Donnerstag, 6. Juni 2013

Chaplin / Lumet



Gestern im Arsenal: Sidney Lumets Kammerspiel-Klassiker Die Zwölf Geschworenen (leider ist die 35-mm-Kopie aus dem Archiv des Hauses gerade bei den Rollenwechseln äußerst brüchig und - was viel schlimmer ist - deutsch synchronisiert.) Als Vorfilm: Police, ein Kurzfilm aus dem Jahr 1916 von und mit Charlie Chaplin.

Die Filme Chaplins, vor Allem natürlich die vor 1940, in der er die Figur des Tramps spielte, sah ich erstmals als Kind als Fernseh-Mitschnitte auf VHS bei meinem Vater. Was ich sah - und liebte! - war der lustige Mann mit dem unverwechselbaren Entengang, den zu großen Schuhen, dem schwarzen Anzug, der Melone und dem Spazierstock. Viel später begriff ich, dass dieser Mann bei aller Komik doch eigentlich ein Obdachloser war. Gestern sprang mir noch mal ins Auge, wie heruntergekommen diese ikonographische Figur doch ist, wie schmutzig und verschlissen der Anzug und der Hut.
Wenn ich die Filme heute wiedersehe verblüfft mich, weil es so wenig mit meinen Kindheitserinnerungen in Einklang zu bringen ist, wie genau sie die sozialen Missstände ihrer Zeit skizzieren. Die Geschichte um einen Waisenjungen, der einen neuen Vater findet in The Kid hat mich letztes Jahr, bei der ersten Sichtung nach was weiß ich wie langer Zeit, ebenso berührt wie damals, aber mir fiel erstmals auf, wie dreckig und heruntergekommen die Gassen sind, in denen der Film spielt, wie prekär die Lebensverhältnisse, die er zeigt. Ich weiß noch, wie mein Vater, mein Bruder und ich damals brüllten vor Lachen, und merke doch erst heute, welch vehemente Kritik an den verschiedensten Autoritäten, an Heuchelei und den Lebensverhältnisen des Subproletariats dieser Humor befördert. Vielleicht besteht Chaplins große Kunst, die umso größer und wichtiger ist, je mehr Hollywood sie später fast vollkommen vergessen hat, darin, gleichzeitig das Gefühl und den Verstand anzusprechen. Er macht Filme, in denen der Erwachsenen beständig Neues entdecken kann, ohne dass dabei doch das, was das Kind einst faszinierte, verloren ginge.

Fasziniert haben mich auch die drei Filme Sydney Lumets aus den Siebzigern, die ich Anfang des Jahres gesehen habe. Serpico, Dog Day Afternoon und Network - die beiden letzteren zum ersten Mal. Worin sich diese Faszination begründet wurde mir erst bei 12 Angry Men richtig klar. Es ist die Schnörkellosigkeit, mit der der Regisseur - manchmal virtuoses, zumindest aber solides - Handwerk ganz in den Dienst einer Geschichte stellt.
In 12 Angry Men treibt Lumet, gleich zu Beginn seiner Regie-Karriere, dieses Vorgehen auf die Spitze. In diesem Film ist kein Bild zu viel und jedes an seinem Platz, jede Einstellung erfüllt - mit Bravour - eine klare Funktion in der Erzählung.  Zu dieser Schnörkellosigkeit gehört auch die genaue Absteckung des Themas. Es geht um die Wahrheitsfindung in einem Geschworenenprozess und alles Weltanschauliche daran, ergibt sich eben aus dieser Geschichte. Fragen zu Recht oder Unrecht der Todesstrafe, die den Angeklagten im Falle einer Verurteilung erwarten würde, oder der Tatsache, dass es eben zwölf Männer sind, die über dieses Schicksal zu entscheiden haben, wären sicher interessante Themen für andere Filme, in diesem hier würden sie unnötige Abschweifungen bedeuten.  
Ein junger Mann soll seinen Vater erstochen haben. Nach dem Prozess ist es an den zwölf Geschworenen, über seine Schuld zu entscheiden. Bei auf den ersten Blick eindeutiger Beweislage, meldet zunächst nur einer
der Männer (Henry Fonda), deren Namen wir nicht erfahren, einen begründeten Zweifel an der Schuld des Angeklagten an.
Dieser Zweifel eines Einzelnen, sein Misstrauen gegenüber dem allzu Offensichtlichen, steckt allmählich Andere an.
Einen ersten Sieg erringt Fonda über die, für die schon wegen seiner Herkunft aus den Slums ganz klar ist, dass der Junge schuldig ist, die ihn möglichst schnell auf den Stuhl bingen wollen, um pünktlich zum Baseball-Spiel zu kommen - an vorderster Front ein großartig cholerisch agierender Lee J. Cobb -, indem er sie dazu zwingt, überhaupt über den Prozess zu sprechen. Nach und nach wendet sich das Blatt, werden immer mehr der Männer bereit, eine haargenaue Analyse der über die Tat bekannten Fakten und der verschiedenen Zeugenaussagen an die Stelle vorschneller Schlüsse zu stellen, wird das vermeintlich Einfache immer komplexer - im Fall wie im Film. 
Der Blick geht vom oberflächlichen Anschein in die Tiefe der psychologischen Beweggründe sowohl des vermeintlichen Täters als auch der Zeugen, die ihn belasten und der Anwälte, die ihn verteidigen. Aber auch innerhalb des Saales spielt die Psychologie und Sozialisierung des Einzelnen eine große Rolle, genau wie die sich immer rasanter verändernde Gruppendynamik, die von der mise-en-scène durch ständig neue Figurenkonstellationen zum Ausdruck gebracht wird. Nach und nach setzt sich in allen der zwölf Männern der Teil durch, der die Wahrheit will, statt des Vorurteils, der langsam beweisen will, statt schnell zu wissen, der argumentieren will, statt zu pöbeln.
So entwickelt sich zu einem seriösen demokratischen Strafprozess, was als Farce begann. Und aus einem Film, der, abgesehen von drei kurzen Szenen, in einem einzigen Raum spielt, und auf Musik fast vollständig verzichtet, wird nicht nur einer der spannendsten Thriller, die ich kenne, sondern auch eine Utopie davon, was ein Rechtsstaat sein könnte - und wahrscheinlich in der Realität viel zu selten ist.





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