Sonntag, 20. April 2014

Die Freunde der Freunde (Dominik Graf, Deutschland 2002)

Sofort sind wir mittendrin - und zwar gleich doppelt in diesem Film, der die Dopplung schon im Titel trägt. Mitten in der Aktion und mitten zwischen den Körpern der agierenden bzw. reagierenden Figuren. Dass aber die Reaktion des jungen Mannes (Matthias Schweighöfer), der von drei anderen jungen Männern abgezogen wird, dem mit vorgehaltenem Messer Jacke und Uhr geraubt werden, so gar nicht zur Aktion passt, dass er eher genervt als ängstlich wirkt und grinsen muss "wie ein Vollidiot", kündet schon von der sonderbaren Entrücktheit dieses Film.
Nach dieser Nähe zum Geschehen, dem Mittendrin-sein folgt die - wiederum doppelte - Distanzierung, durch die Entfernung der Kamera und durch das Voice-Over, das die Handlung in der Vergangenheit verortet.
Das Mittendrin-sein der Handkamera entspricht einer Nähe der Welt des Films zur außerfilmischen Realität. Diese Welt erscheint und klingt "echter", fühlt sich "authentischer" an, als man es sonst aus Film und Fernsehen - zumindest in Deutschland - gewöhnt ist. Gleichzeitig ist da die Distanzierung durch die überbelichteten, grobkörnigen Video-Bilder, die immer auch auf sich selbst, ihre eigene Materialität verweisen, dem Film eine unheimliche Künstlichkeit geben (das grelle Sonnenlicht, das die Figuren förmlich aufzufressen, aus dem Bild zu tilgen droht, die Standlichter eines Autos, die sich als rote Punkte wie teuflische Augen ins Schwarz einer nächtlichen Straße brennen). Für einen - wie auch immer verstandenen - filmischen Realismus (den man übrigens, laut Georg Seeßlen, "als die größte cineastische Illusion ansehen kann") taugt das Defizitäre dieser Bilder eindeutig nicht. Der dialektische Coup des Films, die Synthese aus Nähe und Distanz, "Realismus" und seinem Gegenteil, besteht darin, dass wir uns von Anfang an mitten in einer Welt befinden, die nicht die sein möchte, die wir kennen, sondern eine Parallelwelt zu ihr - eine Gespensterwelt vielleicht, ein Wiedergänger der Realität.
Auf einer Party trifft Gregor (Schweighöfer) die junge alleinerziehende Mutter Billie (Sabine Timoteo). Rauschhafte Party-Szenen wie diese finden sich in vielen Dominik-Graf-Filmen - zum Beispiel in Der Skorpion, Kalter Frühling oder Eine Stadt wird erpresst. Doch dann ist das auch eine Schlüsselszene für genau diesen Film. Nicht nur, weil sich die eben Gregor und Billie, das zentrale Paar des Films, das doch nie wirklich eins werden wird hier zum ersten Mal treffen, sondern auch, weil sie einen Schlüssel - oder vielleicht gleich mehrere - zum Verständnis des Films in die Hand gibt.
Zunächst ist da der Song, zu dem Jessica Schwarz und eine andere Frau tanzen und den die anderen Party-Gäste enthusiastisch mitgrölen: Totos "Hold The Line".

It's not in the way that you hold me
it's not in the way you say you care
it's not in the way you've been treating my friends
it's not in the way that you stayed till the end
it's not in the way you look or the things that you say that you'll do

Das Schwer-fassbare, das Nicht-greifbare und die Negation sind entscheidende Elemente von Die Freunde der Freunde (in dem "Hold The Line" übrigens leitmotivisch noch öfter erklingen wird). Und: auch das wird sich wohl bewahrheiten: "Love isn't always on time." Mit den Worten "Gregor, wir haben uns zur falschen Zeit getroffen..." beginnt später ein Abschiedsbrief von Billie.
Dann gibt es auf dieser Party auch den Limbo - unter einer brennenden Stange hindurch. Dieser Tanz, den Mitteleuropäer wohl am Ehesten mit einem gut gelaunt touristischen Werbeclip-Bild der Karibik verbinden, gehörte ursprünglich zu einem Begräbnisritual - und hat vielleicht seinen Ursprung in der Enge der Sklavenschiffe. Durch ihn spuken die kolonialen Phantasmen, Erinnerungen an Verlust, Gefangenschaft und Schmerz vergangener Generationen. Im Film wird Gregor später fragen: "Wie kann etwas so weh tun, was gar nicht mehr da ist?" Durch die Erinnerung wohl, und was sind Erinnerungen anderes als Gespenster von Ereignissen, Dingen, Menschen auch, die nicht mehr da sind, aber in unserem Gedächtnis doch fortbestehen?
Schließlich mag einen das Feuer daran gemahnen, dass Limbus auch die Vorhölle ist, der Ort, in dem etwa in Dantes Inferno diejenigen warten, denen aufgrund ihrer Herkunft aus nicht-christlichen Ländern, ihrer Geburt in vor-christlichen Zeiten, ohne eigenes Verschulden also, die Pforten zum Himmelreich - zunächst - verschlossen bleiben. Ist das Internat, in dem Gregor lebt und ein Großteil des Films spielt, eine Vorhölle, in der Unschuldige (?) auf Erlösung warten? Ist es ein haunted house? Sind die Figuren des Films Gespenster? Alle? Oder nur einige von ihnen? Nun, jedenfalls tun wir wohl gut daran, der Diegese eines Films, in dem schon eine Party derart ungeheuerlich und unheimlich, geisterhaft und höllisch übercodiert ist, nicht allzu sehr über den Weg zu trauen.
Gregor geht auf ein Internat, auf das nur reiche Eltern ihre Kinder schicken können. Zum Beginn der Handlung bleiben ihm und seinem Zimmernachbarn und besten Freund Arthur (Florian Stetter) noch drei Monate bis zum Abitur. Während Gregor an die große Liebe glaubt, daran, so sagt er, dass es für jeden Menschen irgendwo einen anderen Menschen gibt, der zu ihm passt und auf ihn wartet (da ist es wieder dieses Vorhöllen-Warten), fürchtet Arthur "ernsthafte" Beziehungen, feste Bindungen offenbar, wie, tja, der Teufel das Weihwasser. Wo Gregor Billie von Anfang an verfallen scheint, er ihr allerlei Gefallen, hauptsächlich monetärer Natur, erweist, ohne dass sie ihn jemals darum bitten müsste, geht Arthur seine "Freundin", die er selbst wohl nie so nennen würde, Pia (Jessica Schwarz) scheinbar nur auf die Nerven. Ständig erzählt er von den Mädchen, die er angeblich gefickt hat, die wir aber in dem Film, von einer Minderjährigen in einem Rückblick abgesehen, nie zu sehen bekommen. Pia erzählt Gregor bei einer zufälligen Begegnung in einem Café, er habe in einer Seance mit dem Geist einer Frau geschlafen, und behaupte seit dem suchten ihn all die Geister der Frauen, mit denen er Sex hatte nachts heim. "Geister ficken" nenne er das. Die Gespenster der Liebe eines Liebesunfähigen?  
Wo sich die Beziehungen der beiden Paare offensichtlich darin spiegeln, dass sowohl Pia als auch Gregor von ihren Partnern etwas erwarten, das diese nicht zu geben im Stande sind, sind die Parallelen zwischen Billie und Arthur wesentlich geheimnisvoller. Beide haben panische Angst, fotografiert zu werden. Beide sind irgendwie in kriminelle Aktivitäten verstrickt. Billie geht mit Männern auf Hotel-Zimmer, nicht um mit ihnen zu schlafen, so sagt sie jedenfalls (aber: wem möchte man schon glauben in diesem Film?), sondern nur um ihnen die Portemonnaies zu klauen. Mit ihrem Ex-Mann hat das irgendwie zu tun, den wir nie zu Gesicht bekommen. Arthur hingegen hat von seinem Vater eine Firma vererbt bekommen, die andere Firmen berät und analysiert und alle Informationen streng vertraulich behandelt, "auch wenn sie weiß, dass der Kunde über Leichen geht". So wie es um die eigentlich Handlung des Films herum von Gespenstern zu wimmeln scheint (von unsichtbaren Liebschaften, Ex-Männern und toten Vätern), so wäre es auch nicht richtig, zu sagen, dass der Film mit diesen Nebenhandlungen Elemente von Sozial-Drama und Thriller in seine Handlung einfließen lässt, vielmehr scheinen diese Genres eher irgendwo in ihm zu spuken - wie so manch anderes. Und dann ist da noch etwas: Einmal springt Arthur aus großer Höhe und verletzt sich einen Fuß, in einer Szene wenig später hat Billie auf genau derselben Seite einen eingegipsten Fuß (versteckt sich unter diesem Gips vielleicht der Klumpfuß der Leibhaftigen?).
Wer nun meint, am Ende müsse all das aufgelöst werden, liegt falsch. Für Fragen interessiert sich Die Freunde der Freunde wesentlich mehr als für Antworten. Auf die radikale Verrätselung der ersten 85 Minuten, folgt in den letzten fünf Minuten ein radikales Nicht-Auflösen.
Was bleibt sind nur Gregors - einigermaßen hilflose - Versuche, all das wieder in einen konventionellen Sinn zu überführen, Schlüsse daraus zu ziehen, das Nicht-zu-Ende-Erzählbare zu Ende zu erzählen.   

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