Baal. Vom syrischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott zum Dämon
im Christentum. Vom Herrn („Baal“) zum Herrn der Fliegen („Baal Zebub“,
„Beelzebub“). Im zwanzigsten Jahrhundert dann, im ersten Stück des (jungen)
Anarchisten Bertolt Brecht zunächst: Der Dichter, Säufer, Weiberheld, Libertin,
Bürgerschreck, Prototyp des nach außen rücksichtslosen, nach innen
selbstzerstörerischen, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehenden
Künstlers, Prototyp vielleicht des Club 27-Rockstars (oder doch eher: der
Erzählung, die wir über ihn kennen, zum Beispiel von Oliver Stone). Dann, im
neu aufgelegten Stück des (alternden) Sozialisten Bertolt Brecht: Der „Böse“,
der Asoziale“. Einer, der so verzweifelt nach Freiheit suchte wie Baal passte
nicht auf SED-Linie. Blieb der eigentliche Text des Stückes auch mehr oder
weniger unangetastet, musste sich der Autor doch im Vorwort entschuldigend
äußern, relativieren: Baal „ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft“
und: „Ich gebe zu (und warne): Dem Stück fehlt es an Weisheit.“ Man sieht: es
ist immer eine Frage des „richtigen“ Glaubens mit diesem Baal.
An einem vorläufigen Endpunkt dieser Aneignungen, Um- und Überschreibungen
steht bzw. geht 1969 Rainer Werner Fassbinder einen Feldweg entlang, in
Lederjacke, rauchend natürlich. „Angel to some, demon to others“, nach außen
rücksichtsloser, nach innen selbstzerstörerischer, an seiner Umwelt und sich
selbst zugrunde gehender Künstler auf dem Weg zum Rockstar-Filmemacher. Die
16mm-Kamera in der Hand von Dietrich Lohmann folgt ihm, läuft eine Weile neben
ihm her, macht einen großen Bogen um ihn herum, schweift ab in den Himmel und
sieht den Vögeln beim Ziehen zu, kehrt dann zu Baal/Fassbinder zurück, der
davon geht, den Feldweg entlang. Zweieinhalb Minuten lang und ohne Schnitt, aber die Szene könnte von der Eleganz,
die man oft von Plansequenzen (auch aus prä-Steady Cam-Zeiten, bei Welles etwa)
kennt, nicht weiter entfernt sein. Sonderlich gekonnt sieht das, was die Kamera
da macht eigentlich nicht aus, zumindest nicht durchgehend. Aber aus dem Dilettantismus, daraus, wie in diesem
eigentlich verdammt prätentiösen Unterfangen, das der Film ist, einfach immer
wieder ausprobiert und munter drauflos gefilmt wird, entsteht eine sehr eigene
und sehr eigenwillige Poesie – hier schon, und auch später immer wieder. Dazu
übrigens: Der mit rockigem Blues unterlegte „Choral vom großen Baal“ - von
einigen Kürzungen und Straffungen abgesehen ganz so, wie er bei Brecht
steht.
Volker Schlöndorff drehte diesen Film als Teil einer
Brecht-Reihe im Fernsehen. Schlöndorffs eigene Regie-Karriere steckte Ende der
Sechziger bereits in einer ersten großen Krise, mit der millionenteuren amerikanischen
Produktion „Michael Kohlhaas“ war er kolossal gescheitert. „Baal“ sollte
konsolidieren. Seine Mitstreiter aber um Fassbinder und dessen Antitheater-Truppe
(unter anderem Hannah Schygulla, Irm Hermann, Günther Kaufmann) wurden erst
später, in den Siebzigern zu Stars. Die Linien, die sich hier kreuzen, machen
dieses „Fernsehspiel“ vielleicht zu einem geheimen Schlüsselwerk dessen, was
man den „Neuen Deutschen Film“ nannte. Umso bedauerlicher, dass „Baal“ über
vier Jahrzehnte in den Archiven vergammelte, weil Helene Weigel, der der Film
nicht in den ideologischen Kram passte, ein Verbot erwirkte, das spätere
Brecht-Erben aufrecht erhalten ließen – bis 2013.
Schlöndorff beschrieb sein Werk mit den Worten: „Dieser
„Baal“ ist kein Film, sondern eine Fernsehinszenierung des integralen
Brechttextes, auf Film produziert als „Fernsehspiel“.“ Was in diesem
verschwurbelten Satz munter durcheinander purzelt, beschreibt den Film
tatsächlich ziemlich gut. Zunächst einmal: eine Adaption dicht an der
Theater-Vorlage. 24 Kapitel, von Zwischentiteln eingeläutet und
durchnummeriert, den 24 Szenen des Stückes entsprechend, nur die Reihenfolge
wurde teilweise variiert. Hier und da etwas gekürzt oder umgestellt, sagen die
Schauspieler die Brecht-Dialoge, -Lieder und -Gedichte auf – und es ist auch
hier nicht die Perfektion, die die Brecht-Worte aus den Mündern von Fassbinder,
von Trotta, Schygulla und den anderen zum reinsten Gedicht macht, sondern
gerade das Provisorische im Spiel der Darsteller, denen man ihre Unerfahrenheit
anmerkt. Das over acting – vor allem Fassbinders – disharmoniert mit dem
Theatralischen, dem Festgeschriebenen, auswendig Gelernten auf eine Art, die
die ganze Zerrissenheit, Verzweiflung und Gemeinheit der Vorlage ans Licht und
aufs Zelluloid bringt.
Und dann ist der Film von der Vorlage auch wieder weit
entfernt. Wie die Handkamera sich wackelnd, meist dicht an den Körpern,
zwischen den Figuren bewegt, auf recht holprige Weise dynamisch, wie sie in
einer Szene über die nackte Haut von Rainer Werner Fassbinder und Margarethe
von Trotta wandert, deren feuerrote Haare leinwandfüllend ins Bild fallen, das
ist Film durch und durch. Die siebente Kunst ganz und gar.
Und die tollsten von den liebevoll ausgewählten Sets sind
die unter freiem Himmel. Baal und Eckart (Sigi Graue) vor einer nächtlichen
Straße. Baal in der vorletzten Szene, an der Autobahn, in der Dämmerung, die
unscharfen Lichter einer Tankstelle hinter ihm, der dicht fließende Verkehr vor
ihm hm, er dreht sich um und rennt in die Felder. In der letzten Szene dann
torkelt er sterbend aus der Waldhütte, stürzt, dann sieht man nur noch einen
Busch. Die Rückkehr zur Natur, die er erträumt, kann nur im Tod vollzogen
werden.
Am großartigsten aber eine Szene mit Fassbinder, Graue und
von Trotta (als Sofie) vor einer viel befahrenen Landstraße. Sie streiten, Baal
will die von ihm schwangere Sofie zurücklassen, schubst sie zu Boden, Eckart
sucht sie zu verteidigen, gelobt ihr, bei ihr zu bleiben, sie aber will nur
Baal. Die Ränder des Bildes sind unscharf, das überhelle Sonnenlicht frisst
sich ins grobkörnige 16mm-Material, verwandelt die drei jungen Menschen zu
Schimären, die mit vollem Körpereinsatz Brecht spielen, während der dichte
bundesrepublikanische Sechziger-Jahre-Verkehr vollkommen unbeteiligt an ihnen
vorbeirauscht.
Auch weit entfernt vom Stück hat sich der Film durch die
jeweiligen zeitgeschichtlichen Konnotationen. Schon bei Brecht, 1918, ging es
um den Menschen in der Revolte – und sein Scheitern. Darum, wie der „Ausbruch“
und alle Befreiungen immer nur in neue Gefängnisse führen. Bei Schlöndorff aber
handelt der historische Text vom gegenwärtigen Menschen in der Revolte – und
antizipiert sein Scheitern. Baal, der den Himmel liebt, mehr als irgendetwas
auf der Welt, und sich einmal wünscht, mit den Pflanzen schlafen zu können.
Baal, dem die Rückkehr zur Natur, zur Mutter,
bei einer Frau nach der anderen verwehrt bleiben muss, und der irgendwann vom
„Weib“, von der Sexualität müde ist. Baal, der aus Verzweiflung immer mehr
säuft, immer weiter aufquillt. Baal, der schließlich zum Mörder wird. Wovon
sollte diese Figur 1969 erzählen, wenn nicht vom Hippie, der zum Terroristen
wird. Davon, wie der antibürgerliche Hedonismus in die Krankheit, in die Sucht
führen kann – und die „sexuelle Revolution“ irgendwann resigniert feststellen
muss: „I can’t get no satisfaction (and I tried and I tried and I tried…)“
Und: ist dieser krude kleine Theater-Fernseh-Film heute,
2014, wenn er nach 43 Jahren wieder aufgeführt werden darf und wir wissen, wie es den Revoluzzern von einst
erging, nicht aktueller denn je? Dass sie bestenfalls
an den Lehrstühlen der Unis endeten, manche im Knast landeten, andere auf dem
Bahnhofsklo und wieder andere – die von außen betrachtet vielleicht gruseligste
Variante – im Dschungel Camp.
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