Mittwoch, 26. Juni 2013

"Lost" und ich

Noch merklich bewegt und aufgekratzt vom Pathos und Thrill des großen Finales möchte ich ein paar - betont lose und unabschließende - Worte zu der Fernseh-Serie Lost niederschreiben.
Es ist einige Jahre her, dass ich die ersten Staffeln der - damals noch laufenden - Serie eher verschlang als sah, in der der Flug Oceanic 815 von Sydney nach Los Angeles abstürzt und sich einige der Passagiere auf einer Insel im Südpazifik wiederfinden. Doch so wie die Insel alles andere als gewöhnlich ist, so ist auch die Robinsonade mit ihrem herkömmlich genau abgesteckten Raum und ihren gründungsmythologischen Untertönen in Lost nichts weiter als der Ausgangspunkt für ein Netz aus Verschwörungen und Verwicklungen und Intrigen, das sich nach und nach über Kontinente und Genres und Epochen und Zeit- und Realitätsebenen und Weltbilder und Lebensentwürfe ausbreitet.
Over the top ist alles an dieser Serie. Wo etwa zeitglich entstandene HBO-Serien sich mehr (The Wire) oder weniger (The Sopranos) von den üblichen auf Cliffhanger ausgerichteten Spannungsbögen serieller TV-Erzählungen emanzipierten, begnügt sich Lost eben nicht damit, diese auf die Spitze zu treiben, sondern weit, weit darüber hinaus. Nicht nur endet die Episode dann, wenn es am spannendsten und die Staffel dann, wenn es am allerspannendsten ist, selbst innerhalb einer Folge wird an den dramaturgischen Höhepunkten das Geschehen durch eine Schwarzblende unterbrochen - sei es um zu einem der anderen der diversen Handlungsstränge zu wechseln, sei es, um einfach nur ein Ausrufezeichen zu setzen und das Geschehen dann an der gleichen Stelle fortzuführen. Die Zahl der (pop-)kulturellen Bezüge ist Legion und erstreckt sich von Homer und der Bibel über John Steinbeck bis Star Wars. So gut wie alle Figurennamen beziehen sich auf Philosophen, Schriftsteller, literarische Figuren oder sind irgendwie sprechende Anagrame. Zu untersuchen, ob sich daraus schlüßige Subtexte ergeben oder die Macher einfach nur einen Heidenspaß daran haben, die Zeichen denkbar exzessiv frei im Südpazifik flottieren zu lassen, ist eine Aufgabe, die ich nur zu gerne den Losties und Kulturwissenschaftlern dieser Erde überlasse.
Natürlich kann eine solche Anhäufung von Dramatik, Mystizismus und überdeterminierter Bedeutsamkeit auch irgendwann anfangen einem auf die Nerven zu gehen. Nachdem mich das Ende der dritten Staffel so umgehauen hatte wie weniges, was ich in meinem Leben auf der Leinwand oder dem Bildschirm gesehen habe (der Satz "We have to go back, Kate!" ist eine jener Film- oder eben TV-Momente, die sich mir auf ewig ins Gedächtnis eingebrannt haben), war der Bogen danach für mich eindeutig überspannt.
Eher pflichtbewusst als begeistert quälte ich mich durch das zwischen der Insel und Los Angeles hin- und herswitchende Geschehen der Season 4 und hielt es dabei doch irgendwie mit einer Figur aus Zack and Miri make a Porno, die die Serie - übrigens etwa zum gleichen Zeitpunkt - mit den Worten kommentiert: "Ah dude they're on the island, they're off the island...who can follow that shit". In der fünften Staffel reichte es mir dann und ich beschloss, die Insel Insel sein zu lassen. Eine Entscheidung, die ich erst vor wenigen Monaten, einige Jahre und entscheidende und prägende Lebensereignisse später revidierte, um mir mehr oder weniger spontan die fünfte Staffel komplett anzusehen. Ich habe es nicht bereut: Nicht nur haben mich die Ereignisse schnell wieder in ihren Bann gezogen, nicht nur ist das Wiedersehen mit Serien-Charakteren ein bisschen auch ein Wiedersehen mit alten Freunden, die man in vielen dramatischen und emotionalen Stunden verschwendeter Lebenszeit dann eben doch - die einen mehr, die anderen eher weniger - ins Herz geschlossen hat. Ich war vor allem sehr angenehm überrascht wie komplex und also eben menschlich diese Figuren sind. Scheint sich die Robinsonade in Lost zunächst sechs Staffeln lang zum ultimativen Kampf zwischen Gut und Böse auszuweiten, so unterminiert die Serie doch zunehmend diese Dichotomie, nicht so sehr, weil es im Wirr-Warr der Erzählstränge und plot twists schwer zu unterscheiden ist, wer auf welcher Seite steht, sondern weil es eben um Menschen geht, die, das ist trivial, nie nur "gut" oder "böse" sind, sondern deren Handeln immer aus bestimmten psychischen und sozialen Konstellationen entsteht. Das Handeln der Figuren aus diesen Konstellationen heraus zu begreifen, nicht es in Kategorien einzuordnen, ist eben der Ansatz, der hier verfolgt wird.
In der knapp 110-minütigen Abschlussfolge dann, werden noch einmal alle Register gezogen, gibt es die volle Breitseite an Pathos und Gefühl und Dramatik mit Abschiedsschmerz und Wiedersehensfreude und allem was dazugehört. Freilich lässt dieses Ende mindestens ebenso viele Fragen offen wie es beantwortet, aber, Hand aufs Herz, von einer Fernsehserie abschließende Erklärungen zu erwarten, wie es sich nun verhält mit Leben, Tod und Wiederauferstehung, mit Erde, Himmel und Hölle, mit Raum und Zeit, Hier und Jetzt, wäre dann wohl auch ein etwas vermessener Anspruch.



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