Mittwoch, 23. Oktober 2013

Movie of the Week 5: Alambrista! (Robert M. Young, USA 1977)



Zu Beginn trifft Roberto, gerade Vater geworden, aus der Not heraus, aber doch betont nüchtern eine Entscheidung. In die USA möchte er gehen, um seiner Tochter eine Schulbildung finanzieren zu können, damit seine Familie einmal etwas anderes zu Essen haben soll, als die ewigen Kartoffeln, die das einzige sind, was er sich mit der harten Arbeit mit dem Pferde-Pflug auf dem Feld in Mexiko finanzieren kann. Seine Mutter fleht ihn an, nicht fortzugehen, befürchtet, er werde nie wiederkommen, wie sein Vater, der vor vielen Jahren ebenfalls zum Arbeiten in Richtung Norden ging. Young erzählt das ohne großes Pathos, aber mit viel Empathie. Auf der Heckscheibe des Busses, der Roberto zur Grenze bringen wird, durch die wir seine Frau mit dem Kind auf dem Arm zum letzten Mal sehen, prangt ein Davidstern. Ein gelobtes Land wartet dann aber gerade nicht auf ihn. Sondern ein ebenso gefährliches wie entbehrungsreiches Leben. Noch mehr Feldarbeit, die für ihn durch die Mechanisierung nicht einfacher wird. Als Tagelöhner erntet Roberto Tomaten, Erdbeeren, Trauben, Salat und Gurken. In ständiger Angst vor den Einwanderungsbhörden, la migra, und der "Güte" und den Launen seiner Arbeitgeber hilf- (weil: rechts-)los ausgeliefert.


1977 war Alambrista! die erste Auseinanderstzung mit den Lebens- und Arbeits-Verhältnissen illegal eingereister Mexikaner im US-Kino. Umso erstaunlicher ist die gänzlich ideologiefreie behutsame Art, wie der Film sein Thema behandelt. Das gelingt unter anderem durch die Konzentration auf seine Hauptfigur, deren Schicksal für das von Millionen steht, und die doch nie zum bloßen Repräsentanten, zum Typ verkommt. Das Geschehen wird konsequent aus der Perspektive Robertos gezeigt. Er ist nicht der Fremde, der Andere, sondern eben die US-amerikanische Lebenswelt sieht in seinem Blick - nicht nur bei den  Ritualen eines freikirchlichen Gottesdienstes - ziemlich befremdlich und sonderbar aus. Auch das Unrecht der Ausbeutung und Instrumentalisierung der "Illegalen", wird ganz aus der Perspektive Robertos gezeigt. Nach seiner "Rückführung" durch die Behörden nach Mexiko, überquert er abermals die Grenze mithilfe einiger "Coyotes", die die Arbeiter gezielt als Streikbrecher auf einer Plantage einsetzen - und sich dafür noch bezahlen lassen: die 200 Dollar für die Kosten des Menschenschmuggels werden ihnen von ihrem Lohn abgezogen.  

"El alambre" bedeutet im Spanischen der Draht, "Alambrista" heißt Seiltänzer und ist zugleich ein Slangbegriff für die undokumentierten mexikanischen Einwanderer. Ein einziger Drahtseilakt ist denn auch dieser Film, der manchmal schlingert, aber doch nie fällt, die Lebensbedingungen seines Protagonisten ungeschönt darstellt, ohne in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu kippen. Das Tragische und das Komische gehen hier fließend ineinander über oder liegen doch nur einen harten Schnitt voneinander entfernt. Neben dem Anprangern der Verhältnisse steht die zutiefst humanistische Vorstellung von einer Verbundenheit zwischen den Marginalisierten dieser Erde - ob braun oder weiß, ob mit Green Card oder ohne. Dass Young vom Dokumentarfilm kommt, sieht man Alambrista!, seinem ersten abendfüllenden Spielfilm, durchaus an. Die Besetzung besteht aus professionellen Schauspielern und Laien. Wenn Roberto unmittelbar nach seiner ersten Überquerung der Grenze in ein notdürftiges Lager von illegalen Einwanderern kommt, werden diese von illegalen Einwanderern "gespielt", wobei die Regie-Anweisung, so berichtet Co-Produzentin Sandra Schulberg im Gespräch nach dem Film im Zeughauskino, lautete, zu tun, was sie immer tun. Gerade in seiner Darstellung der liebevollen Begegnungen, während Robertos Odyssee durch die südliche USA, hat der Film aber auch keine Berührungsängste mit dem Genre-Kino. Wenn Roberto auf Joe trifft, Mexikaner wie er, allerdings inzwischen mit Englischkenntnissen und Arbeitserlaubnis, wird der Film zu einem buddy movie. Joe bringt ihm, in einer der wunderbar witzigen Szenen, von denen es gar nicht wenige gibt, bei, con cofianza, mit Selbstvertrauen also, zu gehen und in einem US-amerikanischen Café immer "ham, eggs and coffee" zu bestellen. Wenn er die arme alleinerziehende Kellnerin Sharon kennenlernt, bahnt sich mit der fragilen Romanze eine ebenso fragile romantische Komödie an. Wenn diese Episoden dann jeweils sehr abrupt enden, spielt Young nicht selbstverliebt mit den Erwartungen des Zuschauers, sondern lässt die bedrückende Realität über die Erlösungversprechen des Genres triumphieren. Die migra gewinnt gegen die Liebe. Doch ganz am Ende gibt es doch Licht am Horizont, ohne dass die Anklage dieses Films dadurch entkräftet werden würde.
Der würdige und wundervolle Abschlussfilm der schönen Reihe "Cinema of Outsiders" im Zeughauskino zeigt, wie ehrlich, herzlich, humor- und hoffnungsvoll politisches Kino sein kann. (Aber leider viel zu selten ist.)



Mehr zur Reihe kann man hier und hier lesen.

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