Montag, 29. Juli 2013

La nación clandestina (Jorge Sanjinés, Bolivien 1989)


Beinahe zwei Jahre meines bisherigen Lebens habe ich in Bolivien verbracht und doch erst vor einigen Wochen zum ersten Mal einen Film von Jorge Sanjinés gesehen, dem wohl bedeutendsten Filmemacher des Landes – hier in Berlin, im Arsenal.
Zunächst schien meine erste Begegnung mit einem Sanjinés, übrigens La nación clandestina von 1989, unter keinem guten Stern zu stehen. Zunächst war der Potsdamer Platz wegen des Aufenthalts von Barack Obama im Ritz Carlton so weiträumig abgesperrt, dass ich, von den Kommentaren einiger Polizisten nicht eben ermutigt, beinahe schon die Hoffnung aufgegeben hatte, überhaupt zum Filmhaus zu gelangen (sonderbar gespenstisch übrigens die Atmosphäre des Platzes ohne Verkehr, bevölkert beinahe ausschließlich von einigen Schaulustigen und jeder Menge Polizei, die unter anderem auch Panzer aufgefahren hatte.) Nachdem ich dieses Hindernis dann doch noch, buchstäblich in letzter Minuten überwunden hatte und pünktlich im Kino war, wurde auch noch, der Film näherte sich bereits seinem Ende, die Leinwand abrupt schwarz und die Lichter gingen an. Zum Glück konnte das Problem relativ schnell behoben und der Film zu Ende gezeigt werden.  


 Eigentlich kann ich mir kaum anmaßen, allzu viel über einen Regisseur zu sagen, wenn ich nur einen einzigen seiner Filme kenne und über ihn und sein Werk sonst nur weiß, was die Wikipedia preisgibt, aber dennoch: es ist verblüffend, wie gut La nación clandestina und die spärlichen Informationen, die ich über seinen Schöpfer habe zusammenpassen. Sanjinés‘ gesamtes Leben und Werk stellt sich - weit über sein politisches Anliegen hinaus - als ein einziger Kampf dar. Ein Kampf gegen die Institutionen (so schloss die Regierung aus Angst um ihre Monopolstellung, die bolivianische Filmschule, die Sanjinés, neben anderen - eher filmpolitischen als cinephilen - Einrichtungen zu Beginn der Sechziger mitgründete, sehr schnell wieder). Gegen die Geschichte (insgesamt dreimal zwang die politische Situation seines Landes den Filmemacher ins Exil). Gegen die - im allgemeinen wohl katastrophalen - Produktionsbedingungen. Gegen die kulturelle(n) Differenz(en) zwischen Sanjinés, der selbst aus einer weißen intellektuellen Minderheit stammt, und der indigenen Mehrheit Boliviens, deren Sache seine Filme zu der ihren machen. Und schließlich und sicherlich nicht zuletzt gegen das Medium Film selbst. "Teoría y práctica de un cine junto al pueblo" lautet der Titel eines Buches, das Sanjinés 1979 veröffentlicht hat. Welche Ausdrucksmöglichkeiten, welche formalen Mittel bietet das Medium, um ein solches Projekt zu realisieren, um also tatsächlich Filme mit und nicht über das Volk zu machen? Wahre Partizipation zu schaffen, anstatt durch reine Repräsentation letztlich koloniale Diskurse und Praktiken fortzusetzen? All das scheint mir La nación clandestina in nuce abzubilden. In dem Sinne, das man ihm diese verschiedenen, aber immer eng miteinander zusammenhängenden Kämpfe bis in einzelne Szenen hinein ansieht, ist es der vielleicht kämpferischste Film, den ich kenne.     

Sebastián Mamani wird in Willkani, einer ayllu (Gemeinde der Aymara) auf dem bolivianischen Altiplano geboren. Schon als Kind schickt ihn seine Mutter ins nahe gelegene La Paz, um ihm bessere Perspektiven zu ermöglichen. Unter dem Druck der rassistischen und sozialen Ressentiments, die ihm in der Stadt begegnen, versucht sich Sebastíán zu assimilieren: Er kleidet sich "städtisch", ändert seinen Nachnamen in Maisman, verdient sich seinen Lebensunterhalt als Sargbauer, Soldat und schließlich Agent des Innenministeriums. So wenig wie es Sebastián gelingt in La Paz Fuß zu fassen, so sehr entfremdet ihn das städtische Leben von seinem ländlichen Ursprung. Wegen der Änderung seines Namens und seiner Tätigkeit für die Regierung, die ihn zum Kontrahenten des bewaffneten Widerstands der Minen-Arbeiter und Bauern macht, wird er aus seiner Gemeinde verstoßen. Zurück in der Stadt flüchtet er sich mehr und mehr in den Alkohol. Als er, anlässlich des Todes seines Vaters, abermals nach Willkani zurückkehrt, wird er, unterstützt durch seinen Bruder Vicente, der Lehrer ist und sich im Kampf der Minenarbeiter engagiert, zu einer Art politischen Vertreter der Gemeinde ernannt, der sich für deren Belange in der Stadt einsetzen soll. In dieser Funktion jedoch hintergeht und betrügt er die Gemeinde. Nicht nur entscheidet er, gegen den Willen der ayllu, eine US-amerikanische Hilfelieferung anzunehmen, er unterschlägt auch die Hälfte dieser Spende. Außerdem ist die Lieferung an die Bedingung geknüpft, dass Sebástian zusichert, dass sich Willkani nicht an den Blockaden zur Unterstützung aufständischer Minenarbeiter beteiligt. Sebástian wird nackt und gefesselt rückwärts auf einen Esel gesetzt und aus Willkani vertrieben mit der Androhung, gesteinigt zu werden, sollte er jemals zurückkommen. Vollends verzweifelt macht er sich schließlich auf den Weg nach Willkani, entschlossen, sich in dem alten Ritual des Danzati zu Tode zu tanzen.

Erzählt wird die Handlung in vielen flashbacks, gerahmt durch Sebastiáns Weg durch die kargen Weiten des Altiplano, die Maske für den Danzati auf dem Rücken. Diese Erzählstruktur verdeutlicht die Zeitwahrnehmung der Aymara, wie sie eine der höchsten Autoritäten Willkanis am Anfang formuliert, die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart. Sanjinés formale Vision bestand darin, den ganzen Film in Plansequenzen, also jede Szene in nur einer einzigen Einstellung zu drehen. Die oft mit der Hand geführte Kamera ist dabei häufig mitten im Geschehen, bewegt sich zwischen den Figuren und macht so den Zuschauer zum "Teilnehmer des Akts des Filmemachens" (Sanjinés).

Die zentrale Dichotomie aus Land und Stadt, ayllu und ciudad, die der Film als zwei gegensätzliche Welten mit zwei Geographien, zwei Sprachen, zwei Kulturen darstellt, verdichtet sich durch die Darstellungen ihrer diversen Beziehungen zu einem recht facettenreichen Bild der Probleme Boliviens - nicht nur - Ende der 80iger Jahre. Wenn Sebástian sich aus eigenem Gutdünken und um sich zu bereichern über den Willen der Gemeinschaft hinwegsetzt, macht er sich nicht nur zu einem Instrument der Ausbeuter, er wird auch einer mehr von denen, die den Aymara helfen wollen, aber dabei nichts von ihren wirklichen Problemen und Bedürfnissen verstehen. Er ähnelt darin dem studentischen Aktivisten, der im Film - unverhohlen als Karikatur gezeichnet - auf der Flucht vor dem Militär über den Altiplano irrt. Er betont immer wieder, dass er sich für die Interessen der Landbevölkerung einsetzt, obwohl es in seiner momentanen Situation doch sie sind, die ihm den Arsch retten sollen. Als ein Mann und eine Frau, die er unterwegs trifft und um Hilfe anfleht ihn nicht verstehen und schließlich gehen, brüllt er ihnen hinterher: "Indios de mierda."

Das tragische an der Figur Sebastiáns ist vor allem seine ständige Fremdbestimmung. Von dem Moment an, in dem seine Mutter ihn als Kind in die Stadt schickt bis zu dem Betrug am Ende, zu dem ihn ein schmieriger Kompagnon in der Stadt verleitete und mit dem er sich schließlich zum Werkzeug imperialistischer Interessen macht, die er nicht versteht, bleibt er immer ein Spielball anderer, versucht eben so verzweifelt wie erfolglos, seinen Platz zu finden zwischen den beiden gegensätzlichen Welten, zwischen denen er eben eher hin und her geworfen wird als dass er sich wirklich zwischen ihnen bewegt. Dass Sanjinés eben diesen Sebástian und nicht seinen politisch engagierten Bruder Vicente in den Mittelpunkt des Filmes stellt, mag daran liegen, dass diese kulturell zerrissene und fremdbestimmte Figur durchaus als Metapher auf die Geschichte Boliviens gelesen werden kann.

Sebastián findet nur im Opfertod die Möglichkeit, seine Schuld zu sühnen und sich mit seiner Herkunft auszusöhnen. Nur so kann er zu Selbstbestimmung finden, die ihm verschiedene Parteien bis zum Schluss verwehren wollen. Sowohl die Soldaten, denen er auf dem Weg nach Willkani begegnet als auch die Bevölkerung des Ortes selbst drohen, ihn zu töten, womit sie eben einmal mehr seine Selbstbestimmung untergraben würden. In La nación clandestina werden nicht nur Zeit- sondern auch Realitätsebenen verschachtelt. So scheint Sebástian sich mehrmals im Verlaufe des Films selbst auf seinem Weg zu beobachten. Am Ende schließlich, nachdem man Sebástian in Agonie am Boden liegen sieht, sind die Bewohner Willkanis zu sehen, die geschlossen unter der bolivianischen Fahne und der indigenen Wiphala in den Kampf für die Minenarbeiter ziehen. Ein Schwenk der Kamera führt von dem Zug auf das Gesicht Sebastiáns, mit dessen freeze frame der Film endet. Nur in seinem Tod können die Widersprüche, die Sebástian verkörpert aufgelöst werden. Was aus diesem Opfer entsteht ist eine Apotheose einer eigenständigen bolivianischen Identität.

Die Herausforderung dieses Filmes bestand für mich nicht so sehr in der Tragik seines Protagonisten oder des wahrlich finsteren Lebensverhältnisse, von denen er erzählt. Vielmehr hinterfragt La nación clandestina eigene westliche Welt- und (in meinem Falle auch) Bolivienbilder. Ich kannte die Landschaften, in denen der Film spielt, die Physiognomien der Darsteller, den Akzent mit dem sie Spanisch sprechen und die Blockflötenklänge, mit denen das Geschehen unterlegt ist. Doch Sanjinés Versuche eines Kinos mit dem (bolivianischen) Volke, sein Versuch - ob ihm dieser nun in jeder Szene gelingt, sei einfach mal dahingestellt - alles exotistische und folkloristische aus diesen Bildern und Tönen zu tilgen, führte mir zugleich die Oberflächlichkeit meines Blickes vor Augen. Vom Klang her "kannte" ich auch das Aymara, was eben noch lange nicht heißt, dass ich es auch verstehen würde. Für eine Kritik aus der Perspektive einer europäischen Linken gibt der Film reichlich Angriffsfläche. Man könnte ihm seine Opferthematik vorwerfen, seinen Antiamerikanismus, seine Darstellung der Stadt als das durch und durch Böse, wo jeder sich seiner Herkunft vom Lande schämt, niemand ein "Indio" sein möchte, und auch Verruchte, das korrupte Sündenbabel, in dem gesoffen und gekokst wird. All das könnte man bedenklich oder reaktionär finden und würde sich damit doch auf einen von jeher sehr bequemen Standpunkt westlichen Kulturimperialismus begeben. Was derjenige westliche Zuschauer, der sich auf die Herausforderung von La nación clandestina einlässt, bekommt, ist nicht nur ein Bild einer fremden Kultur von innen heraus, sondern auch eine Lektion darüber, wie ungenügend die eigenen Begriffe im Hinblick auf diese "fremde" Kultur sein können.    

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