Donnerstag, 24. April 2014

Patriarchat und Gewalt I: Affliction (Paul Schrader, USA 1997)


Filme, in denen es um mörderisches Treiben in verschneiten amerikanischen Kleinstädten geht, standen in der zweiten Hälfte der Neunziger offenbar hoch im Kurs: chronologisch steht Paul Schraders Affliction genau zwischen Fargo (1996) und A Simple Plan (1998). Ein weiterer Bezug besteht zum Schaffen Martin Scorseses der Dekade: Sechs Jahre zuvor hatte Nick Nolte in Cape Fear ebenfalls einen Familienvater gespielt, der es mit einem wahrlich diabolischen Gegenspieler zu tun bekommt - und: wurde es für Paul Schrader Ende der Siebziger erst durch den Erfolg von Taxi Driver, zu dem er das Drehbuch geschrieben hatte, möglich, eine eigene Regie-Karriere zu starten, sollte Scorsese 1999 mit Bringing out the Dead erneut ein Script von Schrader verfilmen. Schließlich ist Affliction auch ein Schrader-Film durch und durch: wieder geht es um einen einsamen Mann und seine verzweifelte Suche nach Erlösung (und wie einsam er ist! Wie groß seine Verzweiflung! Und wie furchtbar weit weg alle Erlösung!)
Nun ist mit alldem über Affliction aber so gut wie nichts gesagt. Mit der gnadenlosen Cleverness der Coens hat der Film ebenso wenig gemein wie mit der moralischen Sam Raimis und die einsamen Männer in den großen Städten (sei es in Schrader- oder Schrader/Scorsese-Filmen) scheinen von der Nolte-Figur hier soweit weg zu sein, wie die monochrome Verschneitheit des Kaffs, in dem der Film spielt, vom neondurchfluteten Dschungel nächtlicher New Yorker Straßen.
Alle möglichen Spuren, die zu diesem Film führen verlieren sich letztlich im ewigen Schneetreiben einer Jagdsaison in New Hampshire - wie so manch anderes. Kein Verweis auf irgendeinen filmhistorischen Kontext vermochte es auch nur ansatzweise die Wucht zu mindern (oder auch nur: auf sie vorzubereiten) mit der mich dieser Film getroffen hat wie ein Vorschlaghammer.
Im Vorspann sieht man schwarz gerahmte Bilder einer typischen New England-Kleinstadt: hölzerne Einfamilienhäuser, eine Autowerkstadt, das Sheriffs Office, die ausgestorbene Hauptstraße, alles mit einer dichten Schneeschicht überzogen. Davon abgesehen, dass dieses vermeintliche Idyll schon an sich eher trostlos als friedlich wirkt, klingen auf der Tonspur die Hörner, dräuend, unheilverkündend. Am Ende der Credits hören wir eine Stimme aus dem Off. Sie gehört Willem Dafoe und erzählte eine Geschichte, über die, so heißt es, in diesem Ort sonst niemand spricht. Das Off, aus dem diese Stimme erklingt, konstituiert ein Jenseits zu den Bildern des Films, aus dem sich einer meldet, der nicht länger schweigen kann. Wie immer man aber diesen Sprechakt deuten möchte (die heilende, befreiende Wirkung des Sprechens kennt man in der psychoanalytischen talking cure wie in der christlichen Beichte) - er kommt zu spät! Die Katastrophe ist längst geschehen - und dass sie es ermöglichen, irgendwie weiterzuleben ist die einzige Heilung, die die Worte in diesem Film noch versprechen können.
In der Geschichte, durch die uns Rolfe Whitehouse (Dafoe) führt, geht es um seinen älteren Bruder Wade (Nolte). Wir lernen ihn kennen als hoffnungslos überforderten Vater, der verzweifelt versucht, eine Beziehung zu seiner jungen Tochter Jill aufzubauen, die bei ihrer Mutter lebt, seiner Ex-Frau, die ihn für einen reicheren Mann verlassen hat. Schon der Besuch bei Wade zu Halloween scheint Jill zu viel zu sein. Sie will nach Hause, sagt sie, zu ihrer Mutter (und die Mutter als Zufluchtsort vor dem emotionalen Versagen des Vaters, ist ein Motiv, dass sich durch die dysfunktionalen Familienkonstellationen dieses Films ziehen wird).
Als im und am Leben Gescheiterten lernen wir Wade kennen, er ist der Sheriff in dem kleinen Ort Lawford (Festungen des - väterlichen - Gesetzes und weiße Häuser, ein Film voller sprechender Namen), aber mit den glorreichen Gesetzeshütern im Western hat er sowenig gemein, wie der eingeschneite Ort am Ende der Welt mit den Freiheitsversprechen der frontier. Ein ziemlicher Scheißjob ist das, und ein ziemlicher Loser ist dieser Mann - sogar für Lawford-Verhältnisse. Wie es in ihm brodelt kann man am Anfang nur erahnen, auch wenn man durchaus sieht, dass es ihm schon hier manchmal erhebliche Mühen kostet, die Beherrschung zu behalten, seine Wut im Zaum zu halten. Wo dieses Brodeln seinen Ursprung hat jedoch, sehen wir in ein paar Rückblenden in Wades und Rolfes Kindheit. Eine grobkörnige vollkommen entfärbte Erinnerungswelt, eingefangen in verwackelten Handkamerabildern. Hier bietet nichts mehr halt. Und in die Erinnerung und den Film bricht wie eine Naturgewalt James Coburn als gewalttätiger, ständig besoffener Vater. Keine zwei Minuten Screen Time braucht Coburn, damals knapp siebzig, um zu einem der bedrohlichsten bösen Väter der Filmgeschichte zu werden. Ja, eigentlich bedarf es dazu nur eines einzigen Close-Ups seines knittrigen, vollkommen verhärteten Gesichts. Ein Gesicht wie in Stahl gegossen auf einem Körper mit der Statur eines Braunbären. Dass mit dem ersten Flashback, in dem Coburn seine beiden Söhne zwingt, seit Monaten gefrorenes und eingeschneites Holz zu stapeln ("What the hell are you? A quitter?!"), der Grundstein für einen konventionellen Familienroman gelegt ist (der Sohn eines hyperbrutalen Vaters kämpft gegen seine eigenen Aggressionen, gegen das innere Erbe des Mannes, den er so sehr hasst) tut im Angesicht der Erscheinung Coburns eigentlich kaum noch zur Sache. Diese Patriarchen-Gestalt, die, noch wenn sie so betrunken ist, dass sie sich kaum auf den Beinen halten kann, eine unendlich große Gefahr für die beiden Jungen und ihre Mutter zu sein scheint, verkörpert etwas, das weit jenseits psychologischer und soziologischer Deutungsmuster liegt. Ein mythisches, ganz und gar Böses. Eine Bibelfigur vielleicht, die wohlmöglich ihren Ursprung in der Kindheit des streng calvinistisch erzogenen Paul Schrader hat. (Übrigens hat Coburn für diese Rolle den Oscar als bester Nebendarsteller bekommen. Und wenn ich als jemand, dem der glamouröse Zirkus der Academy Awards eigentlich eben sosehr am Arsch vorbeigeht wie die Art von Hollywood-Qualitäts-Kino, die hier in der Regel absahnt, jemals eine Entscheidung der Jury zu hundert Prozent nachvollziehen konnte, dann ist es diese.)
In einem späteren Flashback versucht der kleine Wade vergeblich den noch kleineren Rolfe und die Mutter vor der Gewalt des Vaters zu beschützen - in der Whitehouse-Küche, die ganz blaustichige Grobkörnigkeit ist. Das Kinder/Söhne Frauen/Mütter vor der Gewalt von Männern/Vätern zu schützen versuchen, ist eine Konstellation, die sich in verschiedensten Variationen durch den Film ziehen wird. Die Austauschbarkeit der Beteiligten zeigt, dass es Schrader gerade nicht um häusliche Gewalt geht. Vielmehr erscheint ein Begriff wie "häusliche Gewalt", wenn man diesen Film sieht, wie eine Verharmlosung, die Individualisierung eines Menschheitsproblems: patriarchale Gewalt.
Noch relativ zu Beginn sagt Wade einmal, er fühle sich oft wie ein ausgepeitschter Hund, er habe zwar ein bisschen geknurrt, aber nie gebissen. Als er eine große Verschwörung in Lawford wittert, in die unter anderem sein bester Freund Jack (Jim True-Frost, bekannt aus The Wire) verstrickt zu sein scheint, meint er, seine Stunde sei gekommen. Und wenn Wade Whithouse der Welt etwas zu beweisen hat, dann dass er kein quitter ist.
Die große Leistung, die Nick Nolte mit Bravour gelingt, ist es, sich mehr und mehr selbst in den bösen Vater zu verwandeln. Er nimmt nicht nur dessen Atrribute an (etwa die Whiskeyflasche oder den Fünfziger Jahre-Truck) er wird zu ihm.
So großartig der Film auch in den kleineren Rollen besetzt ist, letztlich gehört er ganz und gar Nolte und Coburn und ihrem Vater-Sohn-Konflikt. Für Frauen (etwa Wades von der wunderbaren Sissy Spacek gespielte, lange Zeit verständnisvolle Freundin) oder auch für die androgyne Verletzlichkeit eines Willem Dafoe ist zwischen diesen Männern kein Platz. Dafoe bleibt in Affliction die gesamte erste Hälfte lang nur eine Stimme - wenn nicht aus dem Off, dann am Telefon.
Erst nach dem - denkbar lakonisch dargestellten - Tod der Mutter kehrt er in den Ort zurück, dem er, wie dem Gesetz des Vaters, nur scheinbar entkommen ist.
Das Erlösungsversprechen am Ende war in keinem Schrader-Film so brüchig. In einer Einstellung, die sich für immer ins Gedächtnis des Zuschauers brennt, sitzt Nolte am Tisch des väterlichen Hauses, die väterliche Flasche in der einen, das Glas in der anderen Hand. Er trinkt, während man durch das Fenster im Hintergrund sieht, wie der väterliche Truck und die väterliche Scheune brennen, mit der Leiche des Vaters. Zwischen der Hölle, die Lawford heißt, und einem Himmel, der nie so weit entfernt schien, liegen für Wade noch die Qualen des Fegefeuers - mindestens.
Und: was bleibt Rolfe, dem ewigen kleinen Bruder? Nun zunächst wieder nur seine Stimme. Sie führt uns aus dem Film, wie sie uns zu Beginn in ihn hineingeführt hat. Inhaltlich ist dieser Epilog ein flammendes Plädoyer wider die Gewalt, die Menschen - natürlich nicht nur, aber eben auch: Männer - von Kind an zu emotionalen Krüppeln macht. Was aber in jedem versöhnlicheren Film, ja, vielleicht, wenn es von irgendeiner anderen Stimme als der Willem Dafoes gesprochen würde, wohl ins Pathos kippen würde, bleibt in Affliction eiskalt. Die Beiläufigkeit, mit der diese Stimme noch über einen so kaltblütigen wie "sinnlosen" Mord hinweggeht, lässt Rolfe noch gespenstischer erscheinen als seinen Bruder. Als ob ihm noch der letzte Ausweg in die Gewalt verwehrt bliebe.
Weil ich mir keine bessere Einführung in eine Text-Reihe über Patriarchat und Gewalt vorstellen kann, seien die letzten Worte des Films hier ausführlich wiedergegeben:

     The historical facts are known by everyone. All of Lawford, all of New Hampshire, some of Massachusetts. Facts do not make history. Our stories, Wade's and mine, describe the lives of the boys and men for thousands of years: boys who were beaten by their fathers, whose capacity for love and trust was crippled almost at birth, men whose best hope for connection with other human beings lay in detachment, as if life were over. It's how we keep from destroying in turn our own children and terrorizing the women who have the misfortune to love us; how we absent ourselves from the tradition of male violence; how we decline the seduction of revenge. .... The house is still in Wade's name, and I keep paying taxes on it. It remains empty. Now and then, I drive out there and sit in my car, and wonder, why not let it go? Why not let LaRiviere buy it and build the condominiums he wants there? We want to believe Wade died that same November, froze to death on a bench or a sidewalk. You cannot understand how a man, a normal man, a man like you and me, could do such a terrible thing. Unless the police happen to arrest a vagrant who turns out to be Wade Whitehouse, there will be no more mention of him. Or his friend, Jack Hewitt. Or our father. The story will be over, except that I continue.

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