Mittwoch, 12. Juni 2013

Weil das Kübelkind gerne fickt.

So lautet einer der Punkte in dem Statement "Warum Kübelkind?", mit dem Ula Stöckl und Edgar Reitz ihre 1970 entstandene Kurzfilm-Reihe Geschichten vom Kübelkind begründeten. (Das komplette Statement findet sich hier, mehr zu diesem, in seiner Form in der Film-Geschichte wohl einzigartigen, Projekt gibt es hier und hier zu lesen.)

Drei der insgesamt 25 Kübelkind-Episoden waren diese Woche im Arsenal in dem von Florian Wüst kuratierten Programm "Also gehen sie und kaufen" zu sehen, das eine Auswahl deutscher und chilenischer Filme aus den frühen 1970er Jahren vereinte.
In der Beschreibung auf der Webseite des Arsenals heißt es:
"Während die westlichen Industrienationen Anfang der 70er Jahre die Weichen zur Radikalisierung des Kapitalismus stellten, erkämpfte sich die chilenische Arbeiterklasse eine demokratisch gewählte, sozialistische Regierung. Gesellschaftliche Veränderungen werden seit jeher durch Filme reflektiert und mit hervorgebracht. Vor diesem Hintergrund bezieht Florian Wüst chilenische und westdeutsche Filme aufeinander und auf heute".
Wahrlich interessant ist der Zusammenhang, der sich aus den ersten beiden Filmen ergibt. In Kübelkinds Kindheit sitzt die Titelfigur, mehr oder weniger buchstäblich, in der Scheiße, im Dreck zumindest, in ihrem Kübel. Doch dann erscheint Frau Wohlfahrt, um sich ihrer anzunehmen. Die Pointe dabei: Die Welt da draußen scheint für Kübelkind gar nicht umbedingt schöner oder erstrebenswerter zu sein als ihr Kübeldasein. Jedenfalls gehen die Versuche der guten Frau Wohlfahrt, sie in diese zu integrieren, gründlich fehl. 
"Es sieht am Anfang so aus, als wäre Kübelkind gern im Kübel. Zumindest kennt sie es nicht anders. Dann kommt einer von uns und sagt, das ginge so nicht. Jeder hätte einen Vater und eine Mutter zu haben, brauche ein schönes Bett in einem hellen Zimmer und viele liebe Leute um sich herum. Kübelkind kennt das leider alles nicht, meint es aber freundlich, wenn sie sich darauf einläßt, ihren Kübel zu verlassen." (Stöckl)
Auch in gar nicht metaphorischer Scheiße, ihrer eigenen nämlich, sitzen die Bewohner eines chilenischen Slums, in der Agit-Prop-Doku Casa o mierda (ebenfalls von 1970). Außerhalb der Stadt, wo die Gesellschaft, die sie ausgeschlossen hat, sie nicht riechen muss, fristen sie ihr Dasein in ihren Wellblechhütten ohne Strom, Wasser oder Kanalisation: condenados a vivir en la mierda! Ihre Lebensbedingungen und ihren Kampf für menschenwürdigen Wohnraum dokumentiert der Film.
Klarer Höhepunkt des Programms für mich: die sechzehnte Kübelkind-Episode Besonders nette Eltern. Das Kübelkind kommt zu einer neuen Pflegefamilie. Weil ihr neuer "Bruder" seinen errigierten Schwanz ins elterliche Wohnzimmer - und die Kamera - hält, wird er vom Vater dazu verdammt, im Badezimmer zu sitzen und sich dafür zu schämen, was für ein Schwein er ist. Das Kübelkind geht zu ihm, ihn zu trösten. Sie ficken, sie auf
ihm sitzend, eingklemmt zwischen Waschbecken und Kloschüssel. Am Ende, auch ein sehr erwähnenswertes Bild, spielt, wieder im Wohnzimmer, ein Mädchen weinend Geige. 
(Zu Raúl Rúiz' La expropiación, dem mit 63 Minuten Laufzeit am Abstand längsten Beitrag des Programs, werde ich vielleicht später noch einmal gesondert ein paar Zeilen schreiben.) 

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