Mittwoch, 7. Mai 2014

Patriarchat und Gewalt IV: Thriller - en grym film (Bo Arne Vibenius, Schweden 1973)

Schon ins Dorfidyll der ersten Einstellung dringt unheilschwanger das Geräusch von Polizeisirenen. Die zweite Einstellung zeigt ein junges Mädchen im Park, ihr Kleid ist orange, die Blätter der Bäume leuchten in herbstlichen Rot- und Brauntönen (diese Farben werden sich leitmotivisch durch den Film ziehen - nicht nur weil in Thriller, dessen Handlung sich, den Prolog eingerechnet, über einen Zeitraum von ungefähr eineinhalb Jahrzehnten erstreckt, immer Herbst ist). Das Mädchen spielt mit einem alten bärtigen Mann, der sie im Kreis durch die Luft wirbelt. Ihr fröhliches lachendes Gesicht dabei, ist das letzte fröhliche lachende Gesicht, das es in diesem Film zu sehen gibt. Denn plötzlich verzieht sich das Gesicht des Mannes, aus seinem Mund quillt Blut. Wie er das Mädchen dann sexuell missbraucht, ist nur in Andeutungen zu sehen: ein Close-Up von seinem verzerrten Gesicht aus ihrer subjektiven Perspektive, ihr Kleid, das camoufliert zwischen den verwelkten Blättern liegt. Schien das Mädchen durch die Farbe ihres Kleids mit der Natur verschmolzen, ist sie nun - buchstäblich - eine Verstoßene - und wir wissen: der Ur-Moment der Vertreibung aus dem Paradies ist die Scham, der Moment, in dem der Mensch zu aller erst seiner Nacktheit gewahr wird.
Etwa fünfzehn Jahre später lebt Frigga (Christina Lindberg) auf dem elterlichen Hof. Durch das traumatische Erlebnis in der Kindheit ist sie verstummt. Weil sie den Bus verpasst, der sie zur Schule bringen soll, nimmt sie ein Mann, Tony (Heinz Hopf), im Auto mit. Er lädt sie in ein vornehmes Restaurant ein, sie begleitet ihn in seine Wohnung, wo er sie betäubt, indem er ihr etwas in den Wein mischt. Dann setzt er sie systematisch auf Heroin und zwingt sie, sich zu prostituieren. Das orangene Kleid, das sie in dieser Szene trägt verweist auf die Wiederholung des Ur-Traumas zu Beginn.
Die patriarchale Gewalt nimmt im Thriller - mindestens - drei verschiedene Formen an:
Zunächst ist da die unkontrollierte und unkontrollierbare Gewalt, die Trieb-Tat eines offensichtlich psychisch Kranken zu Beginn.
Dann der unverhohlene, aber "kontrollierte" Sadismus der "Freier", die in einem genau abgesteckten Raum und Rahmen gegen Bezahlung ihre Unterwerfungsfantasien ungehemmt ausleben können: ein Mann macht eine Reihe Fotos von Frigga, die sich windet, weil sie nicht fotografiert werden möchte (die Macht des Mannes über die Frau als eine Macht des Blickes über das Bild findet sich in vielen Filmen, die ich hier kürzlich besprochen habe - der angstbesetzte männliche Kontrollverlust in Città violenta etwa war immer auch ein Verlust des männlichen Machtblickes.)
In diesem Zusammenhang sind auch die expliziten Sex-Szenen des Films zu betrachten. Die Hardcore-Einstellungen entsprechen zunächst denen eines herkömmlichen "Gebrauchs-Pornos", sowohl was Kadrierung und Einstellungsgröße anbelangt als auch darin, dass sie verschiedene Stellungen und Praktiken durchdeklinieren: vaginale Penetration, Masturbation, schließlich anale Penetration mit cum shot. Wo aber "normale" Pornographie Bedürfnisse befriedigen soll, aber auch erst produziert, Begehren hervorrufen und gleichsam modulieren, tun die Hardcore-Szenen in Thriller keins von beidem. Wo andere Rape-Revenge-Filme gerne mit den phallischen Konnotationen von Stich- und Schusswaffen "spielen", wird bei Vibenius die Penetration selbst zum Gewaltakt. Die Aufnahmen mit dem lüsternen Stöhnen der Männer und dem qualvollen der Frau, die dann auch noch zu einem abstrakten Soundteppich verzerrt werden, sind unglaublich verstörend. Hier ist der Sex tatsächlich Arbeit - auch für den Zuschauer. Arbeit in ihrer unterdrückerischsten und ausbeuterischsten Form.
Allerdings werden die Dichotomien Mann/Frau, Täter/Opfer, Ausbeuter/Ausgebeutete auch entscheidend aufgebrochen. Eine Frau delektiert sich daran, nackt auf Frigga zu sitzen und sie zu ohrfeigen. Das Verhältnis von Missbrauchender und Missbrauchter hängt hier nicht mit der Geschlechterdifferenz zusammen, sondern korreliert mit den Klassenhierarchien: eine wohl sehr Gutbetuchte vergeht sich an einem Bauernmädchen.
Schließlich ist da die Gewalt Tonys und seiner Organisation. Ihr geht es nicht um Lustgewinn - und bestünde die Lust auch einzig und allein darin, den Anderen zu beherrschen, zu unterwerfen, zu quälen - sondern ausschließlich ums Geld. Die absolute sexuelle Ausbeutung ist so berechnend, dass sie geradezu "wissenschaftlich" daher kommt. Tonys Waffen sind ein Telefon, eine Schreibmaschine, Spritzen, ein Skalpell. Nicht nur hat Tony nicht das geringste Interesse daran, die attraktive junge Frau, die ihm hilflos ausgeliefert ist, selbst zu missbrauchen, ja, selbst gutes Essen mitsamt Champagner verweisen nicht auf einen "hedonistischen" Lebensstil, sondern sind einfach Teil des Geschäfts.
Dass die Gewalt je organisierter, je kontrollierter und "kultivierter" sie sich gibt, nur umso abscheulicher ist, offenbart den grenzenlosen Kultur-Pessimismus dieses Films.
Der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Gewalt wird deutlich in der Szene, in der Frigga ihrem ersten "Freier" das Gesicht zerkratzt. Zur Strafe schneidet Tony ihr mit dem Skalpell ein Auge aus. In einer relativ langen Einstellung aus der subjektiven Perspektive Friggas sehen wir, wie sich das Skalpell langsam gegen ihren Druck nähert, dann folgt der Schnitt in ein Close-Up ihres Auges im Profil, der mit dem Schnitt des Skalpells in ihr Auge korrespondiert, nachdem Flüssigkeit aus ihrem Auge spritzt, endet die Szene in einer Schwarzblende. Die Inszenierung verdeutlicht bei aller Drastik, dass es nicht um "unnötiges" Blutvergießen, nicht um einen Akt sadistischer Lust geht, sondern die Gewalt einzig und allein als Machtmittel dient. Die Transgression muss bestraft werden, um das patriarchale Herrschaftssystem aufrecht zu erhalten, dessen Interessen hier ganz und gar finanzieller Art sind.
Einmal mehr steht hier also - kaum weniger explizit als in The Woman - die "natürliche" Gewalt der Frau, die kratzt "wie ein Tier", gegen die "kultivierte" Gewalt des Mannes. (Ob die dieser Vorstellung innewohnenden Geschlechterbilder dadurch relativiert werden, dass die Filme für die männlich-patriarchale Ordnung nichts als Verachtung übrig haben, ist eine durchaus interessante Frage.)
Die Rache in der zweiten Filmhälfte, die weibliche Gegengewalt zur "wissenschaftlichen", kapitalistisch-ausbeuterischen Gewalt der Männer ist zunächst religiös konnotiert, gerade in einer Kirche fasst Frigga den Beschluss, zum "Racheengel" zu werden. Sie lernt zu schießen, Auto zu fahren wie ein Formel 1-Pilot, trainiert Kampfsport. Ist das noch harte Arbeit und wird dementsprechend in Szene gesetzt, ist die Rache an sich reiner Exzess: die Szenen, in denen Frigga ihre Gegner tötet, laufen in Zeitlupe ab, wobei die Bezüge zu den Filmen Sam Peckinpahs, der in der ersten Hälfte der Siebziger seine produktivste Schaffensphase hatte, unverkennbar sind. Auf die ökonomische und ökonomisierte Gewalt reagiert Frigga mit absolut verschwenderischem Blutvergießen.
Der erste Mann, den sie erschießt, trägt ein orangenes T-Shirt. Als er mit einer Ladung Schrot im Kopf am Boden liegt ist der Bildausschnitt so gewählt, dass er durch den hölzernen Türrahmen zu sehen ist. Das Orange und das Holz verweisen auf den Prolog, der Mann, nun zum Opfer der Gewalt geworden, erhält die gleichen Attribute, die Frigga in ihrer Opferrolle zu Beginn hatte.
In der beeindruckendsten der Rache-Szenen schlägt Frigga zwei Polizisten zusammen, die versuchen, sie zu verhaften. Sieben Einstellungen in knapp viereinhalb Minuten werden zu einer poetischen Choreographie der Gewalt in extremer Slow Motion. Auch die Polizei erscheint hier als Teil der männlich-patriarchalen Gewalt - und: eines der Gesetzte. über die sich die weibliche Gewalt hinwegsetzt, scheint das der Schwerkraft zu sein in dieser Szene, in der die prügelnden und geprügelten Körper schweben und das aus Mündern spritzende Blut schier endlos in der Luft hängt. Übrigens setzt Frigga ihren Rachefeldzug nun in dem Polizeiauto fort, eignet sich damit einmal mehr die Attribute männlicher Gewalt an. Wenn ihr Werk vollendet ist, wird sie auch mit ihm davon fahren. Dieses Ende, das Polizeiauto, das in der Totalen davonfährt, gibt zunächst eine Orwellsche Schlusspointe: Frigga ist nicht mehr von der Gewalt zu unterscheiden, die sie bekämpft hat. Wer aber meint, darin eine humanistische Botschaft zu sehen, die von der Unmöglichkeit erzählt, die Gewalt durch Gewalt zu überwinden, geht fehl. Vielmehr ist Thriller nicht nur ein erbarmungsloser, sondern auch ein absolut nihilistischer Film. Ein Film, der nicht einmal an die Gewalt glaubt, die er in der zweiten Hälfte so exzessiv zelebriert.  

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