gesichter, die, wie immer wieder in diesem Film, durch die verregneten Scheiben zu sehen sind, kommt ein Schnitt ins Innere des Autos. Auf die beiden Liebenden, die einige Momente der Zärtlichkeit und Geborgenheit, der Sicherheit vor dem Regen finden. Der Film findet dann zu einem gar nicht verhaltenen Happy End mit einigen statischen Einstellungen von den Orten, an denen sich die beiden aufgehalten haben, nun menschenleer und dem Close-Up von Valeria Bertuccellis Gesicht, das ein paar Sonnenstrahlen abbekommt.
Bei der mehrmaligen Sichtung fragte ich mich kurz doch, ob der Film sich seiner verregneten Atmosphäre, bestärkt durch melancholische und sphärische Synthesizer- und Klavierklänge, nicht doch etwas zu sicher ist, zu berechnend wirkt. Alles in allem überwiegt jedoch die Freude an der Einfachheit mit der hier eine an sich ziemlich komplizierte kleine Liebesgeschichte erzählt wird, die die Vergänglichkeit nicht fürchtet, sondern sich ihr stellt und sie umarmt.

Dienstag, 9. Dezember 2014

Foxcatcher (Bennett Miller, USA 2014)

"Sieger im Sport, Gewinner im Leben und aufrichtige Bürger der USA", lautet die Trainer-Philosophie von John du Pont. Zu Beginn machen weder seine sportlichen Erfolge noch seine Aufrichtigkeit aus Mark Schultz einen Gewinner. Die Goldmedaille, die er im Ringkampf bei den olympischen Spielen 1984 holte, kommt in einen Schrein voll anderer Trophäen in seiner kargen, eher ärmlichen Wohnung. Der Himmel ist grau, die Straßen schimmern regennass und die Breitbild-Fotografie scheint vor allem dazu bestimmt, weite Räume zu schaffen, in denen sich die Einsamkeit, die Isolation zeigt, in der Mark (Channing Tatum) lebt. Das Einlösen eines Schecks über 20 Dollar steht auf der Tagesordnung und Instant-Nudeln stehen auf dem Speiseplan. Außerdem trainiert er weiter unermüdlich den Sport, der ihm offenbar kein großes, sonders bislang eher ein ziemlich tristes Leben beschert hat.

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Montag, 24. November 2014

Timbuktu (Abderrahmane Sissako, Frankreich, Mauretanien 2014)

Eine Gazelle rast durch die Wüste. Sie flüchtet vor vermummten Männern, die sie von einem Jeep aus mit ihren Kalaschnikows jagen. Danach machen die Männer Schießübungen auf traditionelle afrikanische Masken und Statuen. Die Kamera streicht über das zersplitterte Holz. Für die Unterwerfung, die Zerstörung einer Kultur durch eine andere findet der Filmemacher Abderrahmane Sissako schon in den ersten Szenen seines vierten abendfüllenden Spielfilms sehr eindrückliche Bilder. "Timbuktu" spielt in der gleichnamigen Stadt, die von islamischen Fundamentalisten besetzt wurde. Auch wenn die Gewalt erst in der zweiten Hälfte des Films direktere, physischere Formen annehmen wird, ist sie doch von Anfang an allgegenwärtig - wie die Schnellfeuergewehre der Besatzer und ihre Verbote. Musik ist verboten. Zigaretten sind verboten. Fußball spielen auch. Die Frauen müssen sich auf der Straße nicht nur verschleiern, sondern auch, entgegen ihren Traditionen und bei der Arbeit oft sehr hinderlich, Handschuhe und Strümpfe tragen. Gegen erzwungene Hochzeiten mit den Besatzern sind sie relativ machtlos.

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Dienstag, 11. November 2014

Fingers (James Toback, USA 1978)

Ein Blickwechsel durchs Fenster. Harvey Keitel sieht Tisa Farrow an, die ihn von der Straße aus beim Klavierspielen in seiner Wohnung beobachtete. Ein Blickwechsel, Schuss und Gegenschuss, sind alles, was es braucht, damit Keitel der Frau verfällt, oder eher: seiner Idee von ihr. Den Kassettenrecorder, aus dem "Summertime, Summertime" plärrt im Arm, spricht er sie an: "You like all kinds of music, huh? So do I." Was er in ihr sucht ist eine tiefe Übereinkunft. Eine Verwandtschaft der Seelen in der Zerrissenheit, die ihren Ausdruck in einem eher disparaten als vielfältigen Musikgeschmack findet. "All kinds of music", das heißt für ihn: Bach und The Jamies, Piano und Ghettoblaster.
Jimmy Fingers (Keitel) ist der Sohn eines kleinen italienischen Gangsters und einer jüdischen, Klavier spielenden und psychisch kranken Mutter. Dass diese Eltern beide dicht am Klischee und der Karikatur gebaut sind, vergrößert nur das Dilemma des Sohnes, seine von vornherein tragische Aufgabe, inmitten dieser Identifikationsangebote zu einer eigenständigen, "ernst zu nehmenden" Persönlichkeit zu werden. Während Jimmy sich einerseits als brutaler Geldeintreiber für seinen Vater verdingt, strebt er andererseits eine Karriere als Konzertpianist an.
Die unüberwindbaren Risse in dieser Person geht der Film durch in Jimmys Beziehung zu Carol (Farrow), der Frau, für die er eine regelrechte Obsession entwickelt, ohne sie doch wirklich zu kennen oder zu verstehen. Der Frau, in der er eine Verwandtschaft sucht, die es doch nur in seiner Vorstellung gibt, die eine reine Projektion ist, seine Projektion. Gleich zu Beginn, wenn sie sich auf der Straße zu ihm umkehrt, ihn das erste Mal direkt ansieht, zuckt er zurück. In seinen Zügen wird eine unvermittelte Angst vor der Frau sichtbar. Wenig später die Szene in der Wohnung/dem Atelier Carols. Ein stürmischer Kuss, ein einander Kennenlernen, ein langsames Ertasten des Gegenübers. Doch zu einer Zusammenkunft führt das gerade nicht. Die eine Einstellung, in der James Toback und sein Kameramann Michael Chapman diese Szene auflösen, endet mit den Beiden, die nebeneinander stehen, den Rücken zur Kamera und ihre Spiegelbilder vor sich.
Im tollen Audiokommentar der DVD sagt Toback, dass Keitel Jimmys Sexualität darstellt mit der Unsicherheit eines Mannes, der nach einer sexuellen Identität sucht, die er vielleicht nie finden wird, der nicht weiß, ob er die Rolle des Vaters oder der Mutter einnehmen soll, nicht weiß "rather he's an asshole or a dick."
Dieses Scheitern am Finden einer - nicht nur sexuellen - Identität wird für Jimmy die Gestalt einer fortwährenden Abfolge von Erniedrigungen und Niederlagen annehmen.
Da ist die Szene, in der er die Freundin eines Schuldners seines Vaters zu einem Quickie im Bad  verführt. So dicht wie Verführung und Vergewaltigung in dieser Szene beieinanderliegen, so wenig scheint Jimmy dabei jemals in seinem Element zu sein. Sein Charme will viel zu ungestüm an ein Ziel, das ihm keine Freude bereitet. Der Sex wird eher zu einem Kraftakt als einer lustvollen Angelegenheit.
Wenn Toback auf diese Szene die beim Urologen folgen lässt, der Jimmy einer Prostatauntersuchung unterzieht, dann lässt er seine Hauptfigur per Finger im Arsch nicht nur vom Subjekt zum Objekt der Penetration werden, es folgt auch eine weitere sexuelle Qual. Jemand mit Jimmys Biographie, so scheint es, kann nur immer wieder neu, aber immer wieder "falsch" gegendert werden.
Dann ist da das Vorspielen am Klavier. Eine weitere Niederlage. Jimmy kann nicht, wenn jemand guckt. Keine seiner beiden Seiten hat die Möglichkeit, sich frei zu entfalten. Jeder Weg, den Jimmy nimmt, scheint sich als neue Sackgasse herauszustellen.
Schließlich der Höhepunkt der Erniedrigungen mit Carol, bei deren Lover Dreems (Jim Brown). Zu viert mit einer anderen jungen Frau in einem Hotelzimmer. Die beiden Frauen mit dem Alphamann, der Jimmy nie sein wird, beide liebkosen Browns Brustwarzen, während Jimmy nicht nur das fünfte Rad am Wagen zu sein scheint, sondern auch das ewige Kind, das nicht erwachsen werden, sich von den Eltern lösen kann, verdammt in die Rolle des ewigen Beobachters in der Urszene.
Dann der finale Racheakt, der zeigt, wie der Vater über seinen Tod hinaus Macht über Jimmy hat. Die Kastration des Feindes als ein letzter homoerotischer Akt einer Sexualität, die keinen anderen Ausdruck als die Gewalt finden kann.
James Toback legte mit Fingers 1978 sein Regie-Debüt vor. Zu der Zeit also als das Neue Hollywood langsam alt wurde und einige der Regisseure, die es hervorgebracht hatte mit ihren Blockbustern seinen Untergang einläuteten. Im amerikanischen Kino der Siebziger wirkt Fingers wie ein Nachzügler, der dennoch einiges an neuen Talenten beförderte. Neben Toback etwa auch den Kameramann Chapman, der wenig später Scorseses Raging Bull fotografieren sollte.
Natürlich kann man dem Film einiges vorwerfen. Etwa seine Diskurslastigkeit im allgemeinen oder die Überdeutlichkeiten im Hinblick auf die sexuelle Ambivalenz und die Impotenz des Protagonisten im besonderen. Wo Keitels und Farrows Hauptfiguren mit der richtigen Dosis an Abgründigkeit ausgestattet sind, kommen die Nebenfiguren doch deutlich klischierter daher, am Störendsten vielleicht in Browns Darstellung des hyperpotenten, schwarzen Mannes.
Im Kern aber nimmt Fingers die Tragik seiner Hauptfigur ernst und verteidigt sie gegen die Lächerlichkeit. Und Hervey Keitel verleiht seiner Figur Gewicht, brilliert in der Rolle eines Mannes, der nie ganz aufgeht in den Rollen, die ihm sein Leben zuweist, der in der Welt, die ihn umgibt, daran scheitern muss, dass er sich keine dieser Rollen wirklich zu eigen machen kann.  
Die letzte Einstellung zeigt, wie die erste, Keitel am Klavier, nun vollständig nackt. Wartend. Er spielt nicht mehr, sondern blickt kauernd ins Leere, zu der Stelle, an der am Anfang Farrow stand. Es gibt für diesen Mann keinen Ausweg mehr. Keine Bezugspunkt außer dem leeren Bürgersteig, dem Asphalt und der Kamera, die ohne falsches Mitleid auf den Mann blickt, dessen Schicksal doch von Anfang an besiegelt schien.   

Montag, 10. November 2014

Sils Maria (Olivier Assayas, Frankreich, Schweiz, Deutschland 2014)

Vielfältige Maskierungen

Olivier Assayas macht ein "internationalistisches" Kino. Nicht nur, weil er, wie so viele ambitioniertere Filmemacher der Gegenwart, auf internationale Geldgeber angewiesen ist, sondern auch weil seine Figuren immer wieder im höchsten Maße polyglott und mobil sind. "Carlos", in dem alleine die Titelfigur fünf Sprachen spricht und sich zwischen gefühlten hundert Schauplätzen hin und her bewegt, bildet nur einen Höhepunkt dieser Tendenz. So sprach schon die Protagonistin in "Clean" (2004), eine abstinente Süchtige, in Kanada, Paris und London Kantonesisch, Französisch und Englisch. Es scheint, dass es in der Welt des Olivier Assayas, in der die Herkunft eine immer geringere Rolle spielt, eine - gar nicht zwangsläufig negativ gedachte - "Entwurzelung" um sich greift, umso bedeutender ist es, zu einer klaren Position in der eigenen Biographie zu gelangen. Pathetisch könnte man sagen, dass Assayas' ProtagonistInnen angesichts des Verlustes der "Heimat" keine andere Wahl haben, als sich selbst zu finden.    
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Samstag, 1. November 2014

Fading Gigolo (John Turturro, USA 2013)

Sexual Healing

John Turturro spielt einen Gigolo. Woody Allen seinen Zuhälter. Zur ebenfalls rapide gealterten Kundschaft gehört unter anderem Sharon Stone. Dass diese Grundkonstellation in ihrer Durchgeknalltheit allzu berechnend auf die Zielgruppe zugeschnitten daher kommt, ist noch eines der kleineren Probleme von "Fading Gigolo", der fünften Regiearbeit Turturros, der als Darsteller unter anderem aus verschiedenen Filmen der Coens und Spike Lees bekannt ist. Wesentlich heikler ist da schon die Tatsache, dass man nach den 98 Minuten des Films relativ ratlos ist, was genau er mit dieser Prämisse eigentlich vorhatte. Was Sie schon immer über männliche Prostitution wissen wollten … erfahren Sie hier jedenfalls nicht.
 
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Mittwoch, 22. Oktober 2014

Toter Mann (Christian Petzold, Deutschland 2001)

Achtung: Spoiler!!! Ich habe mir Toter Mann binnen weniger Wochen zweimal angesehen. Da seine Wirkung vollkommen anders ist, wenn mensch die Wendungen in der zweiten Hälfte kennt, ich aber gerade über diese Wirkung hier schreiben will, rate ich jedem, der ihn noch nicht gesehen hat, ihn sich vor der Lektüre dieses Textes anzuschauen. Es lohnt sich!

Lukas Foerster hat über Phoenix geschrieben, man könne den Film als ein "Resümee des bisherigen Werks Petzolds betrachten." Tatsächlich findet sich das Motiv der Inszenierung einer Beziehung schon in Toter Mann, seinem faszinierenden Fernsehfilm von 2001. Wo in Phoenix aber - zunächst - der Mann die Fäden hält, Regisseur der Inszenierung ist, in der die Frau (Nina Hoss) zur Doppelgängerin ihrer selbst wird, ist es hier der Mann, der auf die Inszenierung einer Frau (ebenfalls Nina Hoss) hereinfällt.
Da sind also zu Beginn ein Mann und eine Frau, die so einsam sind, wie man in der menschenleeren städtischen Einöde, die Stuttgart in diesem Film ist und in seinen spröden, klaren, kalten Einstellungen nur einsam sein kann. Er, Thomas (André Hennicke), ist Anwalt. Sie, Leyla (Hoss), arbeitet zunächst in einem Callcenter. Das ist wichtig, weil Petzold die Entfremdung, die er zeigt sicherlich nicht zuletzt von einer heutigen Dienstleistungs-Arbeitswelt her denkt. So lakonisch und unaufgeregt wie zärtlich erzählt Petzold, wie sie sich kennen lernen, sich - scheinbar - langsam näher kommen. Dieses Kennenlernen wird mit genau den richtigen Details unterfüttert, um ihm Leben einzuhauchen, ihm das "gewisse Etwas" zu geben. Da ist das Buch, das sie im Schwimmbad fallen lässt und er aufhebt. Das zaghafte Gespräch auf der Brücke über Schulhofliebschaften, die gar nicht erst zustande kamen und Springbrunnen in Fußgängerzonen. Die Verabredung, zu der sie Stunden zu spät kommt. Dann Steinofenpizza bei ihm. Gemeinsam Musik hören.

"What the world needs now,
Is love, sweet love,
 It's the only thing that there's just too little of."
 
singt Dionne Warwick, während Leyla auf dem Sofa entschlummert, um ihrem Verehrer ausgiebig Gelegenheit zu geben, seine schlafende Göttin anzuhimmeln.  
Thomas' Gefühlshaushalt trifft es wie ein Schlag mit dem Vorschlaghammer, dass Leyla nicht nur hinterher spurlos - und mit seinem Laptop - verschwindet, sondern dass er herausfindet, dass er zum Objekt einer Inszenierung wurde, eines Spiels, in dem es nicht um ihn geht ("Zielobjekt Mann - Wie Frauen Männer ködern" heißt das Ratgeberbuch, das zum Script einer Annäherung wird). Gerade das Auffliegen dieser Inszenierung ist insgeheim der bitterste Twist der zweiten Filmhälfte - nicht die Tatsache, dass die rätselhafte Leyla mit ihrem undurchsichtigen Verhalten einem ausgeklügelten Racheplan folgt.
Der Mann, an den sie eigentlich gelangen möchte, heißt Blum. Er ist Mandant von Thomas und befindet sich nach einer Haftstrafe in einem Resozialisierungsprogramm. Sven Pippig spielt ihn mit der devoten Resignation eines Mannes, der längst akzeptiert hat, dass er die Art von Geheimnis mit sich rumträgt, die auf ewig einsam macht, die einen Keil zwischen ihn und seine Mitmenschen treibt. Leyla nähert sich nun ihm an. Sie schenkt ihm ein Buch, "Unter den Brücken", zum gleichnamigen Film von Helmut Käutner. Das zweite Buch für den zweiten Mann. Und auch eine weitere filmhistorische Folie, die dem Geschehen unterlegt wird. Neben den Hitchcock-Filmen Vertigo und Marnie, die, so liest man im Innencover der DVD, Petzold seinen Schauspielern vor dem Dreh gezeigt haben soll. Neben Hitchcocks Männer-Obsessionen für geheimnisvolle Frauen also Käutners Romanze um zwei Männer, die einsam sind auf ihrem Schleppkahn und eine Frau retten wollen, die einsam ist in der Großstadt. Doch Toter Mann versteht sich vorwiegend als Negation dieser Vorbilder. So wie die Männer durch ihre Obsessionen zum Spielball der Frau werden, ist es dann auch nicht an ihnen, sie zu retten. Vielmehr ist ihr großes Komplott ein Selbstheilungsversuch, in dem die Männer nur Mittel zum Zweck sind. Und so wie als Schatten über Unter den Brücken, sieht man ihn heute, die Situation liegt, die der Film erzwungenermaßen vollends ausblendet, nämlich die von Berlin Ende 1944, kommt das Grauen, kommen Mord, Vergewaltigung und Rache erst ganz langsam zum Vorschein in Toter Mann, der als Liebesgeschichte zwischen Entfremdeten beginnt.
Zeigt Käutner in ihrer ersten Szene nur einzelne Partien des im Schatten liegenden Gesichts von Hannelore Schroth, dann ist auch Nina Hoss bei Petzold, am Ziel ihres Plans angelangt, eine Schattengestalt. Im Profil ist sie ganz Schatten, von vorne ist nur ihre eine Gesichtshälfte sichtbar. Ganz zu werden, einen Moment der Geborgenheit und der Gegenseitigkeit zu spüren, das ist es, was die Menschen durch die unterkühlte Welt dieses Films treibt, was ihre Verzweiflung ausmacht, die nur in kurzen Momenten sich Bahn nach außen brechen kann. Die Ambivalenz darüber, ob man sich, liegen die Karten einmal endgültig auf dem Tisch, wirklich kennen lernen kann in dieser Welt ist das, was am Ende bleibt. 

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Thou Wast Mild and Lovely (Josephine Decker, USA 2014)

Spielwiese des Begehrens

Vater und Tochter tollen über die Wiese. Sie hält ein enthauptetes Huhn. Er schreit, dass sie ihn damit erstechen würde. Die Kamera blickt ins Unscharfe, über das Gras und zu den Bäumen. Das Huhn bleibt kopflos auf der Wiese liegen. Dann ist da ein Hund, der knurrt und kläfft. Und eine Frau beginnt aus dem Off von ihrem Liebhaber zu sprechen, so als würde sie ein Gedicht vortragen, poetisch, überhöhend.
 
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Samstag, 11. Oktober 2014

Butter on the Latch (Josephine Decker, USA 2013)

Das Im-Wald-Verloren-sein

Einmal verlaufen sich Sarah und Isolde nachts im Wald. Zu bloßen Schatten werden die beiden Frauen, Schemen, die sich abheben von den Lichtpegeln ihrer Taschenlampen im Geäst. Es kommt zu einem Streit, bei dem die ziemlich angetrunkene Isolde ihrer Freundin Vorwürfe macht. Nachdem Isolde in der Dunkelheit verschwindet und Sarah alleine zurück lässt, folgt ein Schnitt. Es ist Tag. Die Kamera, die zuvor mit den beiden Frauen durch den Wald wankte, blickt nun ganz ruhig mit Sarah über eine Lichtung.
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Mittwoch, 8. Oktober 2014

What We Do in the Shadows (Taika Waitti, Jemaine Clement, USA 2014)

Der Wecker klingelt um sechs. Eine Hand schiebt sich aus dem Sarg, um ihn enerviert auszuschalten. So stinknormal beginnt der Tag von Viago. Oder besser gesagt: die Nacht. Denn wir befinden uns, so informiert das Presseheft, in einem "faszinierenden Dokumentarfilm", der "erstmals und mit schonungsloser Offenheit den unspektakulären Alltag einer bislang unerforschten Spezies" zeigt. Viago ist also, genau wie seine anfangs drei Mitbewohner in einer alten Villa in Wellington, Vladislav, Deacon und Petyr: ein Vampir (was auch den Sarg erklärt, über den aufmerksame Leser im zweiten Satz dieses Textes sicherlich gestolpert sind). Und "What We Do in the Shadows" - wie "5 Zimmer Küche Sarg" im Original wesentlich eleganter heißt - ist eine Mockumentary, die, angelehnt an gängige Reality-TV-Formate, den Alltag einer Vampir-WG schildert.
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Montag, 6. Oktober 2014

Wild Boys of the Road (William A. Wellman, USA 1933)

Der Film beginnt wie eine Komödie. Mit dem ausgiebig beschrifteten Auto, eine Klapperkarre mit Anker, der Freundin auf dem Rücksitz, die immer nur knutschen will (und wenn sie nicht knutschen will, will sie tanzen) und dem vom Tank anderer Autos abgezapften Benzin (ein Kniff, der angewendet werden muss, weil man den eigenen Tank auf die gleiche Weise geleert vorfand). Ein Film über Armut allerdings ist Wild Boys of the Road auch schon in diesen ersten Minuten, die eigentlich alles durchspielen, worum es in den nächsten siebzig gehen wird. Die Not, die erfinderisch macht: in Ermangelung der 75 Cent, die der Eintritt in den Tanzsaal nur für Jungs kostet, schmuggelt sich Tommy als Mädchen verkleidet rein. Und vor allem den Zusammenhalt unter den - hier sehr buchstäblich - Ausgeschlossenen, der mit dringlichem Pathos zelebriert wird.
Sehr bald aber hat die wirtschaftliche Lage, die Misere der Großen Depression den Film und seine beiden adoleszenten Protagonisten, Eddie und Tommy, vollends eingeholt - was nicht heißt, dass er sich nicht ein gewisses Maß an Humor bewahren würde. Im Angesicht von Arbeitslosigkeit und Überschuldung üben sich die Jungs zunächst im Verzicht (keine neuer Anzug, das Auto verkaufen), dessen Mechanismus darin besteht, als freiwillig auszugeben, was doch von der Situation aufgezwungen ist, lernen die kleinen Notlügen, die darauf abzielen, den Liebsten Kummer zu ersparen.
Schließlich und sehr bald reicht auch das nicht mehr aus, so dass die Jungs sich auf den Weg machen, um ihren Familien nicht länger zur Last zu fallen. Im Güterzug geht es in Richtung der großen Städte, nach Chicago und New York. Bald lernen sie Sally kennen, die auf die gleiche Weise on the road ist und überall treffen sie auf Hunderte von Jungs und Mädchen, die ihr Schicksal teilen. Mit zerrissenen Klamotten und schmutzigen Gesichtern fahren sie durchs Land auf der Suche nach Arbeit und einer Bleibe, die sie etwa in New York in slumartigen Holzverschlägen auf der städtischen Müllhalde finden (der sehnsüchtige Blick auf die Skyline aus dem Fenster sagt mehr als tausend Worte).Wind und Wetter sind sie ebenso ausgesetzt wie der Vertreibung überall, wo sie hinkommen. Der Film erzählt von einer Solidarität im Angesicht des alle bedrohenden Elends, die sich über die Grenzen von "Rasse", Klasse und Geschlecht hinwegsetzt. Nicht nur, dass die wild boys - and girls - of the road untereinander zusammenhalten wie Pech und Schwefel, es findet sich eben auch die überschwänglich freundliche Tante hier und der hilfsbereite Arzt da, die ihnen zur Seite stehen, wie sie nur können. Selbst zwei Polizisten befällt ein mulmiges Gefühl, wenn sie gegen sie vorgehen, sind sie sich doch bewusst, dass der Staat hier mit Polizeiknüppel und Feuerwehrschlauch gegen seine eigenen, buchstäblich auf der Strecke bleibenden Kinder kämpft.
Die Wucht und die Kompromisslosigkeit, mit der sich der Film ganz auf die Seite des jugendlichen Lumpenproletariats schlägt, das in der amerikanischen Gesellschaft der frühen Dreißiger nicht mehr ist als das fünfte Rad am Güterwaggon, muss man gesehen haben.
So absolut wie der Film auf die Identifizierung des Zuschauers mit den Jugendlichen abzielt, so distanzlos ist die Kamera mitten im Geschehen. Wenn es der Gruppe einmal gelingt, sich gegen die anrückende Polizei, die sie vom Zug vertreiben will, zur Wehr zu setzen, sieht die Kamera durch Polizistenaugen alles verschwommen aufgrund der Eier, mit denen die Jungs warfen. Sie ist auch mittendrin, wenn die Bande einen Bremser stellt, der ein Mädchen vergewaltigt hat (ein Höhepunkt in der Darstellung des ständigen Ausgeliefertseins dieser jungen Menschen). Es ist als würde die Kamera selbst die vielen fliegenden Fäuste abbekommen. Übrigens kommt der Mann dabei zu Tode, was in einem Pre-Code-Film nicht nur nicht gesühnt werden muss, sondern auch der positiven Identifikation mit den Jugendlichen nicht im Wege steht.
Schließlich gibt es die Szene, in der Tommy beim Abspringen von einem fahrenden Zug schlingert, mit dem Kopf gegen ein Schild knallt, sich mühsam über die Gleise windet und doch nicht verhindern kann, dass ein anrasender Zug ihm über das Bein fährt. Der Knall und der heranrauschende Zug sind perfekt gesetzte Schockmomente, die auch beim Zusehenden eine physische Wirkung nicht verfehlen. Die lange Szene, in der Eddie seinen Freund aufzuheitern versucht, während ihm ein Arzt das Bein abnimmt, wird abgelöst von einer Überblenden-Montage von marschierenden Beinen und entschlossenen Gesichtern unter Schiebermützen. Immer stellt sich der Film mit nahezu grenzenloser Empathie auf die Seite der Schwächsten unter den Schwachen.
Sicherlich stellt das Ende einen Bruch dar. Die erbitterte Anklage des Films, die Eddie ausgerechnet vor einem Richter nochmals vorträgt, wird ein Stück weit dadurch über den Haufen geworfen, dass besagter Richter mit Verständnis und einem Herz für (arme) Kinder alles ist, was es braucht, um das Schicksal der drei Hauptfiguren ins Positive zu wenden. Ekkehard Knörrer schreibt der Ausgang mache den Film zur "New-Deal-Propaganda" und schreibt, er sei Wellman wohl von Jack Warner vorgegeben worden.
Bleibt ein Film, der öfters die Richtung wechselt und doch immer zu 100% bei dem ist, was er gerade tut - und einen kleinen Hoffnungsschimmer mag ich dem Publikum der Depressionszeit, das seine Lage hier so schonungslos und ungefiltert vor Augen geführt bekam, durchaus vergönnen.

Übrigens ist die augenfälligste Parallele zum in einigen Punkten ähnlichen, ebenfalls großartigen Victimas del pecado, dass sich auch dort ausgerechnet eine Kinokasse Ziel eines Raubüberfalls wird (auch wenn in Mexiko wesentlich rabiater vorgegangen wird als in New York). Krisenzeiten scheinen nicht nur den Glamour der Gangster heraufzubeschwören, sondern vom Glamour des Kinos versprechen sich auch Gangstern ihren Teil vom großen Geld...

Montag, 29. September 2014

Eine Abschieds- und Liebesszene



...aus "Johnny got his Gun" (Dalton Trumbo, USA 1971) 

(die mich im Kino sehr bewegte und faszinierte und zu der ich, da ich sie aus Platzgründen aus einem Text strich, hier ein paar Worte schreiben

Die junge Frau steht mit dem Rücken zur Kamera. Sie lässt den Morgenmantel fallen, unter dem sie nackt ist. In dem Moment, in dem sie beginnt sich umzudrehen gibt es einen Schnitt auf das Gesicht des Mannes, aus dem Begehren spricht und grenzenlose Neugier auf ihren Körper, den er schon zuvor sehen, aber sie ihm nicht zeigen wollte. Sie kriecht unter die Laken im Licht des Mondes. Gegenschnitt auf ihn, der vor dem Fenster in Gegenlicht nur noch ein Schatten ist. Er zieht sich aus, legt sich neben ihr ins Bett. Sein Fuß tastet nach ihrem, zuerst zieht sie ihn weg, dann begegnen sich ihre Füße, spielen miteinander. In ihrem Blick liegt Sorge, Angst. Die beiden sprechen kurz miteinander, dann umarmen sie sich. 
Eine Abschiedsszene, denn „Johnny zieht in den Krieg“, wie es der deutsche Titel von Dalton Trumbos Film „Johnny Got His Gun" verkündet. Doch für Johnny wird diese Szene mit ihrer verspielten, zärtlichen Körperlichkeit nicht nur ein Abschied vom Körper der Freundin sein, sondern zugleich von seinem eigenen, den ihm der Krieg rauben wird. Er überlebt seinen Einsatz im ersten Weltkrieg, kehrt aber als Torso zurück. Ohne Arme und Beine, Hör- und Sehvermögen wird er von Maschinen künstlich am Leben gehalten, behält aber, was niemand in der Ärzteschaft für möglich hielt, sein vollen mentalen Fähigkeiten. Während die Gegenwart, in der von Johnnys Körper nur noch ein Etwas unter einem Laken übrig ist, in Schwarz-Weiß gezeigt wird, leuchten Johnnys – bisweilen ins Surreale abdriftende – Erinnerungen in buntem Technicolor.„Johnny Got His Gun“ ist ein gutes Beispiel für die Verbindung von Körper, Trauma und Geschichte im Film. Durch das persönliche, aber eben auch historische Trauma des Krieges wird der Protagonist seines Körpers beraubt.