Montag, 12. Mai 2014

Robert Bolaño: Una novelita lumpen (Lumpenroman) (2002)

(Einfach mal eine Buchbesprechung. Der Text zur kongenialen Verfilmung von Alicia Scherson wird demnächst in der filmgazette zu lesen sein.)
 
Roberto Bolaños Lumpenroman ist ein Büchlein von großer Radikalität. (Der Diminutiv im Original-Titel: Una novelita lumpen ist wichtig, weil er die Kleinheit betont, hinter der sich die große Radikalität dieses Büchleins verbirgt.)

Eine junge Frau erzählt in der ersten Person. Ihr genaues Alter erfahren wir nicht. Ihr Name, Bianca, wird nur an einer Stelle erwähnt, betont beiläufig. Sie beginnt den Roman mit den Worten:

„Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“

Die Einfachheit und Klarheit, die Nüchternheit dieser Sätze ist keine Reduktion, sondern eine Bereinigung. Alles an Diskursen, an Konventionen des Erzählens oder der literarischen Gattung (welcher auch immer), an Tragik, an „Moral“, was sich von außen über den Bericht dieses Mädchens legen könnte, hat in diesen Sätzen nichts verloren. Wenn es überhaupt mitgedacht werden soll in der Geschichte, die ganz und gar Bianca gehört, ihre Geschichte ist, dann doch nur als etwas, das abwesend ist – wie die Eltern. Eng damit verbunden versteckt sich in diesen Sätzen die eine oder andere Falle. Die Überwindung eines Traumas, das Coming-of-Age, der Weg der adoleszenten Kriminellen in die bürgerliche Biographie, die übrigens nicht, wie es der erste Satz suggeriert, der Endpunkt der Erzählung sein wird, müssen zu Beginn aufgerufen werden, nicht um erfüllt, sondern um überwunden zu werden.

Über ihren ersten Freund berichtet die Erzählerin: „Dass ich mit meinem Freund Erfahrungen gesammelt hätte, konnte man eigentlich nicht behaupten. Er war ein Junge wie viele andere, ich mochte ihn, und eines Tages mochte ich ihn nicht mehr. Das ist alles.“ Der letzte Satz, das „Eso es todo“, das sich wiederholen wird, ist der Schlüsselsatz dieses Romans. Una novelia lumpen ist ein „Eso es todo“-Roman. Gewissermaßen steht dieses „Eso es todo“ als Punkt am Ende eines jeden Satzes. Als Negation all dessen, worum es in diesem Roman gehen könnte, aber nicht geht.  

Eines Tages bringt der Bruder der Erzählerin aus dem Fitness-Studio, in dem er arbeitet, zwei junge Männer mit. „Sie waren nicht seine Freunde, auch wenn mein Bruder das glauben wollte. Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im Friseursalon gesehen hatte.“ Mit diesen beiden Nicht-Figuren, über die wir als erstes erfahren, was sie nicht sind, deren Distinktionsmerkmale nicht moduliert, sondern verwischt werden, mit diesen ent-subjektivierten und „objektivierten“ Männern also, die zukünftig bei den Geschwistern leben werden, beginnt die Erzählerin ein sexuelles Verhältnis, das mit Begriffen wie Beziehung oder Affäre zu beschreiben, nicht den geringsten Sinn machen würde.

„In dieser Nacht, während ich im Bett lag und an sie dachte (…), das Licht ausgeschaltet und die Augen offen, ohne Hoffnung auf Schlaf, kam einer von ihnen in mein Zimmer und schlief mit mir. Ich glaube, es war der Bologneser.“ An anderer Stelle heißt es: „Einmal pro Woche, manchmal zweimal ließ ich sie in mein Zimmer. Ich brauchte nichts zu sagen, ich musste mich nur ein wenig gesprächiger zeigen als sonst oder sie intensiv anschauen (…), und sie begriffen sofort, dass sie mich in dieser Nacht besuchen konnten und die Tür offen sein würde.“ Und, viel später:

„An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte mittlerweile besaßen.“

Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ist in Una novelita lumpen nichts, was sie sich erkämpfen müsste, sie ist viel eher eine Prämisse ihrer „Entwicklung“. Als identitätsstiftendes Moment funktioniert der Sex dabei offenbar nur, indem er die Identität des Partners negiert, zumindest: nicht erkennt. Das bemerkenswerte daran ist, dass Bolaño sich dabei jeglicher Wertung im Hinblick auf gängige sexuelle Ideologien enthält. Die Sexualität seiner Protagonistin soll weder „befreit“ noch „domestiziert“ werden, sondern einfach nur gelebt.

Ihr Bruder und die beiden Männer schmieden einen Plan, der sie aus ihrer finanziellen Misere befreien soll. Sie soll sich mit dem ehemaligen Schauspieler und Bodybuilder Maciste einlassen, der sich, nachdem er bei einem Unfall das Augenlicht verlor, komplett in seinem riesigen Anwesen zurückzog. Sie soll den Tresor finden, in dem er seine verbleibenden Reichtümer aufbewahrt.    

Doch die Erzählerin fügt sich nicht in die männlichen Pläne. Entwickelt sie zu Maciste bald eine innigere Beziehung als sie sie zu den jüngeren Männern je hatte, so ist diese doch auch er nicht der Endpunkt ihrer Entwicklung. Ihre Sexualität lässt sich weder ausbeuten noch in der „Liebe“ „binden“. Sie braucht weder „Zuhälter“ noch „Retter“.

Natürlich ist Una novelita lumpen ein „feministischer Roman“. Es geht um die Emanzipation, die Ermächtigung einer jungen Frau, die sich in der Männerwelt, die sie umgibt, ihre Unabhängigkeit erkämpft. Ihr Kampf beginnt damit, dass sie eine Stimme hat (übrigens: als einzige Figur in diesem Roman, in dem es keine Dialoge im eigentlichen Sinne gibt, alle Gespräche werden von der Erzählerin in indirekter Rede wiedergegeben). Die einzige Macht, die sie durch ihre Stimme zu Beginn zu haben scheint ist die, über ihr eigenes Stigma zu entscheiden: „ich bin keine Nutte, ich war eine Kriminelle, aber keine Nutte.“ (Nicht das das wenig wäre.) 

Am Ende ihres Berichtes beobachtet sie ein Gewitter, „das sich nicht am Himmel über Rom befand, sondern in der Nacht von Europa oder im Raum zwischen zwei Planeten, ein geräuschloses und blindes Gewitter, das aus einer anderen Welt stammte, einer Welt, die nicht einmal die erdumkreisenden Satelliten einfangen können, wo es eine Lücke gibt, die meine Lücke ist, einen Schatten, der mein Schatten ist.“

Einerseits wohnen wir in Una novelita lumpen einer Subjektwerdung bei, erleben wie die Frau, die von Anfang an „Ich“ sagt, erst nach und nach zu einem Ich wird. Der große Traum dieses Büchleins ist jedoch der vom Werden eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes ist. Ein utopisches Subjekt, das nicht von dieser Welt zu schein scheint.

Darin besteht die Größe seiner Radikalität.

Zitiert nach: Roberto Bolaño: Lumpenroman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, München 2010.

 

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