Das Haus einer Familie aus der „gehobenen Gesellschaft“ auf
dem Land im tropischen Nordwesten Argentiniens. Gäste sind zu Besuch. Während
die Jungs im Wald jagen sind und die Mädchen im Haus im Bett liegen, vegetieren
die Erwachsenen am Pool vor sich hin, sprechen kaum, kippen Unmengen von
Rotwein mit Eiswürfeln in sich hinein, warten auf das aufziehende Gewitter. Als
Mecha, die Hausherrin, stürzt, mehrere Weingläser in der Hand, beugt sich
Gregorio, ihr Mann, dem es seinerseits sichtlich schwer fällt, sich auf den
Beinen zu halten, zu ihr hinunter und sagt: „Steh auf, es wird bald anfangen zu
regnen.“ Ihre Tochter Momi und die indigene Hausangestellte Isabel sind die
einzigen, die teilnahmsvoll und nüchtern genug sind, sich um die Frau zu
kümmern, die blutend am Boden liegt. Mecha aber will die Hilfe nicht, wehrt
sich geradezu, diffamiert Isabel als „India“ und „Wilde“ und bezichtigt sie,
ihr Handtücher zu klauen. In diesen ersten Szenen von La Ciénaga, dem Langfilmdebüt Lucrecia
Martels, stilisiert sie das Familiendrama recht offensichtlich zum Horrorfilm. Wie
Zombies wanken die Figuren über die Terrasse und die Kamera, unerbittlich nah
an den halbnackten Körpern der etwa Fünfzig-jährigen, von denen manchmal nur
ein Torso zu sehen ist, wankt mit. Jump-Cuts verunmöglichen die Orientierung
zusätzlich. Einen gewaltigen Anteil an diesem Familienhorror hat auch die musique
concrète auf der Tonspur: Gewittergrollen, das Klirren von Eiswürfeln im Glas,
von Glas auf dem Beton, das Quietschen von Stühlen, die über die Terrasse
gezogen werden, verdichten sich zu einer veritablen Symphonie des Grauens. Die
Lesart als Horrorfilm unterstreicht die Regisseurin Lucrecia Martel noch durch die Gestaltung der credits
einerseits, den Titel andererseits, in dem sich Autobiographisches mit dem
Genre vermengt. La Ciénaga ist zunächst der Name eines Ortes im argentinischen departamento
Salta, aus dem Martel kommt und wo auch der Film gedreht wurde, es heißt aber
eben auch „der Sumpf“, was ein passender Titel für einen Horrorfilm wäre. Die
angemessene Form, um das Milieu, in dem sie selbst aufgewachsen ist, zu
beschreiben, ist für die Filmemacherin zunächst einmal der Horrorfilm.
Die Stilisierung der ersten fünf Minuten die nächsten
neunzig in gleichem Maße aufrecht zu halten, wäre schier unmöglich. Und doch
bleiben das Morbide, das Unheimliche, das Groteske den ganzen Film über
präsent. In den Bildern, etwa von einem Rinderkadaver im Sumpf, die die Hitze
und den Schlamm der Tropen beinahe physisch erlebbar machen. In sonderbaren
Blickwinkeln der Kamera. In einer Geschichte, die sich die Kinder erzählen, in
der eine afrikanische Riesenratte mit tausenden von Zähnen, zuerst einige
Katzen auffrisst, dann selbst von einem Tierarzt mit der Axt in zwei Teile
gespalten wird. (Gerade der „zivilisierte“ Mensch ist also das grausamste Tier,
nicht das Monster vom „dunklen Kontinent.“) In an sich schon schaurig genug
klingendem Kindergesang, der zu allem Überfluss noch von Chirurgen und
Operationen handelt. Überhaupt sind Operationen ein beliebtes Gesprächsthema in
diesem Film: Einer von Mechas Söhnen hat – man erfährt nicht wie – ein Auge
verloren und soll nun ein Glasauge eingesetzt bekommen. Im Mund eines der Söhne
Talis, ihrer Kusine, wächst ein Zahn, wo er nicht wachsen sollte. Krankheit,
Tod und Gewalt sind allgegenwärtig.
Mit der Präzision einer Chirurgin seziert auch die Regisseurin den Alltag, den sie beschreibt. Die Handlung erstreckt sich über wenige
Tage – es ist Karnevalszeit – im Leben zweier Familien, der Mechas und der
Talis. Gnadenlos und doch nicht denunziatorisch werden die enttäuschten
Hoffnungen, die Geflechte von ungesunden Beziehungen und Abhängigkeiten, die
Standesdünkel und rassistischen Ressentiments, die diesen Alltag bestimmen,
freigelegt.
Gregorio hat nichts zu sagen und sagt auch tatsächlich kaum
etwas in dem Haus, das Mecha als grausamer Drache regiert. Während der Mann in
jeder Szene, in der er auftritt neue Superlative für das Wort Resignation
aufstellt, kehrt die Frau ihre Verzweiflung und ihre offensichtliche
Verletzbarkeit immer wieder in – meistens – verbalen Gewaltausbrüchen gegenüber
ihren Hausangestellten und Momi nach außen. Zu José, ihrem ältesten Sohn,
hingegen hat sie ein eher zärtliches Verhältnis, das aber wohl ebenso ungesund
ist wie das ihrer Tochter gegenüber Isabel. Momi vergöttert die Angestellte
geradezu, sieht in ihr offensichtlich ihre einzige Bezugsperson und lässt doch
immer wieder ihr Gefühl von Überlegenheit aufgrund von Stand und Hautfarbe
durchblitzen. In der Beschreibung des Verhältnisses von weißer matrona
und indigener empleada konzentriert sich Martel überhaupt eher auf die
wechselseitigen psychologischen Abhängigkeiten als auf die offensichtlichen
ökonomischen. Wenn Isabel, die vorher unentwegt mit Rauswurf bedroht wurde, schließlich ihre Stelle aus eigenen Stücken aufgibt,
reagiert Mecha mit purer Verachtung, hinter der sich doch sehr deutlich ihre
Enttäuschung und Kränkung zeigt. Nicht nur – wahrscheinlich nicht mal in erster
Linie – als billige Arbeitskraft braucht sie das Mädchen, sondern auch, um in
Abgrenzung von ihr den eigenen Status zu definieren, umso mehr, je mehr dieser
Status in Auflösung begriffen ist. Je wackliger ihre privilegierte gesellschaftliche Stellung, je
„dekadenter“ ihr Lebensstil, je seltener sie überhaupt noch aus dem Bett
aufsteht, je mehr der Alkohol zum Hauptnahrungsmittel wird, desto mehr braucht
sie jemanden, den sie verachten, dem sie sich überlegen fühlen kann, einfach
nur, weil seine Haut dunkler ist.
Der Film schießt gerade in der Rassismus-Kritik ein ums
andere mal übers Ziel hinaus. Manchmal wird das, was die Weißen den Anderen
unterstellen allzu plump als Projektion des eigenen Verhaltens sichtbar. Etwa
wenn sich herausstellt, dass nicht die unentwegt des Diebstahls bezichtigte
Isabel klaut, sondern Momi die Angestellte bestiehlt. Oder im Dialog zweier
Jungs, in dem sie den „Indios“ Zoophilie und Inzest unterstellen. Die
Phantasien darüber, wie es in den Häusern der ‚Anderen‘ zugeht, spiegelt recht eindeutig
das Treiben, dem der Zuschauer im Haus Mechas beiwohnt. Zwar ist Martel zu klug
Inzest, das wohl abgegriffenste „Dekadenz“-Klischee, direkt zu thematisieren,
aber auffällig ist doch, dass im Verlauf des Films Jede(r) mal bei jedem auf
dem Bett liegt (siehe hierzu auch die Inhaltsangabe in der IMDb).
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