Sonntag, 22. Dezember 2013

Amador (Fernando León de Aranoa, Spanien 2010)

Zum Werk des spanischen Regisseurs Fernando León de Aranoa hatte ich 2007, anlässlich des Deutschlandstarts seines vierten Films, Princesas, einen Text in der filmzentrale geschrieben. Da ich in den Jahren, die seit dem vergangen sind, meiner Cinephilie eher sporadisch gefröhnt habe, ist es an mir vorbeigegangen, dass León de Arranoa 2010 einen fünften Film gedreht hat, der, wie schon die beiden Vorgänger, damals im Panorama der Berlinale lief.

Mit Amador knüpft Fernado León de Aranoa an die Tendenz seiner vorherigen Filme an, die Marginalisierten der spanischen Gegenwart ins Zentrum seines Werkes zu stellen. Nach Jugendlichen in einem Armutsviertel (Barrio), Arbeitslosen (Los lunes al sol) und Prostituierten (Princesas), geht es nun um die südamerikanische Immigrantin Marcela (Magaly Solier), die mit ihrem Freund Nelson (Celso Bugally) am Rande von Madrid lebt. Sie halten sich, mehr schlecht als recht, mit einer Blumenhandlung über Wasser. Weil das Geld für einen neuen Kühlschrank für die Ware fehlt, nimmt Marcela einen weiteren Job an. Sie soll Amador pflegen, einen alten Mann, dessen Tochter mit Familie und Hausbau beschäftigt ist. Zwischen ihr und dem bettlägrigen Alt-Linken entwickelt sich bald eine innige freundschaftliche Beziehung. Amador bemerkt schnell, was Marcela bisher niemandem erzählt hat: Sie ist schwanger. Zu diesem Geheimnis gesellt sich bald ein weiteres. Als Amador unvermittelt stirbt, hält Marcela seinen Tod geheim, um ihren Job nicht zu verlieren.
Die intratexteuellen Verbindungen, die sich durch das Werk des Regisseurs ziehen, werden auch in Amador fleißig weiter gestrickt. Wieder geht es nicht nur um Armut, sondern auch - eng mit dieser verbunden - um Geheimnisse, (Selbst-)Täuschungen und (Lebens-)Lügen. Wieder gibt es auch zwischen den Schlechtgestellten der Gesellschaft knallharte Konkurenz und Hierarchien. Aber auch Freundschaften, die ethnische, Alters- und Bildungsunterschiede transzendieren - und das Leben etwas erträglicher machen. Neben Amador ist das für Marcela auch die Prostituierte Puri, die Amador einmal die Woche besuchte, und, bald nach dessen Tod, zu Marcelas einziger Mitwisserin wird (diese Verbündeten sind bei León de Aranoa auch oft die einzigen Menschen, mit denen Geheimnisse geteilt werden.)
León de Aranaoa hat ein sehr feines Gespür fürs Soziale und Alltägliche, für Milieus, für Dialoge und Dialekte, für Blicke und Gesten. Aber: Geschichten "wie aus dem Leben gegriffen" erzählen seine Filme gerade nicht. Vielmehr scheinen seine Plots geradezu auf ihre Konstruiertheit zu verweisen, wird der genau beschriebene, ziemlich triste Alltag seiner Figuren "mythisch" und "poetisch" überhöht. Marcela wird zu einer Hüterin der Geheimnisse von Schwangerschaft und Tod, des werdenden und des vergangenen Lebens. Übrigens konzentriert sich Amador, mehr als alle vorherigen Filme León de Aranoas, auf eine einzelne Hauptfigur. Mit Magaly Solier hat er für diese eine wunderbare Darstellerin gefunden. Die junge Peruanerin ist wohl vor allem bekannt für ihre Rolle in Claudia Llosas La teta asusatada, der 2009 den goldenen Bären gewann und - nicht zuletzt - berühmt geworden durch ihre, den eurozentristischen Festivalbetrieb gründlich durcheinander wirbelnde Rede auf Quechua. Die ganze Schwere der Geheimnisse, die auf ihr lasten, lassen sich von ihren traurigen Zügen ablesen. Aber auch die Erleichterung ihrer Befreiung, denn  Amador erzählt schließlich auch die Geschichte von ihrer Emanzipation. Durch die Ereignisse des Films schafft sie es, sich aus der Beziehung zu Nelson zu lösen, die sie unglücklich macht, ohne dass sie mit jemandem, am allerwenigsten wohl mit ihm, darüber sprechen könnte.
Einerseits greift León de Aranoa auch in seinem fünften Film bestimmte Motive auf, die sich schon in den früheren fanden. So gab es schon in Los lunes al sol eine weibliche Figur die sich selbst als Meerjungfrau bezeichnete, um für den Gestank, den sie von ihrer Arbeit aus einer Fischfabrik mitbrachte, eine angenehmere glücklichere Erklärung zu schaffen. Eine Meerjungfrau nennt auch Amador eine Frau im Rollstuhl, die er von seinem Fenster aus sieht - und die in dem Film immer wieder auftaucht. Weil ihre Beine verdeckt sind, behauptet er, dass man ja nicht wissen könne, ob sich wirklich Beine unter ihrem Rock befänden - oder doch eine Flosse. Dieses Reportoire an Motiven wird aber auch mit jedem neuen Film vergrößert. In Amador sind diese Leitmotive neben Blumen vor allem Puzzle. Mit ihnen vertreibt sich Amador seine Zeit. Er behauptet jeder Mensch habe bei der Geburt die Teile für das Puzzle seines Lebens bekommen, und es sei nun an ihm oder ihr, sie selbst richtig zusammenzusetzen. Dass Lebensentwürfe - um die es in diesem Film ausdrücklich auch geht - nicht (nur) eine Frage sozialer Standards sind, etwas, das man sich leisten können muss, darin besteht die Utopie, die die Titelfigur der Hauptfigur zurücklässt.
Was den Film davor bewahrt, zu einem reinen Migrantinnen-Rührstück zu werden, dem er immer wieder doch ziemlich nahe kommt, ist, dass es in León de Aranoas Puzzle, neben tragischen und traurigen auch - auf ziemlich sarkastische Weise - lustige Teile gibt.
Ein Priester, der auf Marcelas Trauer aufmerksam wird, weil sie, von Gewissensbissen geplagt, in eine Kirche geht, um für Amador zu beten, erklärt ihr, wie die Toten bei den Lebenden bleibenden, wie sie ihnen, wie die Blumen, über den Tod hinaus helfen.
Die wunderbare pechschwarzhumorige Pointe des Films besteht dann eben darin, dass er solche spirituell-religiösen Weisheiten knallhart auf den Boden der materiellen (kapitalistischen) Realität zurück holt. Und übrigens: solche "Zuwendungen" und "Hilfestellungen" von den Toten brauchen in Krisenzeiten nicht nur die Armen.

Auf den nächsten Film von Fernando León de Aranoa freue ich mich schon. Ich hoffe, dass ich dieses Mal nicht erst nach drei Jahren auf seine Existenz aufmerksam werde.   

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