Freitag, 22. November 2013

The Gift (Sam Raimi, USA 2000)

Vor zwei Jahren ist der Mann von Annie (Cate Blanchett) bei einem Unfall ums Leben gekommen. Um sich und ihre drei Söhne über Wasser zu halten, nutzt sie ihre Gabe, bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit zu rekonstruieren oder aus der Zukunft vorherzusagen. Sie legt Karten für verschiedene Bewohner von Brixton, der Kleinstadt irgendwo im Süden der USA, in der sie lebt. Damit macht sie sich nicht nur Freunde. So rät sie Valerie Barksdale (Hillary Swank), ihren Mann Donnie (Keanu Reeves), der sie schlägt und misshandelt, zu verlassen, und zieht damit seinen Zorn auf sich. Er beginnt sie und ihre Kinder zu bedrohen. Als Jessica King (Katie Holmes), Tochter aus gutem Hause, Dorfschönheit und Verlobte des Schuldirektors Wayne Collins (Greg Kinnear), verschwindet, leiten Annies Visionen und Träume die Polizei zu einem Teich auf dem Grundstück der Barkdales, wo sie Jessicas Leiche finden. Donnie wird des Mordes angeklagt, vor Gericht gestellt und verurteilt. Nur: hat er Jessica tatsächlich ermordet?
Nach dem ziemlich misslungenen Baseball-Liebes-Drama For Love of the Game, knüpft Raimi mit The Gift an die gute Tradition von A Simple Plan an (übrigens nach einem Drehbuch von Billy Bob Thornton, der dort eine der Hauptrollen spielte.) Ein Thriller um Mord in einem recht genau gezeichneten (wenn auch, hier mehr als dort, bisweilen stark überzeichneten) Kleinstadtmilieu - diesmal mit Mystery- und Horror-Elementen versetzt.
Wesentlich interessanter scheint es mir allerdings, The Gift als Komplementärfilm zu Army of Darkness zu lesen. Während Raimi beim Abschluss der Evil Dead-Reihe ein Mittelalter kreierte, dessen einziger "historischer" Bezugspunkt offensichtlich die Populärkultur des zwanzigsten Jahrhunderts war, reimaginiert er hier die Südstaaten des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts - gekennzeichnet durch die subtropische Vegetation und den breiten, die Worte schier endlos zerdehnenden Akzent aller Figuren - als Mittelalter. Hier hat die Kartenlegerin nicht nur regen Zulauf, sie erfüllt auch Funktionen, die um die letzte Jahrtausendwende eigentlich Psychologen und Sozial-Arbeiter inne haben sollten. Ja, sie wird sogar zur Hauptbelastungszeugin in einem Mordprozess. Diejenigen, die ihre Fähigkeiten - mit gutem Grund - fürchten, deklarieren sie als Hexe und fordern, zumindest tut Donnie das, mit ihr zu tun, was man im Mittelalter mit "Hexen" tat: sie verbrennen.
War schon A Simple Plan ein Film der es liebte, falsche Fährten zu legen - auch und nicht zuletzt, was die Identifikationsangebote für den Zuschauer anbelangte -, so greift The Gift das auf. Der Film beginnt mit in einander übergeblendeten Bildern von farnüberwucherten Bäumen in den Sümpfen. Mit einer eindeutigen Reminiszenz also auf die berühmten Kamerafahrten durch den Wald in The Evil Dead (die Gestaltung des Titels untermauert diesen Bezug). In den sehr gelungenen Bildern einer bedrohlichen unheimlichen Natur, die den Film durchziehen, evoziert Raimi den Horrorfilm und verweist zugleich auf dessen Ursprünge in Märchen und Schauerromantik. Das Grauen von Brixton geht dann aber gerade nicht von Dämonen oder Geistern aus - obwohl es letztere durchaus gibt -, es ist dezidiert diesseitig. Tratsch, Betrug, Mord, sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt. Genre-Dialektik. Die Mystik wird Aufklärung. Nicht nur weil Annie tatsächlich die einzige ist, die schließlich das Verbrechen aufklären kann, sondern auch weil gerade die Hellseherin ein Lichtblick in der wahrlich finsteren Welt des Films ist. Eine letzte Bastion von Vernunft und Menschlichkeit.
Die Besetzungsliste des Films ist nicht nur namhaft, die Darsteller sind auch durchweg ausgesprochen gut aufgelegt. Ist Annie eindeutig die einzige Figur, für die der Zuschauer Sympathien hegen kann, ohne dass sich diese irgendwann als Falle entpuppen, spielt Blanchett sie doch so undurchsichtig und geheimnisvoll, dass es die Identifikation reichlich erschwert. Großartig sind Keanu Reeves und Hillary Swank als Ehepaar, das kaum jemals eine gemeinsame Einstellung bekommt. Er spielt den Gewaltproleten abgrundtief böse - und doch mit genug Teenie-Schwarm-Charme, um ihm eine gewisse Ambivalenz zu verleihen. Raimi unterwandert nicht nur die physignomische Stereotype - "schlechte Menschen" erkennt man eben nicht automatisch an schlechter Haut und schlechten Zähnen -, sondern eben auch die negative Identifikationstruktur. Donnie ist Rassist und Antisemit ("You ain't better than a nigger or a jew," sagt er einmal zu Annie), ein fanatischer christlicher Fundamentalist, der Frauen verprügelt, wo er nur kann. Ein Riesen-Arschloch gewiss, aber deshalb eben noch nicht unbedingt ein Mörder. Swank ist beeindruckend als misshandelte Ehefrau. Ihre tiefe Verunsicherung und Verängstigung sieht man in jedem Schritt, jeder Geste, jedem Blick. Dennoch ist sie so zerrissen, ist ihre Bindung an den Peiniger so stark, dass sie nicht nur als Opfer erscheint - und dem Zuschauer der Figur gegen über nicht nur die - allzu bequeme - Position überbordenden Mitleids bleibt. Giovanni Ribsi spielt eine weitere wichtige Nebenrolle als Buddy Cole. Seine schwere psychische Erkrankung - nicht zuletzt die Folge katastrophaler Bedingungen in seiner Familie macht ihn zu einem - vielleicht zum einzigen echten - Verbündeten Annies. Im Finale nimmt er gar eine deus ex machina-Funktion, oder doch nicht? Schließlich sei noch Greg Kinnear erwähnt als an seinem Umfeld und seiner Verlobten zunehmend verzweifelnder Schuldirektor. Recht sympathisch, aber...
Sicher ist das alles sehr clever (vielleicht manchmal etwas zu clever und zu sehr in die eigene Cleverness verliebt). Was dem Film bisweilen allerdings abgeht ist die Dringlichkeit der Verhältnisse, die Hermetik des dargestellten Milieus, die A Simple Plan so meisterlich machte. So zunehmend abscheulich die Taten der Figuren dort auch waren, sie ergaben aus den Umständen heraus doch so sehr "Sinn", blieben so stark nachvollziehbar, dass es schwer war, sich ihnen zu entziehen. Das bleibt hier teilweise bloße Behauptung. Ein Beispiel: Nachdem Donnie in ihr Haus eindringt, ruft Annie die Polizei. Der eintreffende Polizist ist mit Donnie befreundet, so dass ihr der Versuch, Hilfe zu holen letztlich nicht mehr einbringt, als nur noch vehementere Drohungen. Reicht eine solche Szene aber tatsächlich aus, um die Hilflosigkeit zu erklären, mit der sie und ihre Familie Donnie in der ersten Hälfte des Films ausgeliefert scheinen?
Für Annie scheint das Geschehen des Films letztlich kathartische Funktion zu haben in der Bewältigung ihres Traumas, des Verlusts ihres Mannes. Dafür findet die letzte Szene eine ebenso schönes wie sonderbares Bild: Frau und Kinder am Grab des Mannes und Vaters als Menschenknäuel vereint. Dieser Konflikt scheint zwar vorher durchaus auf, geht allerdings unter der Vielzahl von Figuren, Handlungssträngen und Verweisen etwas unter.
Trotzdem: Unterm Strich bleibt ein spannender, exzellent gespielter und mitunter schaurig schöner Mystery-Thriller.

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