Sonntag, 20. Juli 2014

Bübchen (Roland Klick, BRD 1968)

Bübchen (1968)Das schrecklichste an Bübchen ist vielleicht, dass es für den Schrecken, den der Film zeigt, nirgendwo ein Ventil zu geben scheint. An keiner Stelle wird das so deutlich wie in der Szene, in der der Junge Achim seine kleine Schwester erstickt, indem er ihr eine Plastiktüte über den Kopf zieht. Das Mädchen, das unter der Tüte nach Atem ringt, scheint das komprimierte, buchstäblich ins Atemlose verdichtete Bild eines ganzen Milieus zu sein, der Hamburger Stadtrandgesellschaft der späten Sechziger Jahre. Zwischen den oft und ausgiebig betrunkenen Männern und keifenden Frauen, zwischen familiärer Gewalt in verschiedenen Formen und dem obligatorischen  Männerklaps auf den Frauenpo, hinter den um jeden Preis aufrecht erhaltenen heilen Fassaden scheint in diesen Verhältnissen die Luft zum Atmen zu fehlen. Dass als Verdächtige eines "Sittlichkeitsverbrechens" nicht die Männer aus der Nachbarschaft, sondern nur "Fremde" in Frage kommen, gibt ein weiteres Beispiel für die vorherrschende Gesinnung - und erscheint zugleich als blanker Hohn. Aber dann gehört zu dieser Szene auch noch der Gegenschuss auf das Gesicht des Jungen. Auf seinen Zügen zeichnet sich ganz kurz ein Schimmer des Entsetzens ab, ein Moment der Unsicherheit. Ein Gefühl, das wie ein Schatten kurz zu erahnen ist, sich dann aber nicht wirklich manifestieren kann. Als er das Telefon klingeln hört, verlässt er den Raum. Seine Mutter ist dran, aus der Kneipe. Er nimmt ab, bleibt aber stumm. Durch die Sprachlosigkeit fehlt der Reflexion der Gefühle, des Verhaltens, der Schuld auch das Medium, um sich ausdrücken zu können. So kann die Katastrophe endgültig ihren Lauf nehmen kann.
Am Gelingen des Films haben die großartigen Schauspieler einen großen Anteil. Allen voran der beeindruckende Sascha Urchs, der als Achim seine erste und einzige Filmrolle ablieferte. Ständig scheint es zu brodeln unter seinen bedrückten Zügen, ohne dass es jemals einen Ausbruch geben würde, eine fortwährende Implosion der Gefühle, die keinen Weg nach außen finden können.
Genau so toll und ebenfalls in ihrem ersten Leinwandauftritt spielt Renate Roland Monika, die adoleszente Tochter der Nachbarfamilie. Am Nachmittag, an dem Achim seine Schwester umbrachte, sollte sie auf die beiden Kinder aufpassen, vergnügte sich aber stattdessen mit ihrem Freund. Ihr Gesicht, ihr Lächeln scheint die Kamera zu verzaubern. Ihre Ungezwungenheit, ihre - wenn auch oft gehässige - Fröhlichkeit wirkt an sich wie eine fortwährende Rebellion gegen den kleinbürgerlichen Vorstadtalltag. Großartig sind die Szenen, in denen sie mit ihrem Freund durch die Natur tollt, in denen man regelrecht aufzuatmen scheint, befreit von der erdrückenden Tristesse des Hauses mit seinen typischen Sechziger Jahre Pastell - und Brauntönen.
Achims Vater wird gespielt von Sieghardt Rupp, der zuvor unter anderem in einigen Italo-Western zu sehen war. Redlich zeigt er sich bemüht, eine besondere Verbindung zu seinem Sohn aufzubauen, die in einer Komplizenschaft endet. Er lässt die Leiche des Mädchens verschwinden, aus dem Autowrack, in dem Achim sie versteckt hatte. Die Empathie, die Klick für seine Figuren hegt, die er an keiner Stelle preisgibt, wird auch an ihm besonders spürbar. Als er das Lumpenbündel, das seine Tochter war, aus dem Kofferraum holt, sieht man in seinem Blick wieder das Gefühl, das keinen Ausgang findet, die Unfähigkeit zur Trauer. In seiner Lederjacke wirkt er wie das nie erfüllte Versprechen auf eine anderes Leben. Der Schrottplatz wird zur Seelenlandschaft, zur Endstation der Träume der BRD nach dem "Wirtschaftswunder". In einem Minenschacht lässt er die Leiche für immer verschwinden. Die Fahrt hinab mit dem Aufzug in die Hölle, in der man sich in diesem Film doch immer schon befindet.
In der letzten Szene dann zieht sich Achim selbst die Plastiktüte über den Kopf, reißt sie aber nach einigen verzweifelten Atemzügen wieder herunter. Ein letzter gescheiterter Befreiungsversuch. Er schlurft zu seinen Eltern an den Tisch. Die erdrückende Stille der letzten Einstellung, die die Familie beim Essen zeigt, wird lediglich unterbrochen von der Aufforderung der Mutter, sich die Serviette zu nehmen. Das ist sie wohl, die Katastrophe, die nach Walter Benjamin darin bestand, dass es immer so weiter geht.

Gesehen habe ich den Film übrigens gestern als Auftakt der Klick-Retrospektive im Lichtblick-Kino in Prenzlauer Berg mit seinem charmant alternativen Charme. Noch die nächsten Tage hat man dort die Möglichkeit das Gesamtwerk Roland Klicks zu bewundern - und zwar sehr löblicherweise von 35mm. Nach Bübchen und vor allem Deadlock ist für mich absolut klar, dass das die einzige Form ist, diese Filme wirklich zu erleben.   

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