Roberto Bolaños Lumpenroman ist ein Büchlein von
großer Radikalität. (Der Diminutiv im Original-Titel: Una novelita
lumpen ist wichtig, weil er die Kleinheit betont, hinter der sich die große
Radikalität dieses Büchleins verbirgt.)
Eine junge Frau erzählt in der ersten Person. Ihr genaues
Alter erfahren wir nicht. Ihr Name, Bianca, wird nur an einer Stelle erwähnt,
betont beiläufig. Sie beginnt den Roman mit den Worten:
„Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber
vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten
unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten
niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“
Die Einfachheit und Klarheit, die Nüchternheit dieser Sätze
ist keine Reduktion, sondern eine Bereinigung. Alles an Diskursen, an Konventionen
des Erzählens oder der literarischen Gattung (welcher auch immer), an Tragik, an
„Moral“, was sich von außen über den Bericht dieses Mädchens legen könnte, hat
in diesen Sätzen nichts verloren. Wenn es überhaupt mitgedacht werden soll in
der Geschichte, die ganz und gar Bianca gehört, ihre Geschichte ist, dann doch
nur als etwas, das abwesend ist – wie die Eltern. Eng damit verbunden versteckt
sich in diesen Sätzen die eine oder andere Falle. Die Überwindung eines
Traumas, das Coming-of-Age, der Weg der adoleszenten Kriminellen in die
bürgerliche Biographie, die übrigens nicht, wie es der erste Satz suggeriert,
der Endpunkt der Erzählung sein wird, müssen zu Beginn aufgerufen werden, nicht
um erfüllt, sondern um überwunden zu werden.
Über ihren ersten Freund berichtet die Erzählerin: „Dass ich
mit meinem Freund Erfahrungen gesammelt hätte, konnte man eigentlich nicht
behaupten. Er war ein Junge wie viele andere, ich mochte ihn, und eines Tages
mochte ich ihn nicht mehr. Das ist alles.“ Der letzte Satz, das „Eso es todo“,
das sich wiederholen wird, ist der Schlüsselsatz dieses Romans. Una novelia
lumpen ist ein „Eso es todo“-Roman. Gewissermaßen steht dieses „Eso es
todo“ als Punkt am Ende eines jeden Satzes. Als Negation all dessen, worum es
in diesem Roman gehen könnte, aber nicht geht.
Eines Tages bringt der Bruder der Erzählerin aus dem
Fitness-Studio, in dem er arbeitet, zwei junge Männer mit. „Sie waren nicht
seine Freunde, auch wenn mein Bruder das glauben wollte. Der eine war
Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie
Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie
erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im
Friseursalon gesehen hatte.“ Mit diesen beiden Nicht-Figuren, über die wir als
erstes erfahren, was sie nicht sind, deren Distinktionsmerkmale nicht
moduliert, sondern verwischt werden, mit diesen ent-subjektivierten und
„objektivierten“ Männern also, die zukünftig bei den Geschwistern leben werden,
beginnt die Erzählerin ein sexuelles Verhältnis, das mit Begriffen wie
Beziehung oder Affäre zu beschreiben, nicht den geringsten Sinn machen würde.
„In dieser Nacht, während ich im Bett lag und an sie dachte
(…), das Licht ausgeschaltet und die Augen offen, ohne Hoffnung auf Schlaf, kam
einer von ihnen in mein Zimmer und schlief mit mir. Ich glaube, es war der
Bologneser.“ An anderer Stelle heißt es: „Einmal pro Woche, manchmal zweimal
ließ ich sie in mein Zimmer. Ich brauchte nichts zu sagen, ich musste mich nur
ein wenig gesprächiger zeigen als sonst oder sie intensiv anschauen (…), und
sie begriffen sofort, dass sie mich in dieser Nacht besuchen konnten und die
Tür offen sein würde.“ Und, viel später:
„An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines
Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn
unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und
gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich
zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund
meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir
sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine
Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte
Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die
Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte
mittlerweile besaßen.“
Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ist in Una
novelita lumpen nichts, was sie sich erkämpfen müsste, sie ist viel eher
eine Prämisse ihrer „Entwicklung“. Als identitätsstiftendes Moment funktioniert
der Sex dabei offenbar nur, indem er die Identität des Partners negiert,
zumindest: nicht erkennt. Das bemerkenswerte daran ist, dass Bolaño sich dabei
jeglicher Wertung im Hinblick auf gängige sexuelle Ideologien enthält. Die
Sexualität seiner Protagonistin soll weder „befreit“ noch „domestiziert“ werden,
sondern einfach nur gelebt.
Ihr Bruder und die beiden Männer schmieden einen Plan, der
sie aus ihrer finanziellen Misere befreien soll. Sie soll sich mit dem
ehemaligen Schauspieler und Bodybuilder Maciste einlassen, der sich, nachdem er
bei einem Unfall das Augenlicht verlor, komplett in seinem riesigen Anwesen
zurückzog. Sie soll den Tresor finden, in dem er seine verbleibenden Reichtümer
aufbewahrt.
Doch die Erzählerin fügt sich nicht in die männlichen Pläne.
Entwickelt sie zu Maciste bald eine innigere Beziehung als sie sie zu den
jüngeren Männern je hatte, so ist diese doch auch er nicht der Endpunkt ihrer
Entwicklung. Ihre Sexualität lässt sich weder ausbeuten noch in der „Liebe“ „binden“.
Sie braucht weder „Zuhälter“ noch „Retter“.
Natürlich ist Una novelita lumpen ein „feministischer
Roman“. Es geht um die Emanzipation, die Ermächtigung einer jungen Frau, die
sich in der Männerwelt, die sie umgibt, ihre Unabhängigkeit erkämpft. Ihr Kampf
beginnt damit, dass sie eine Stimme hat (übrigens: als einzige Figur in diesem
Roman, in dem es keine Dialoge im eigentlichen Sinne gibt, alle Gespräche
werden von der Erzählerin in indirekter Rede wiedergegeben). Die einzige
Macht, die sie durch ihre Stimme zu Beginn zu haben scheint ist die, über ihr eigenes Stigma zu
entscheiden: „ich bin keine Nutte, ich war eine Kriminelle, aber keine Nutte.“ (Nicht das das wenig wäre.)
Am Ende ihres Berichtes beobachtet sie ein Gewitter, „das
sich nicht am Himmel über Rom befand, sondern in der Nacht von Europa oder im
Raum zwischen zwei Planeten, ein geräuschloses und blindes Gewitter, das aus
einer anderen Welt stammte, einer Welt, die nicht einmal die erdumkreisenden
Satelliten einfangen können, wo es eine Lücke gibt, die meine Lücke ist, einen
Schatten, der mein Schatten ist.“
Einerseits wohnen wir in Una novelita lumpen einer
Subjektwerdung bei, erleben wie die Frau, die von Anfang an „Ich“ sagt, erst nach und nach zu
einem Ich wird. Der große Traum dieses Büchleins ist jedoch der vom Werden
eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes
ist. Ein utopisches Subjekt, das nicht von dieser Welt zu schein scheint.
Darin besteht die Größe seiner Radikalität.
Zitiert nach: Roberto Bolaño: Lumpenroman. Aus dem
Spanischen von Christian Hansen, München 2010.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen