Freitag, 27. September 2013

Carancho (Pablo Trapero, Argentinien 2010)

Laut einer wunderbaren Definition war "der Film noir eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid hat mit Leuten, die ihre Seele verloren haben."
Wollte man das um die Jahrtausendwende entstandene "Neue argentinische Kino", dem auch Pablo Trapero zugeordnet wird, auf eine ähnlich griffige Formel bringen, könnte man sagen, dass es ein Kino der Nachkrise ist, dass Mitleid mit Leuten hat, die ihre Existenz verloren haben - aber auch solchen, die noch nie eine hatten.
In Traperos Carancho, einem Film, der einem den Begriff "Neo-Noir" wahrlich aufdrängt, geht es, kurz gesagt, um zwei verlorenen Seelen, die, eigentlich auf der Suche nach einer auch nur halbwegs würdevollen Existenz, einander im nächtlichen Buenos Aires finden.
Er, Sosa (Ricardo Darín), ist Anwalt, hat seine Lizenz verloren und arbeitet seitdem für eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat, für Opfer von Verkehrsunfällen - oder deren Angehörige - Schadensersatz einzuklagen. Ein sehr lukratives Geschäft, denn, so informiert eine Texttafel zu Beginn, in Argentinien sterben jedes Jahr 8000 Menschen bei Autounfällen, sie sind die Haupttodesursache bei unter 35-jährigen. So lukrativ, dass es in durch und durch mafiosen Strukturen organisiert ist - von fingierten Unfällen bis zu windigen Firmen, die nur einen Bruchteil des erklagten Schadensgeldes tatsächlich an die Betroffenen weitergeben. Dort wo er nachts Klienten sucht, in den Notaufnahmen der Krankenhäuser und an den Straßenecken, behandelt sie, Luján (Martina Gusman), Notärztin, frisch aus der Provinz-Uni im Arbeitsleben und der Hauptstadt angekommen, Patienten. Den enormen Belastungen ihres Jobs ist sie bald nur noch gewachsen, indem sie sich mit allerlei Medikamenten betäubt. Die beiden werden ein Paar und versuchen nun gemeinsam dem Netz der kriminellen Verstrickungen, das sich immer enger, um ihn schließt - und in das er sie zunehmend mit hinein zieht - zu entkommen.
Wenn Isabel Caetanos Pizza, birra, faso 1997 einer der Schlüsselfilme des neuen argentinischen Films war, dann nimmt er auch dessen Tendenz vorweg, sich den Schicksalen der neuen und alten Marginalisierten mit den Mitteln des Genre-Kinos zu nähern - kaum zufällig läuft in einer Szene Dog Day Afternoon im Fernsehen, ein New-Hollywood-Klassiker von Sidney Lumet, der bekannt war für seine politisch engagiertes Genre-Handwerk. Pablo Trapero hatte 2002 mit El Bonarense einen Polizeifilm gedreht, der das Genre regelrecht aushöhlte. In den prototypischen modernen Polizeifilmen der Siebziger Jahre ging es immer um das Individuum, dass sich im beständigen Kampf mit dem System befand, in dem und für das es eigentlich arbeiten sollte. Dieser Konflikt einte seine (Anti-)Helden - die "rechten" (Popeye Doyle, Dirty Harry) unterschieden sich von den "linken" (Serpico) nur in der grundverschiedenen Beschaffenheit des "bösen Systems", mit dem sie sich anlegten. Der Protagonist von El bonarense, der vom Kleinkriminellen zum Polizisten wird und schließlich in Uniform zu einem größeren Verbrecher als er vorher je war, ist das genaue Gegenteil: er macht - will sagen: prügelt und kassiert - einfach mit. Bestimmt kein guter Bulle, aber über weite Strecken so passiv, dass er auch nicht wirklich ein böser Bulle ist. Keiner, der sich irgendeinen moralischen Kodex leisten würde, aber auch kein criminal mastermind in Uniform. So einer, das ist das Fazit des Films, bringt es im Argentinien nach dem "Corralito", wo viele auf der Strecke bleiben, zu etwas.
Sehr anders sieht der Zugriff aufs Genre in Carancho aus. Wo dort das Identifikationsangebot für den Zuschauer durch eine Figur, die nicht gegen, sondern mit dem Strom schwamm, konsequent demontiert wurde, wird es hier durch die Liebesgeschichte zweier Menschen, die einer absolut unmenschlichen Arbeitswelt zu entkommen versuchen, neu zusammengesetzt. Während Trapero dort die horrenden Misstände im Polizeiapparat von Buenos Aires - Vetternwirtschaft, Korruption, Polizeigewalt - mehr im Vorbeigehen schilderte, schreibt er sich hier die politische Brisanz seines Themas gleich per Texteinblendung im Vorspann auf die Fahnen. War El bonarense über weite Strecken so unaufgeregt, dass die Bezeichnung Thriller beinahe sarkastisch wirkt, lässt Carancho seine zwei Hauptfiguren, Melodram und Thriller, Film und Zuschauer mit denkbarer Wucht aufeinander prallen - wie einen Lastwagen auf einen Fußgänger, wie den Stiefel auf den Solar Plexus oder den Vorschlaghammer auf das Knie.
In der ersten Szene wird parallel montiert, wie Sosa am Boden liegt, nur ein Schatten im gelben Licht der Straßenlaternen, und von den erzürnten Hinterbliebenen eines Unfallopfers zusammengetreten wird, während sich Luján Morphium in den Fuß spritzt. Er steht auf, spuckt einen Mundvoll Blut aus, sie versucht sich zu sammeln, die Kamera auf ihrem Gesicht im Profil, in Großaufnahme, unscharf. Der mitleiderregende "Schlafzimmerblick" scheint auf der Arbeit zu ihrem Erscheinungsbild zu gehören wie der Kittel. Dann sind beide unterwegs, im Auto. Auf Kollisionskurs. Aufeinanderprallen als Synthese.
Vom klassischen Film noir entleiht sich Trapero nicht zuletzt das zentrale Thema der Mobilität, das jener seinerseits von der hard boiled detective fiction übernahm. Die Stadt ist ein bedrohlicher Nicht-Ort, leere, gesichtslose Straßenecken bei Nacht, an denen es immer wieder ziemlich unvermittelt rumst. Menschen, die aneinander vorbeihetzen am Tag. Von der Suche nach Intimität in dieser durchanonymisierten, entmenschlichten Welt, in der der Crash zur letzten Form sozialer Interaktion geworden zu sein scheint, handelt der Film einerseits. Andererseits von dem Ausbruchversuch aus einer vollkommen unmenschlichen Arbeitswelt, von der vernarbte Venen und lädierte Gesichter nur die äußerlichen Spuren sind, die nach außen, an die Körperoberfläche gekehrten Traumata der beiden Hauptfiguren, über deren Vergangenheit wir nur wenig erfahren. Wie Sosa seine Lizenz verloren hat, woher die riesige Narbe an Lujáns Schulter rührt etwa, wissen wir nicht. Von den an sich schon denkbar zerrissenen Biographien bekommt man wiederum nur Fetzen präsentiert.
Das große Problem des Films ist, dass Trapero die (a-)soziale Realität, von der er erzählen möchte, und die Form des Genre-Films, die er dafür wählt, nicht wirklich zusammenbekommt. War der klassische Film noir mehr ein Stil als ein Genre, eine stark stilisierte Ästhetik, deren pessimistische Dunkelheit sich eher abstrakt aus den Erfahrungen des Weltkriegs speiste, ist es sicherlich schwierig, in einer solchen Ästhetik von einer sehr konkret gefassten Gegenwart zu erzählen. Zumal "Neo-Noir" eben auch immer einen Rückbezug auf die Geschichte des Films bedeutet. Man denkt eben bei den Gesichtern im flackernden Blaulicht, den sich in weiße und rote Lichter hinter der Windschutzscheibe auflösenden Straßen in Carancho eher ans Kino und seine Geschichte als an irgendeine außerfilmische Realität. Auch fiebert man mit den beiden Protagonisten so sehr mit, dass das wo vor sie fliehen eher ins Hintertreffen zu geraten droht.
Jedoch: diese entscheidenden Unstimmigkeiten tun der Wucht des Films, an dessen Ende das Auto - einmal mehr - zur tödlichsten aller Waffen wird, keinen großen Abbruch.
   

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