Dienstag, 15. Oktober 2013

Movie of the Week 4: Narc (Joe Carnahan, USA 2002)


1. Mit dem, schon wieder aus der Mode gekommenen, Begriff mindfuck bezeichnete man ca. ab Beginn der 00er Jahre Filme, in denen sich, meist in einem finalen Plotpoint, herrausstellt, dass alles, was der Protagonist - und in Identifikation mit ihm: der Zuschauer - wahrnimmt, nicht ist, was es zu sein schien. Mit der schließlichen Aufdeckung der Identität des Protaginisten, der nicht ist, was er zu sein glaubte, wird auch die Diegese des Films 'umgeworfen'. Was er für seine und wir für die innerfilmische Realität hielten, entpuppt sich wahlweise als virtual reality, als psychotisches Wahngebilde oder Halluzination oder als 'Geisterwelt'. Bezieht sich der Begriff vorwiegend auf Filme aus den späten 90ern wie Fight Club oder The Sixth Sense, ziehen sich die Vorläufer durch die Filmgeschichte - von Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) über Carnival of Souls (1962) und Blow Up (1966). Nicht in diese Kategorie gefasst, aber doch dramaturgisch eng mit ihr verwandt, sind Filme, deren Aufklärung nicht 'alles' über den Haufen wirft, aber die Figur doch radikal in einem anderen Licht dastehen lässt. Er oder sie entpuppt sich nicht als psychisch krank oder Gespenst, aber ist doch 'nicht was er schien', in dem Sinne, dass die Motivation seines Handelns eine vollkommen andere ist, als es im vorherigen Verlauf des Films erschien. Hier wie dort wird der Vertrag zwischen Film und Zuschauer gebrochen. So fallen wir etwa in Billy Wilders Witness for the Prosecution (1956) auf die 'Inszenierung' Marlene Dietrichs herein oder fiebern in Mario Bavas Cani arrabbiati (1974) mit einem 'Helden' mit, der sich als alles andere als heldenhaft herraustellt.  (Wenn Roger Donaldsons No Way Out (1987) mit der letzten Volte endgültig ins Irr- und Unsinnige kippt, macht er sich in Perfektion über diese Art des Erzählens lustig). Mögen diese Filme auch nicht alle Voraussetzungen des mindfucks erfüllen, so unterwandern sie doch ebenfalls, wie Alexander Geimer in seinem Aufsatz zum Subgenre schreibt, die Bedürfnise und Erwartungen des Zuschauers, die sich "häufig ein Maximum an affektivem Wohlgefühl und Minimum an kognitiver Unruhe vom Ende eines Films erhoffen... Diese Präferenz kann auf ein konstantes anthropologisches Bedürfnis nach Orientierung zurückgeführt werden: Menschen streben auch in der imaginären Teilhabe an fiktiven Situationen einen Zustand an, welcher es ihnen erlaubt die Situation, falls sie echt wäre, zu kontrollieren".


2. Eine Großaufnahme von Jason Patrics Gesicht. Schnitt auf eine Drogenküche. Ein Mann flieht. Die Handkamera, heftig wackelnd, in Patrics subjektiver Sicht verfolgt ihn. Über Zäune und vollgemüllte Parkplätze, durch die Einfahrten und Gartenanlagen trister Siedlungen. Der Fliehende sticht einen Polizisten nieder. Er gelangt zu einem Spielplatz, nimmt ein Kind als Geisel. Patric erschießt ihn, die Mutter des Kindes wird von einem Querschläger an der Hüfte getroffen. Die Exposition von Narc errichtet nur scheinbar klare Dichotomien, um die Grenzen dann sehr schnell wieder zu verwischen. Drogen-Cops und Drogen-Dealer zeigen sich bereits hier in ein sehr komplexes Netz aus Schuld, Intrigen und Abhängigkeiten (nicht zuletzt: der Drogenabhängigkeit) verstrickt. Auch die Idee der Familie als ein Innen, das vor dem Außen dieser kalten und bösen Welt Schutz bieten könnte, wird nur evoziert, um gleich wieder verworfen zu werden. In den Bildern dieser Ghettowelt, wie man sie so trost- und hoffnungslos wahrlich selten gesehen hat, leuchtet die Spielplatzanlage in hellen warmen Farben, wo es sonst nur noch blaustichige Kälte gibt - und doch, das ist bezeichnend, ereignet sich gerade hier das erste der Polzistentraumata, an denen in diesem Film wahrlich kein Mangel herrscht. Im war on drugs, wie ihn der Film darstellt, gibt es nicht nur keine Guten und keine Bösen, es gibt überhaupt keine klaren Fronten mehr. Hier gibt es Niemanden, der irgendetwas unter Kontrolle hat. Nichts, was Orientierung bieten könnte. (Da es in Narc also von Anfang an um das Entgleiten der Welt, den Verlust von Kontrolle und Orientierung geht, ist die letzte Wendung, in der dem Zuschauer Film und Figuren endgültig entgleiten, überraschend wie sie sein mag, nicht mal wirklich ein twist, sonder eher ein sehr konsequenter Schlussstrich.)

  

3. Patric spielt den Polizisten Nick Tellis. Nach einem Disziplinarverfahren wegen der Spielplatzschießerei, bei der die schwangere Mutter ihr Kind verloren hat, soll sich Tellis rehabilitieren, indem er den Mord an einem Polizisten, Michael Calvass, aufklärt. Sein Partner bei der Ermittlung, der bärbeißige Henry Oak (Ray Liotta), war eng mit Calvass befreundet. Wie tief er jedoch wirklich in den Fall verstrickt ist, wird sich erst am Ende zeigen. 
Nichts daran ist wirklich neu. Vieles nah am Klischee. Dass der Film als Thriller trotzdem ganz vorzüglich funktioniert, liegt an der grimmigen Ernsthaftigkeit, mit der er die Versatzstücke zusammensetzt. Kein Hauch von Ironie oder Selbstreflexion. Die an der Arbeit ihres Mannes verzweifelnde Ehefrau, der wenig vertrauenswürdige Partner, Sozialbautürme hinter müllübersäten Brachen, wollen hier niemals der Geschichte des Genres Referenz zollen, sondern sind lediglich die Bausteine aus denen Carnahan eine durch und durch kaputte und abgefuckte Welt baut. Weder die starke Stilisierung in der Farbdramaturgie, noch die Überzeichnung bestimmter Szenen ins Groteske, führen jemals zum Bruch, zur Möglichkeit des Zuschauers zur Distanzierung. Es geht im Gegenteil um dessen größtmögliche Einbeziehung in eine absurd und grotesk gewordene Welt.


4. Schon Steven Soderberghs Traffic folgerte ein Jahr zuvor, dass der "Krieg gegen die Drogen" mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen ist. Wenn das Ende bei Soderbergh im Zeichen einer Abwendung von den Institutionen hin ins Private stand - ein Polizist begleicht eine persönliche Rechnung, ein Staatsanwalt kümmert sich um seine drogenabhängige Tochter -, ist genau das bei Carnahan Prämisse - auch wenn sich diese erst vom Ende her offenbart. In dem Maße, wie am Ende der Film dem Zuschauer entgleitet, entgleitet er auch allen möglichen ideologischen Ausrichtungen, die Polizeifilme so gerne bedienen. Er predigt weder Law & Order, bedient nicht die Vorstellung, dass hier nur mal jemand so richtig aufräumen müsste, noch geht es darum, dass die Polizisten böser sind, als die Dealer, die sie jagen - sie sind aber - mindestens - genau so kaputt. 


 5. Narc ist ein fieser, düster-nihilistischer Kotzbrocken von einem Thriller. Ein Film also, der es einem vielleicht recht schwer macht, ihn zu mögen, aber auch schier unmöglich, sich ihm zu entziehen.  
   



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