Samstag, 28. Juni 2014

Escape from East-Berlin (Robert Siodmak, USA, BRD 1962)

Escape from East-Berlin sind eigentlich zwei Filme, nicht neben- oder nacheinander, sondern in- und übereinander. Schon der eine, offenkundigere ist nicht wirklich das, was ich erwartet hatte. Die Geschichte von 28 Menschen, die durch einen Tunnel unter der Mauer von Ost- nach West-Berlin fliehen, 1962 von der MGM in den UFA-Studios in Berlin gedreht, wird nicht so sehr als Flucht-Thriller erzählt, sondern eher als propagandistisches Melodram. In dem "jail of communism", als das sich dieser Film Ost-Berlin imaginiert, hat die "Freie Welt" des Westens keinen anderen Agenten als das Streben nach Freiheit in den eingesperrten Menschen (übrigens scheint dieses Streben in den Frauen durchweg stärker zu sein als in den Männern, und: ob die Frauen nun aber wirklich Freiheit wollen oder doch nur endlich vernünftige Nylons, ist für die Belange des Films eher nebensächlich).
Das ist schon an sich alles verdammt weird und wird durch das "Deutsche" in einer sehr Hollywood-typischen Form der Propaganda - ein sehr "amerikanischer" Filme, (fast) ohne Amerikaner - noch verdammt viel weirder.
Zum Glück ist da aber auch noch der andere Film, der einerseits mit dem ersten Hand in Hand geht, ihn zu sehr wirkungsvoller Propaganda macht, aber andererseits sein sehr konkretes propagandistisches Anliegen transzendiert und überlebt: Escape from East-Berlin ist auch ein sehr beklemmender und in seiner Beklemmung allgemeingültiger Film über die Gefangenschaft des Menschen. Es gibt in diesem Film keinen einzigen "freien Blick", keinen Blick auf die Figuren, der nicht durch Gitter, durch marode Türen oder Fenster gerahmt werden, der nicht je an einer Mauer oder an einem Zaun enden, im Stacheldraht hängen bleiben würde. Keine Einstellung, die nicht mit Ruinen oder Menschen vollgestellt wäre, wobei die Szene, in der die uniformierten Körper und die Maschinenpistolen der Grenzposten den Blick auf Don Murray und Christine Kaufmann rahmen, der Mensch sehr bildlich des Menschen Gefängnis wird, nur einen Höhepunkt bilden in einer 89 Minuten lang aufrecht erhaltenen Atmosphäre, die einem die Luft zum Atmen zu nehmen scheint. Schon alleine wie es ihm gelingt, dass durchzuhalten offenbart die Meisterschaft des von der Kritik - vor allem in Deutschland - oft gescholtenen oder verlachten späten Robert Siodmak. Darüberhinaus bleibt mir vor allem die Inszenierung der beiden frühen brachialen Flucht-Versuche im Gedächtnis. Der erste endet wirklich schaurig mit dem Todesschuss auf den hoffnungslos im Stacheldraht verknäuelten Mann. Der zweite strotzt dem Kontrast von Christine Kaufmanns schönem Gesicht zu Mauer und Stacheldraht eine sehr eigene, sehr spröde, gar nicht kitschige Poesie ab.
So wie das Ruinen-Ost-Berlin des Films, als nicht gerade "realere", aber eben doch historisch konkreter fundierte Fortsetzung  der labyrinthischen Städte des Film Noir erscheint, so kann die Klaustrophobie dieser Stadt nur noch durch den unterirdischen Tunnel auf die Spitze getrieben werden. Ein Reich der Schatten, die die schmutzigen Gesichter aufzufressen scheinen, an dessen Ende Licht durch ein Loch in der Erde fällt.
Escape from East-Berlin ist kein großer Film wie Siodmaks fünf Jahre zuvor entstandener NS-Psycho- und Polit-Thriller Nachts, wenn der Teufel kam. Das schematische des Plots und der Figuren lässt ein derart komplexes Bild von Schuld und Verantwortung des Menschen im Totalitarismus nicht zu. Und doch: das Bild von der Gefangenschaft des Menschen, das mehr ist als nur die propagandistische Geschichte vom guten Menschen im bösen System, offenbart letztlich auch ein Stück weit die Freiheit des Kinos.    

Montag, 9. Juni 2014

Dracula (Tod Browning, USA 1931)

Der erste der beiden Filme, mit denen Tod Browning in die Filmgeschichtsbücher eingehen sollte, scheint, im Gegensatz zum atemberaubenden Freaks, nicht wirklich gut gealtert. Sein Geisterbahn-Horror mit seinen Gummi- Fledermäusen und -Spinnen, den gemalten Karpathenlandchaften und dem exzessiven Einsatz der Nebelmaschine sorgt mitunter heute eher für unfreiwillige Komik als für Grauen. Auch das Spiel (oder eher: das exzessive Nichtspiel) Bela Lugosis, der durch seine Rolle als Dracula zur Kultfigur wurde, ist zunächst eher gewöhnungsbedürftig. Genau an ihm aber, an der Art, wie er dem Grafen eben kein "Leben einhaucht", sein starrer hypnotischer Blick (wobei das Leuchten seiner Augen, wieder eine etwas obskure Idee des frühen Tonfilms von einem "hypnotischen Blick" ist) lassen sich die beträchtlichen Qualitäten des Films erkennen. Dracula ist ein Film, der beherrscht wird von Totenstarre. Ein Film über die Starre und das Starren. Und: wie Brownings Regie die Starre arrangiert und verwaltet offenbart einen Meister auf der Höhe seiner Kunst.
Da ist die Szene zu Beginn, wenn Joanthan Harker (David Manners) auf seiner Reise nach Transsylvanien, einem Mitreisenden erzählt, dass er auf dem Weg zu Schloss Dracula ist. Entsetzen ergreift den Mann, dessen starrer Blick in Richtung Kamera geht als würde er bei ihr Hilfe suchen, doch die Kamera starrt nur unbeteiligt zurück. Dann kommt der Zwischenschnitt auf eine schwarz gekleidete Frau, die sich bekreuzigt. Sie ist es auch, die ihm, als er trotz aller Versuche, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, weiterreist ein Kruzifix mitgibt, das in einem Standbild in Großaufnahme zu sehen ist. Das Symbol des Kreuzes scheint vor allem für die Erstarrung zu stehen. (Ist diese Erstarrung hier mit dem Aberglauben der Landbevölkerung gleichzusetzen, wie in Stokers Roman, wo Harker sagt, dass ihm als einem "English Churchman" beigebracht wurde, "to regard such things [the cruzifix] as in some measure idolatrous"? Zunächst mag der Kontrast, von Bewegung, die Kutsche, die mit Harker durch die Berge und aus dem Bild davon fährt, und Starre, die Menschen an der Raststätte, die dastehen und ihm nachblicken, das Nahe legen. Aber dann beeilt sich der Film doch auch so sehr zu zeigen, dass alles woran die Landbevölkerung in Transsylvanien glaubt, der Realität entspricht.)
Dann die Szene, in der Gruft, in der die Kamera auf Lugosis Gesicht, auf seinen starren Blick zufährt, mit dem er seinen hypnotisierten Dienerinnen ruft. Wenn die Spannung in Dracula zwischen Bewegung und Starre entsteht, dann geht es dem Film nicht um eine Dialektik, sondern darum, wie alle Bewegung in Starre endet, die Starre danach zu trachten scheint, jede Bewegung zu annullieren. In den ersten Szenen bewegt sich alles - Harkers Kutsche, die Kamera, die drei Frauen - schicksalsschwanger auf den Grafen zu, der in seiner ganzen Erscheinung kaum starrer sein könnte.
Das wiederholt sich bei der Überfahrt nach England, die heftige Bewegung des Schiffsmodells auf den Studiowellen, das so eifrige wie nutzlose Streben der Männer auf Deck, ihrem besiegelten Schicksal zu entkommen. Die Reise endet wiederum in einem radikalen Bild der Starre, die Einstellung mit dem Schatten des toten Kapitäns, der ans Steuerrad gefesselt sein Ende fand.
Besonders bezeichnend ist auch die Szene, in der die meist statische Kamera, die sonst nur einige Schwenks und Zufahrten wagt, am ehesten entfesselt wird. In einer Art Freundesken Plansequenz gleitet sie ohne Schnitt über den Garten des Seward Sanatoriums (sollte es ein Zufall sein, dass diese - etwas unbeholfen wirkende - "Entfesselung" gerade in einem "Irrenhaus" stattfindet?) - und beendet ihren Schwebeflug an den Gittern eines Fensters.
Großartig ist die Montage. Die statischen Einstellungen mit ihren so präzise wie starr im Bild angeordneten Figuren prallen hart gegeneinander, spiegeln einander in Symmetrien, in denen keine Bewegung ist, nichts fließt. Mag man Dracula mit seiner Vorliebe für verfallene Häuser und seinem Gerede über den Tod in der vornehmen Londonder Gesellschaft auch für einen ausländischen Sonderling halten, die Inszenierung zeigt doch, wie gut er sich ins Bild eines ganz und gar erstarren Adels fügt.
Bram Stokers Dracula war ja auch - und sicher nicht zuletzt - ein erotischer Roman, gezwängt ins enge Korsett der viktorianischen Moralvorstellungen. Wie verhält sich Brownings Film zu dem schwelenden Begehren, das - nicht allzu tief - unter der Oberfläche des gotischen Schauers lauert? Nun, zunächst eher zurückhaltend. So fehlt etwa die nächtliche Heimsuchung Harpers durch die drei Vampirinnen, in der eine sado-masochistische Gruppensex- und Blowjob-Phantasie zu erkennen es wohl keines allzu übereifrigen Freudianers bedarf, komplett.  
Das heißt mitnichten, dass diese Ebene im Film fehlen würden. Wenn Dracula, gerade in London angekommen, seinen Blutdurst zuerst bei einer jungen - im Kontext des Films wunderbar lebhaft wirkenden - Frau stillt, die auf der Straße Blumen verkauft, sehen wir das ausbeuterische Begehren eines Adligen an seinem subproletarischen Opfer am Werk. Wenn Mina (Helen Chandler) sich geniert Van Helsing (Edward von Sloan) die Bisswunden an ihrem Hals zu zeigen, wird über die Scham die Assoziation des vampiristischem zum sexuellen Akt hergestellt. Dementsprechend auch die keusche Ausblendung der Szene in der Dracula Mina beisst. Sein Gesicht mit einem sonderbar erstarrten Begehren im Blick kommt auf sie zu - Schwarzblende. Wo der Roman bei der ersten Reise Harkers nach Transilvanien auch homoerotische Gefühle zwischen ihm und dem Grafen anzudeuten scheint (Harker sehnt sich danach, dass Dracula ihn beschützen möge vor - was sonst - den Frauen, und die harsche Intervention des Grafen, wenn sich die drei Frauen an Harker vergehen wollen, lässt sich auch als Eifersucht lesen), bleibt hier nur noch eine vage erotische Faszination des Bösen. Gerade als sie unter dem Einfluss des Grafen steht, zu einer Kreatur der Nacht wird, scheint Mina für Harker am begehrenswertesten. Es ist als würde im Falle von Dracula mit der filmischen Adaption eines literarischen Stoffes, die Schraube der Sublimierungen gleich eine ganze Handvoll Umdrehungen weitergedreht.
In der Welt, in die uns Brownings entführt, ist es nicht nur ein Verrückter, Renfield (großartig: Dwight Frye), der unter dem Einfluss des Bösen am meisten mit seinem Gewissen zu kämpfen hat (herzzerreißend ist die Szene, in der er seinen Meister anfleht, Mina nichts antun zu müßen, gefilmt durch die Gitter seines Fensters an denen er rüttelt), sondern er ist es auch, der seine Bedürfnisse, sein Begehren am deutlichsten zu artikulieren weiß. Weg, will er, immer wieder. Zum Objekt seines alles bestimmenden Begehrens, das nur außerhalb des starren Bildkaders liegen kann, im Off, in das seine starren Blicke gehen. "Lifes", will er "not big ones but little ones with blood in them". Leben, fließendes Blut.
Der Rest ist Starre.  
      
     

Sonntag, 8. Juni 2014

Freaks (Tod Browning, USA 1932)


Zu meiner Beschäftigung mit den Filmen Frank Hennenlotters, dessen Basket Case ich kürzlich mit Begeisterung wiedergesehen habe, passt es gut, dass das Arsenal die Möglichkeit bot, Tod Brownings Freaks auf der großen Leinwand zu sehen (übrigens auf einer 16mm-Kopie, deren Fragilität sich als dem Film durchaus angemessen erwies). Denn, neben so vielem anderen, ist Brownings Meisterwerk wohl auch einer der filmischen Vorväter von Hennenlotters obskuren B-Movie-Phantasien. Basket Case ist ja auch eine Geschichte über die, wie es die Texttafeln zu Beginn von Freaks verkündet, "Abnormal and Unwanted" - und über ihre Rache an einer Gesellschaft, in deren Normensystem für sie kein Platz ist.
Der Rahmen der Handlung besteht aus einer - zunächst - sehr einfachen Blickordnung. Da sind die Subjekte eines voyeuristischen Blickes auf die "Abnormität", eines Blickes, der Entsetzen hervorruft über das, was er sieht zu Beginn und dann das Objekt von Blick und Entsetzen am Ende. Entfaltet sich der ganze Film somit zwischen dem einem "normalen" Subjekt und einem "abnormen" Objekt des Blickes, dann geht es ihm darum zu zeigen, wie die Norm und ihre Abweichungen erst durch diese Blickordnung konstituiert werden - und um die fortwährende Rebellion gegen sie.
Schönheit, so sagt das Sprichwort, liegt im Auge des Betrachters. Und Freaks fügt hinzu: Hässlichkeit natürlich auch. Schönheit hat immer etwas mit einer Norm zu tun, mit ihrer Erfüllung, Übererfüllung oder einer Transgression gegen sie, einem Regelbruch, der sich doch selbst bestimmte eigene Regeln zu halten hat  (sagen wir: Marlene Dietrich in Frack und Zylinder in Morrocco und die "ungeschriebene Regel", dass Frauen in Männerkleidern sexy sind und Männer in Frauenkleidern lustig). Wenn die Schönheit nun in Verbindung steht mit einer Norm, so veränderbar ist, wie diese, was sagt uns das dann über das blickende Subjekt, den Betrachter, in dessen Auge sie erst entsteht? Nun, sagen wir, dass in der Ordnung von Blick und Bild, vielleicht noch mehr als anderswo, gilt: ein freies Subjekt gibt es - bestenfalls - als Utopie.
Dass Freaks transgressives Kino ist, wie man es mit einer solchen Wucht bis heute selten gesehen hat, liegt daran, dass er nicht nur in unerhörter und ungesehener Weise mit den Regeln und Normen der Bilderproduktion brach, sondern aufbegehrte gegen die Blicke, die aus Menschen "Freaks" machen.
Der Film spielt in einem Wanderzitkus. Der kleinwüchsige Hans (Harry Earles) hat sich (man könnte es im Kontext dieses Films wohl nicht besser sagen) verguckt in die große, schöne und durch und durch böse Trapezartistin Cleopatra (Olga Baclanova). Sehr zum Leidwesen seiner ebenfalls kleinwüchsigen Verlobten Frieda (Daisy Earles). Cleopatra schmiedet gemeinsam mit ihrem Liebhaber, dem Muskelpaket Hercules (Henry Victor) einen grausamen Plan: sie will Hans heiraten, um ihn zu vergiften und sich seines Vermögens zu bemächtigen. Doch sie hat die Rechnung ohne die Freaks gemacht, Hans' ebenfalls kleinwüchsige oder anders "mißbildetet Freunde. Denn wenn die Freaks durch ihre Position als Ausgeschlossene der Gesellschaft eins gelernt haben, dann dass sie untereinander zusammenhalten müssen.
Tod Browning, der sich ein Jahr nach der berühmten Universal-Dracula-Verfilmung mit Bela Lugosi auf dem Zenith seiner Karriere befand, wollte mit Freaks einen Horrorfilm drehen, der alles an Grauen überbot, was es im Genre seinerzeit so gab. Zunächst scheint das verdammt gut funktioniert zu haben. Bei den test screenings des Films in einer 90-minütigen Fassung zeigte sich das Publikum derart verstört, dass das Studio MGM den Film um eine knappe halbe Stunde kürzen ließ (das entfernte Material  ist übrigens nie wieder aufgetaucht). Der Film wurde in Teilen der USA, in Australien und Großbritannien verboten. Doch: ist das alles? Sind Brwonings "echte Freaks" einfach nur furcheinflößender als alle "gespielten" Draculas und Frankensteins, die die Filmgeschichte bis in die frühen Dreißiger zu bieten hatte?
Mag sein, aber es geht um viel mehr als das. Freaks ist in vielerlei Hinsicht nicht nur ein Film, der seiner Zeit, wie man so sagt, weit voraus war, vielleicht hat ihn die Filmgeschichte in den letzten acht Jahrzehnten nie eingeholt. Man muss sich zum Vergleich nur einmal den Einsatz von Kleinwüchsigen und Menschen mit anderen Behinderungen im transgressiven Film der späten Sechziger und Siebziger ansehen. Bei Jodorowsky und Arrabal sind Zwerge und Krüppel eine Attraktion unter vielen im Kontext blutrünstiger, karnevalesker Spektakel, eines Zirkuskinos, eine Provokation wider die etablierten Codes der Schönheit, so wie gekreuzigte Tierkadaver eine Provokation wider die etablierten Codes der Religion waren. Dass man solche Provokationen in ihrem historischen und biographischen Kontext verstehen und rechtfertigen mag, ändert nichts daran, dass Browning vierzig Jahre zuvor und mitten in der Traumfabrik Hollywood schon wesentlich weiter war. Ging es ihm doch darum, über die Bilder der Freaks als Zirkusattraktionen hinaus zu kommen. Wenn sich der Mann ohne Arme und Beine mit dem Mund ein Streichholz anzündet, mit der er sich eine Zigarette ansteckt, wenn die Armlosen mit den Füßen beim Essen Messer und Gabel halten, dann mag das einerseits "zirkusreif" sein, es ist aber doch auch ein Stück Alltagsrealität dieser Menschen, für die sich Brownings Nachfolger im Geiste nie interessiert haben. Ähnlich verhält es sich mit dem running gag über das, wie man sich denken kann, ziemlich schwierige Liebesleben siamesischer Zwillinge. Comic relief, klar, aber wieder auch mit einem sehr ähnlichen Interesse für einen Alltag, über den das kommerzielle Kino bis heute eher selten nachdenkt (und noch viel seltener so unsentimental, so ganz ohne verlogenes Mitleid, wie es dieser Film tut). Browning nimmt das Bild der Freaks als Zirkusattraktion als Ausgangspunkt, den es zu überwinden gilt. In Freaks steckt in jedem Bild more than meets the eye - und nicht wenige beinhalten das genaue Gegenteil dessen, was wir an der Oberfläche sehen, oder, anders ausgedrückt: wir wohnen einer fortwährenden Rebellion der Bilder gegen die normierten und normierenden Blicke bei.
Und wieder geht es um mehr als bloß um die Rebellion gegen die physiognomischen Paradigmen, die der Film anprangert. Wichtiger als dass die Freaks die Guten sind in diesem Film, ist die Tatsache, dass vor allem, aber nicht nur Harry Earles nicht Zirkusattraktion bleibt, sondern Hauptdarsteller in einem Spielfilm wird. Gleichberechtig eben, wenn, wie es die Texttaffel zu Beginn erklären, "Freaks" über normale menschliche Emotionen verfügen, dann können sie diese auch auf einer Kinoleinwand darstellen - und wir mit ihren Konflikten und Dillemata mitfiebern.
Ein Stück weit mag das sogar für das Frauenbild gelten. Olga Baclanova spielt keine Hexe und keine femme fatale, keine böse Könnigin, wie es ihr Name suggeriert, in ihrer Figur wird die Verbindung von Schönheit und Boshaftigkeit nicht mythisch überhöht. Außer schön ist sie nur hinterhältig, niederträchtig und "ordinär". Doch ist ihre Boshaftigkeit nicht explizit weiblich konnotiert, sie ist eine Eigenschaft, die sie mit den meisten "normalen" Menschen des Films teilt - und ihre Schönheit ist das einzige Kapital, die einzige Waffe, die sie im Überlebenskampf des Zirkus-Prekariats besitzt. (Eine Kritik am Geschlechter-Diskurs des Films, zu der ich übrigens nicht allzu große Lust habe, müsste wohl eher bei der "guten" Frau, bei Frieda ansetzen, die bereit ist, sich für den Mann aufzuopfern, ihr eigenes Glück aufzugeben, wenn er nur glücklich sein möge. Aber dann gibt es ja noch Venus (Leila Hyams) als toughe und unabhängige positive weibliche Identifikationsfigur. Und in den siamesischen Zwillingen Daisy und Violett Hilton findet der Film wohl nicht zuletzt eine beim Wort genommene Verbindung zwischen Frauen, in der für Männer nur sehr schwierig Platz ist.)
Das Medium zur Ausgrenzung der Freaks ist übrigens, neben dem Blick, vor allem das boshafte Lachen. Es ist nicht das Lachen, dass wir aus den Western späterer Dekaden kennen. Nicht das Lachen der Italo-Western-Schurken, das nichts als reiner Sadismus ist (auch das, aber eben, wie immer: auch mehr) und nicht das männerbündlerische Gelächter der Wild Bunch, das einerseits Konstituens der Gruppe ist, und mit dem sie andererseits ihr längst besiegeltes Schicksal verhöhnt. Das Lachen in Freaks ist eine Waffe der Exklusion, auf die die Ausgeschlossenen mit ihrer berühmten Inklusions-Formel reagieren: "Gooble, Gobble, One of us."
Schließlich ist da das Finale, in dem sich die Kräfteverhältnisse in der Rache-Phantasie verkehren. Die Szene, in der sich Cleopatra Waffen gegenüber sieht, gegen die ihre Schönheit machtlos ist: ein Springmesser und eine Luger. Die unvergesslichen Augen in der Schwärze der Nacht des Gewissens, die das Regime der bösen Blicke auf den Kopf stellen. Eine Welt, die zerfällt in strömendem Regen, Blitz und Donner, um hinterher neu und anders wieder zusammengesetzt zu werden.
Tod Browning ist das Kunststück gelungen, einen Film zu machen, der zu gleichen Teilen gnadenlos und radikal humanistisch ist. Einen schockiernden, mitreißenden, bewegenden, überwältigenden Höllenhund von einem Film. Grausig und wunderschön. Was soll ich groß sagen: ein Meisterwerk eben.
 
    

Mittwoch, 4. Juni 2014

Basket Case (Frank Henenlotter, USA 1982)

Ein wunderbar wilder Film. Schon der Anfang: der Mord im Prolog mit der wirklich, nun ja, gruseligen Maske. Die Einstellung von der Mappe mit Dokumenten, auf der ein Revolver liegt und auf die Blut spritzt. Dann der sehr abrupte, irgendwie abgehackt wirkende Schnitt auf den nächtlichen Times Square. Der junge Mann, der mit dem riesigen Korb unterm Arm eine Straße entlang geht, vorbei an den hell erleuchteten Schaufenstern der Läden, dem bunt blinkenden Neon-Licht der Leuchtreklamen, die 1982 in dieser Gegend von Manhattan noch versuchten, den Passanten in allerlei Porno-Kinos und Sex-Shops zu locken. All das macht Sinn, durch und durch. (Allerdings auf eine, so würde ich, ohne größere Kenntnisse des Werkes des Regisseurs, mutmaßen, sehr spezifische Frank Henenlotter-Weise, die mit den Sinnzusammenhängen, die man sonst so aus dem Kino kennt, nur am Rande etwas zu tun hat.)
Der junge Mann, der die Straße entlang geht, heißt Duane Bradley und in dem Koffer befindet sich sein Bruder Belial. Als siamesische Zwillinge geboren wurden sie im Alter von zwölf Jahren getrennt, wobei der deformierte Belial, der dem sonst "normal" gebauten Duane aus der Seite wuchs, abgeschnitten wurde und eigentlich getötet werden sollte. Er überlebte, tötete den Vater der beiden, und begleitet nun seinen Bruder, wohin dieser geht. Als gefräßiges, extrem eifersüchtiges, mörderisches, sehr buchstäblich und sehr komplett abgespaltenes Es im Weidenkorb.
Gemeinsam sinnen die beiden auf Rache, an den Männern, die sie voneinander getrennt haben. Dass Belial nicht zulassen kann, das sein Bruder hat, was ihm verwehrt bleiben soll, führt schließlich in die Katastrophe.
Basket Case ist eigentlich kein Horrorfilm, sondern eine Tragikomödie. Ein Film, der im Tragischen immer das Komische sucht, und im Absurden, im Albernen, im maßlos ins Groteske überzeichneten immer wieder eine sehr ehrliche und sehr "ernsthafte" Tragik findet. Das geht schon damit los, dass diese Tragikomödie in den Mordszenen durchaus als Horrorfilm funktioniert. Henenlotter gelingt es Suspense, eine Atmosphäre der Bedrohung aufzubauen - obwohl die creature - und Splattereffekte, wohl schon Anfang der Achtziger, höflich ausgedrückt, nicht auf der Höhe der Zeit waren und alle Frauen in diesem Film schreien - was sie übrigens sehr häufig tun - als gelte es, den Oscar für die skurrilste scream queen zu gewinnen.
Das ist nur ein Beispiel dafür, wie der Film demjenigen, der bereit ist, sich auf ihn einzulassen, immer wieder sehr verschiedene Affekte abringt, die unter der trashigen Oberfläche lauern, wie Belial in seinem Korb. (Wer indes nicht bereit ist, sich auf ihn einzulassen, der wird wohl nur das entdecken, was das Lexikon des internationalen  Films beschreibt: „Haarsträubende[n] Unfug, der auf den Brechreiz des Zuschauers spekuliert.“)
Ein anderes ist etwa die Szene, in der Belial einer attraktiven Nachbarin, in der Absteige, in der sich die beiden niedergelassen haben auflauert. Gerade dadurch, dass verhältnismäßig wenig von ihrem Körper zu sehen ist, entsteht, wenn sie ihren Slip unter dem bescheuerten Smiley-Nachthemd auszieht ein erotisches Knistern, von dem sich viele "Erotikfilme" eine gehörige Scheibe abschneiden könnten.
Schließlich, aber sicherlich nicht zuletzt ist da der Rückblick, der die Geschichte der siamesischen Zwillinge erzählt. Ein in sich abgeschlossener Film-im-Film, eine Tragödie über die Gemeinheit einer Welt, in der nicht zusammen gehören darf, was zusammen gehört. Die Grausamkeit des Vaters, der von seinem deformierten Sohn, bzw. - später - dem deformierten Teil seines Sohnes, kategorisch nichts wissen will. Die Operation, die mehr zu hören als zu sehen ist, mit knarrenden Geräuschen, die durch Mark und Bein gehen. Dann das herzerweichende Bild der kleinen Klaue, die ihren Weg aus einem Müllsack sucht.
Überhaupt: dass der Film für Belial, für dieses, in, gelinde gesagt, billigen Stop-Motion-Effekten animierte Fleischknäuel gerade am Ende offensichtlich große Sympathien hegt, uns Mitleid für diese Kreatur entlockt, zeugt von Hennenloters Liebe für die Deformierten, die Ausgestoßenen, die Nicht-gewollten dieser Erde. Was übrigens auch in den beiden Frauen Ausdruck findet, die sich Duane förmlich an den Hals werfen: während die "bürgerliche", die in einer Arzt-Praxis arbeitet eher beknackt ist, scheint, gerade die Zuneigung der Prostituierten, die ein Zimmer weiter wohnt sehr ehrlich zu sein (eine Ehrlichkeit, die sich in kleinen Gesten ausdrückt, die an das Klischee der Hure mit dem guten Herzen, dem so viele "bessere" Filme hoffnungslos verfallen, gar nicht weiter denken lässt).
Wenn Kunst darin besteht, für einen Inhalt eine angemessene Form zu finden, dann ist Basket Case große Kunst, weil er die Tragödie einer Trennung erzählt, die nie vollständig vollzogen, aber genauso wenig rückgängig gemacht werden kann, mit disparaten, nicht zueinander passenden Mitteln und Elementen, die ohne versöhnt werden zu können, doch auf eine ganz spezifische Art Sinn machen. Einen Frank Henenlotter-Sinn eben.