Montag, 2. Juni 2014

Los insólitos peces gato / Der wundersame Katzenfisch (Claudia Saint-Luce, Mexiko 2013)

Die Inhaltsangabe, wie sie das Presseheft liefert, klingt einigermaßen furchtbar:
"Die 22-jährige Claudia lebt alleine in Guadalajara, Mexiko. Als sie mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus landet, lernt sie Martha kennen, eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern, die trotz ihrer AIDS-Erkrankung voller Lebensfreude ist. Als Martha Claudia nach ihrer OP einsam nach Hause gehen sieht, lädt sie die junge Frau zu sich nach Hause ein. Ohne großes Aufheben wird Claudia Teil von Marthas eigenwilliger, trubulenter Familie, in der sie erstmals Zusammenhalt, Spaß und gemeinsame Mahlzeiten erlebt. Zunächst ist die junge Einzelgängerin vom lebhaften Haushalt überfordert, fühlt sich der Familie aber bald zugehörig und wächst langsam in die Rolle der Ersatzmutter hinein.
Als Martha auf einer gemeinsamen Reise ans Mutter zusammenbricht steht Claudia plötzlich vor der Frage: Ist sie bereit, sich vollends in die Familie zu integrieren und für die Kinder zukünftig die Verantwortung zu übernehmen?"
Wollte man möglichst kurz zusammenfassen, wie es Claudia Saint-Luce in ihrem ersten Langfilm gelingt, aus diesem Plot, der in etwa gleichviel Potenzial für eine abgeschmackte Komödie, ein schwülstiges Melodram und ein vor Gut-Gemeinheit geradezu triefendes Sozial-Drama bietet, einen grundsympathischen kleinen Film zu machen, dann müsste man wohl sagen: durch ein ordentliches Maß Bescheidenheit und eine bedingungslose Hingabe und Sympathie für ihre Figuren.
Die Regisseurin weigert sich mit bewundernswerter Entschlossenheit, ihre Protagonistinnen in den Dienst irgendwelcher Diskurse, Botschaften oder auch der Identifikationsstruktur des Zuschauers zu stellen.
Das beginnt schon in den ersten Szenen. Claudia (Ximena Ayala) liegt wach in ihrem Zimmer, dessen Wände mit Fotos und Zeitungsauschnitten voll geklebt sind und in dem ein ewiges Zwielicht zu herrschen scheint. Das Zimmer einer Frau, die nirgendwo angekommen ist in ihrem Leben, kein Kind mehr ist, aber doch auch nichts hat, was das Erwachsenendasein mit Sinn erfüllen könnte. Sie steht auf, setzt sich an die riesige Kühlbox, die ihr zugleich als Kühlschrank und Tisch dient, und isst eine Schale Fruit Loops, wobei sie eine bestimmte Farbe aussortiert und auf die Sofalehne legt - sehr zur Freude von ein paar Ameisen. Sie geht durch die ziemlich triste Siedlung, in der sie lebt und über eine Brücke zu ihrer Arbeit in einem Supermarkt. Wortlos bleibt ihre Beschäftigung, bei der sie Würstchen zum Probieren anbietet und die Kontrolle ihres Rucksacks durch den Pförtner zum Feierabend - wie überhaupt die einzigen gesprochenen Worte in dieser Exposition aus dem Radio kommen. Merklich geht es in diesen Szenen nicht ums Prekariat, nicht um Entfremdung und Einsamkeit in der Großstadt, sondern um den prekären, einsamen und entfremdeten Alltag einer konkreten Frau: Claudia.
So wie der Plot von den Figuren her gedacht ist, so die Form vom Inhalt. Wird Claudias langweiliger Alltag, in dem sich nichts zu bewegen scheint, in recht langen, statischen Einstellungen gezeigt, wird die Dynamik in der lichten Wohnung Marthas und ihrer Kinder zunächst mit der Handkamera eingefangen, die sich schnell mit den Figuren durch die Räume bewegt. Die Sprachlosigkeit und Erstarrung zuvor weicht beim ersten gemeinsamen Mittagessen Marthas mit der Familie einem Wirrwarr der Dialoge, gestikuliernder und Sachen über den Tisch reichender Hände und Arme.
Wenn sich Claudia langsam in die Familie einfindet, sich immer wohler und geborgener fühlt wird die Kamera wieder ruhiger, in statischen Zweier-Einstellungen werden die Gespräche mit jedem einzelnen der vier Kindern gezeigt, für die das neue Familienmitglied ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt. Die übergewichtige adoleszente Wendy findet in ihr eine Gesprächspartnerin, um über ihre psychischen Probleme zu sprechen, die sich in Selbstverletzungen und dem Mischen obskurer "Cocktails" aus Alkohol und Medikamenten ausdrücken. Ale, die älteste, weint sich bei ihr über ihren Liebeskummer aus. Und der etwa zwölf-jährige Armando möchte - rein theoretische - Informationen übetr das Küssen von ihr haben.
Es gelingt dem Film dabei, die Probleme der Figuren ernst zu nehmen, ohne sie über zu dramatisieren oder in herkömmliche Psychologisierungen zu verfallen. Das gilt auch und vor allem für den ständig im Raum stehenden nahenden Tod der Mutter. Lisa Owen spielt Martha mit einer gerade in ihrem Verzicht auf überzeichnete Tragik und großes Pathos bewegenden Entschlossenheit, ihre Krankheit mit Würde zu tragen und ihr Leben bis zum letzten Tag auszukosten. 
Natürlich ist Los insólitos peces gato auch ein Film über ausbeuterische Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Auch erscheint durch die Film-Familie, die nicht nur keiner Heteronorm bedarf, sondern in der auch die Funktionen der Mitglider nicht genau geklärt sein müssen (Claudia übernimmt zugleich die Rolle von Tochter, Mutter und Schwester) die bürgerliche Kleinfamilie als das soziale und normative Konstrukt, das sie wohl immer schon war. Aber die Diskurse entstehen eben in diesem Film als Produkt der Erzählung, nicht anders herum.
Ein feministischer Film ist er nicht so sehr, weil er in einer Welt spielt, in der Frauen ohne Männer zurecht kommen (in der Szene, in der gezeigt wird, dass eine von Claudias Arbeitskolleginnen eine Affäre mit der Chefin hat, wirkt das vielleicht doch etwas redundant), sondern weil er Frauen zeigt, die partout nicht bereit sind, eine Opferrolle zu übernehmen.

Der Film startet am 10. Juli in den deutschen Kinos.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen