Mittwoch, 5. Juni 2013

La Ciénaga (Lucrecia Martel, Argentinien 2001)



Das Haus einer Familie aus der „gehobenen Gesellschaft“ auf dem Land im tropischen Nordwesten Argentiniens. Gäste sind zu Besuch. Während die Jungs im Wald jagen sind und die Mädchen im Haus im Bett liegen, vegetieren die Erwachsenen am Pool vor sich hin, sprechen kaum, kippen Unmengen von Rotwein mit Eiswürfeln in sich hinein, warten auf das aufziehende Gewitter. Als Mecha, die Hausherrin, stürzt, mehrere Weingläser in der Hand, beugt sich Gregorio, ihr Mann, dem es seinerseits sichtlich schwer fällt, sich auf den Beinen zu halten, zu ihr hinunter und sagt: „Steh auf, es wird bald anfangen zu regnen.“ Ihre Tochter Momi und die indigene Hausangestellte Isabel sind die einzigen, die teilnahmsvoll und nüchtern genug sind, sich um die Frau zu kümmern, die blutend am Boden liegt. Mecha aber will die Hilfe nicht, wehrt sich geradezu, diffamiert Isabel als „India“ und „Wilde“ und bezichtigt sie, ihr Handtücher zu klauen. In diesen ersten Szenen von  La Ciénaga, dem Langfilmdebüt Lucrecia Martels, stilisiert sie das Familiendrama recht offensichtlich zum Horrorfilm. Wie Zombies wanken die Figuren über die Terrasse und die Kamera, unerbittlich nah an den halbnackten Körpern der etwa Fünfzig-jährigen, von denen manchmal nur ein Torso zu sehen ist, wankt mit. Jump-Cuts verunmöglichen die Orientierung zusätzlich. Einen gewaltigen Anteil an diesem Familienhorror hat auch die musique concrète auf der Tonspur: Gewittergrollen, das Klirren von Eiswürfeln im Glas, von Glas auf dem Beton, das Quietschen von Stühlen, die über die Terrasse gezogen werden, verdichten sich zu einer veritablen Symphonie des Grauens. Die Lesart als Horrorfilm unterstreicht die Regisseurin Lucrecia Martel noch durch die Gestaltung der credits einerseits, den Titel andererseits, in dem sich Autobiographisches mit dem Genre vermengt. La Ciénaga ist zunächst der Name eines Ortes im argentinischen departamento Salta, aus dem Martel kommt und wo auch der Film gedreht wurde, es heißt aber eben auch „der Sumpf“, was ein passender Titel für einen Horrorfilm wäre. Die angemessene Form, um das Milieu, in dem sie selbst aufgewachsen ist, zu beschreiben, ist für die Filmemacherin zunächst einmal der Horrorfilm.  



Die Stilisierung der ersten fünf Minuten die nächsten neunzig in gleichem Maße aufrecht zu halten, wäre schier unmöglich. Und doch bleiben das Morbide, das Unheimliche, das Groteske den ganzen Film über präsent. In den Bildern, etwa von einem Rinderkadaver im Sumpf, die die Hitze und den Schlamm der Tropen beinahe physisch erlebbar machen. In sonderbaren Blickwinkeln der Kamera. In einer Geschichte, die sich die Kinder erzählen, in der eine afrikanische Riesenratte mit tausenden von Zähnen, zuerst einige Katzen auffrisst, dann selbst von einem Tierarzt mit der Axt in zwei Teile gespalten wird. (Gerade der „zivilisierte“ Mensch ist also das grausamste Tier, nicht das Monster vom „dunklen Kontinent.“) In an sich schon schaurig genug klingendem Kindergesang, der zu allem Überfluss noch von Chirurgen und Operationen handelt. Überhaupt sind Operationen ein beliebtes Gesprächsthema in diesem Film: Einer von Mechas Söhnen hat – man erfährt nicht wie – ein Auge verloren und soll nun ein Glasauge eingesetzt bekommen. Im Mund eines der Söhne Talis, ihrer Kusine, wächst ein Zahn, wo er nicht wachsen sollte. Krankheit, Tod und Gewalt sind allgegenwärtig.

Mit der Präzision einer Chirurgin seziert auch die Regisseurin den Alltag, den sie beschreibt. Die Handlung erstreckt sich über wenige Tage – es ist Karnevalszeit – im Leben zweier Familien, der Mechas und der Talis. Gnadenlos und doch nicht denunziatorisch werden die enttäuschten Hoffnungen, die Geflechte von ungesunden Beziehungen und Abhängigkeiten, die Standesdünkel und rassistischen Ressentiments, die diesen Alltag bestimmen, freigelegt.   

Gregorio hat nichts zu sagen und sagt auch tatsächlich kaum etwas in dem Haus, das Mecha als grausamer Drache regiert. Während der Mann in jeder Szene, in der er auftritt neue Superlative für das Wort Resignation aufstellt, kehrt die Frau ihre Verzweiflung und ihre offensichtliche Verletzbarkeit immer wieder in – meistens – verbalen Gewaltausbrüchen gegenüber ihren Hausangestellten und Momi nach außen. Zu José, ihrem ältesten Sohn, hingegen hat sie ein eher zärtliches Verhältnis, das aber wohl ebenso ungesund ist wie das ihrer Tochter gegenüber Isabel. Momi vergöttert die Angestellte geradezu, sieht in ihr offensichtlich ihre einzige Bezugsperson und lässt doch immer wieder ihr Gefühl von Überlegenheit aufgrund von Stand und Hautfarbe durchblitzen. In der Beschreibung des Verhältnisses von weißer matrona und indigener empleada konzentriert sich Martel überhaupt eher auf die wechselseitigen psychologischen Abhängigkeiten als auf die offensichtlichen ökonomischen. Wenn Isabel, die vorher unentwegt mit Rauswurf bedroht wurde, schließlich ihre Stelle aus eigenen Stücken aufgibt, reagiert Mecha mit purer Verachtung, hinter der sich doch sehr deutlich ihre Enttäuschung und Kränkung zeigt. Nicht nur – wahrscheinlich nicht mal in erster Linie – als billige Arbeitskraft braucht sie das Mädchen, sondern auch, um in Abgrenzung von ihr den eigenen Status zu definieren, umso mehr, je mehr dieser Status in Auflösung begriffen ist. Je wackliger ihre privilegierte gesellschaftliche Stellung, je „dekadenter“ ihr Lebensstil, je seltener sie überhaupt noch aus dem Bett aufsteht, je mehr der Alkohol zum Hauptnahrungsmittel wird, desto mehr braucht sie jemanden, den sie verachten, dem sie sich überlegen fühlen kann, einfach nur, weil seine Haut dunkler ist.

Dieses Verhältnis wird gespiegelt im Verhältnis von Talis Familie zu der Mechas. Während ihr Mann diesen Rabeneltern, die sich selbst ganz dem Alkohol und ihre Kinder ganz sich selbst überlassen, unverhohlene Ablehnung entgegen bringt und nicht möchte, dass seine Kinder mit dieser Familie verkehren, ist Talis Verhältnis gegenüber Mecha eher von Mitleid geprägt, sie gibt Gregorio die Schuld am Unglück ihrer Kusine. Auch wenn das Leben in dieser Familie vielleicht nicht ganz der blanke Horror ist wie in der Mechas, gibt der Film doch keinen Anlass anzunehmen, dass sie sonderlich glücklich wären. Je unglücklicher sie selbst sind, desto mehr brauchen also auch sie jemanden, dem es noch dreckiger geht.

Aus der Welt, die der Film beschreibt, gibt es keinen Ausweg. In den  Freizeit-„Vergnügungen“ der Kinder – die Jagd, der Disko-Besuch, der in einer Schlägerei endet, die in Südamerika zum Karneval üblichen Wasserschlachten – lassen sich nur zu gut das bisweilen grausame Verhalten der Eltern wiedererkennen. Längst haben die Jungen die rassistischen Ressentiments der Alten übernommen. Kinder verschiedener Hautfarbe können hier vielleicht gemeinsam im Fluss baden und fischen, wirklich gleichberechtigt sind sie dabei jedoch nie. Alle Ausbruchversuche misslingen. Der Plan Mechas und Talis, für einige Tage nach Bolivien zu fahren, mit der äußerst fadenscheinigen Begründung, dort Schulmaterialien für ihre Kinder kaufen zu wollen, scheitert. Auch die Religiosität bietet keinen Ausweg. Leitmotivisch durchziehen den Film Fernseh-Berichte und Gespräche über eine Jungfrauen-Erscheinung, die es in der Gegend gegeben haben soll. In den letzten Dialogzeilen erzählt Momi, dass sie an dem Ort, an dem die Virgén del Carmen gesichtet worden sein soll, gewesen ist - und nichts gesehen hat.


Der Film schießt gerade in der Rassismus-Kritik ein ums andere mal übers Ziel hinaus. Manchmal wird das, was die Weißen den Anderen unterstellen allzu plump als Projektion des eigenen Verhaltens sichtbar. Etwa wenn sich herausstellt, dass nicht die unentwegt des Diebstahls bezichtigte Isabel klaut, sondern Momi die Angestellte bestiehlt. Oder im Dialog zweier Jungs, in dem sie den „Indios“ Zoophilie und Inzest unterstellen. Die Phantasien darüber, wie es in den Häusern der ‚Anderen‘ zugeht, spiegelt recht eindeutig das Treiben, dem der Zuschauer im Haus Mechas beiwohnt. Zwar ist Martel zu klug Inzest, das wohl abgegriffenste „Dekadenz“-Klischee, direkt zu thematisieren, aber auffällig ist doch, dass im Verlauf des Films Jede(r) mal bei jedem auf dem Bett liegt (siehe hierzu auch die Inhaltsangabe in der IMDb).

Dass La Ciénaga dennoch ein großartiger Film ist, verdankt sich Martels Konzept, messerscharfe soziologische und psychologische Analyse mit der Unmittelbarkeit des Autobiographischen, aus eigener Erfahrung gespeisten, und des Horrorfilms zu verbinden. Wir verstehen diese Welt, die die Hölle ist, und haben doch keine Möglichkeit, uns von ihr oder den Menschen, die sie bewohnen, zu distanzieren. Wie für sie gibt es auch für uns kein Entkommen.

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