Freitag, 6. Dezember 2013

Movie of the Week 9: Turks fruit (Paul Verhoeven, Niederlande 1973)



Einmal legt sich der Bildhauer Eric (Rutger Hauer) mit einem seiner Auftraggeber an, weil es dem ziemlich mißfällt, dass er an einer Statue des wiederauferstandenen Lazarus Maden und Würmer zeigt. Aufgebracht argumetiert er, dass es doch in der Schrift stehe, dass er drei Tage tot war, sein Körper also Zeichen des Verfalls zeigen müsse. Erics Frau Olga (Monique van de Ven) moniert an anderer Stelle, dass er eine Zeichnung verkauft, die das Ehepaar beim Sex zeigt. Kunst entsteht bei Paul Verhoeven nicht aus der Freiheit, alles zeigen zu dürfen, sondern aus dem Zwang, alles zeigen zu müssen. Sie ist also immer exihibitionistisch und der Verhoeven-Künstler immer ein Provokateur (und übrigens auch einer der vornehmlich splitterfasernackt an und bisweilen auch vor die Tür geht).
Doch fangen wir am Anfang an: Der Film beginnt mit einer Gewaltphantasie Erics (die sich erst im Nachhinein als solche zu erkennen gibt), in der er seine Ex-Frau Olga und ihren neuen Mann blutrünstig ins Jenseits befördert. Dann, in einer Prolepse (die sich erst im Nachhinein als solche zu erkennen gibt), vögelt sich Eric durch Amsterdam. Neue Szene (einmal sogar: neue Einstellung), andere Frau. Erics Begehren, das nichts jenseits der eigenen Befriedigung kennt, ist asozial. So gibt er seinen diversen Liebschaften nicht nur den Laufpass, wenn er mit ihnen fertig ist, er wird ihnen gegenüber auch ausgesprochen grob, wenn sie ihn an genau das erinnern, was er durch sie zu vergessen sucht: Olga. (Das schöne an Verhoevens exhibitionistischer Kunst - die selten schöner war als hier - ist, dass sie die Asozialität von Erics Begehren und die in ihr enthaltene Allmachtsphantasie ("Ich ficke besser als Gott.") zwar zeigen, aber nicht bewerten oder verurteilen muss.)
Als sich Eric das Scheitern des sexuellen Ausbruchversuchs aus seinem Gefühlsleben schließlich eingestehen muss, beginnt die Rückblende auf seine Beziehung zu Olga - die ihrerseits einen gescheiterten Ausbruchversuch darstellt.
Eric lernt Olga beim Trampen kennen. Schnell sind die Verhältnisse zwischen den beiden geklärt - durch schnellen Sex auf dem Rücksitz. Schon ihre ersten gemeinsamen Szenen verdeutlichen die emotionale Achterbahnfahrt, die ihr Beziehungsleben im folgenden ausmachen wird - und die auch in der stark schwankenden Stimmung des Films selbst Ausdruck findet. Beim Anziehen klemmt sich Eric seinen Schwanz im Reißverschluss seiner Jeans ein. In einem anliegenden Haus versuchen die beiden, Eric unter beständigen Schmerzen, bei einem älteren Ehepaar eine Zange zu organisiseren. Indem Jan de Bonts durchweg großartige Kamera zeigt, was Teenie-Sex-Komödien bis heute eher im Off beliessen, den im Reißverschluss klemmenden Schwanz, wird die groteske Komik der Situation von einer viskeralen Drastik überschattet, dass einem das Lachen im Hals stecken bleibt. Eine knappe Minute später ereignet sich auch noch ein anderer, ein "richtiger" Unfall. Die beiden fahren gegen einen Baum. Im Gegenlicht trägt Eric die blutende Olga über die Straße. Viele Autos fahren einfach vorbei, bevor eines hält.
Komödie und Tragödie, ausschweifender Sex- und - im besten Sinne des Wortes - pathetischer Liebes-Film, großes Gefühl und große Gemeinheit liegen hier nicht nur mitunter nur einen Schnitt voneinander entfernt, sie begegnen sich auch des öfteren in ein und derselben Szene.
(Auch ganz toll: eine Liebesszene im Regen. Nach Großaufnahmen der Gesichter des Paares, Umschnitt in die Totale. Pittoresk die Gasse im Hintergrund mit dem Pflaster und ihren alten Häuschen, verregnet, verschwommen. Mittig eine Laterne. Ein Bild, wie aus einem Musical. Aber: bei Verhoeven macht strömender Regen auch pitschnass - und sich dem auszusetzen, sich gar in einer Pfütze zu suhlen, hat etwas ziemlich masochistisches. In Verhoeven'scher Schönheit steckt immer ein gutes Stück Verzweiflung.)
Olgas Eltern, denen der Retter und neue Freund ihrer Tochter vorgeführt wird, sind Karikaturen des Kleinbürgertums. Die Mutter in seiner niederträchtigsten, der Vater in seiner gutmütigsten Form.
Aber Olgas Ausbruch aus der Familie schlägt fehl, sie und Eric vertragen sich einfach nicht. Doch auch ihr baldiger Gatte scheitert an eben diesem Milieu, das zwar heuchlerisch genug, aber kaum noch bigott, konservativ in sexuellen Dingen ist. Beim Abendessen bei den Schwiegereltern, eine schlüpfrige promiskuitive Gesellschaft, in Rotlicht getaucht, in der sich niemand daran zu stören scheint, das Olgas Brüste aus ihrem Kleid hängen, bleibt dem Provokationskünstler gar nichts mehr übrig, als seine Schwiegermutter vollzukotzen. Danach, in einem Akt der Selbstverachtung darüber, wie ähnlich ihm diejenigen sind, von denen er sich abgrenzen will, sein eigenes Spiegelbild. 
So düster wie märchenhaft dann das letzte Drittel des Films. Die Wiederbegegnung des Paares nach der Trennung. Die zwei gehören zusammen - bis das der Tod sie scheidet. Auf genau den aber wartet Olga, sie ist krank. Eric pflegt sie. Darin liegt, nach den egozentrischen sexuellen Exzessen zu Beginn, seine Entwicklung. Nun befriedigt er die Bedürfnisse eines anderen Menschen - bis zum bitteren Ende.
Schon sonderbar, wie sehr in diesem Film mit seinem Zwang alles zeigen zu müssen, Provokation und Skandal niemals zum Selbstzweck werden. Wenn in eine volle Kloschüssel oder die Bettpfanne von Olgas sterbendem Vater, gefilmt wird, die Kamera über verfaulte Lebensmittel oder - exponiert in der letzen Einstellung - über Müllberge wandert, hat das eindeutig seinen Platz in einem Film, der von den Kreisläufen des Lebens handelt. Von seiner Schönheit und der Hässlichkeit dessen, was der Mensch aus ihr macht. Vom Tod. Von Liebe, Sexualität, Spass und dem, was bleibt.
Ein ekelhafter und wunderschöner Film. Herzhaft komisch und tot-traurig. Ein Meisterwerk.

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