Gestern im Arsenal: Sidney Lumets Kammerspiel-Klassiker
Die Zwölf
Geschworenen (leider ist die 35-mm-Kopie aus dem Archiv des Hauses gerade
bei den Rollenwechseln äußerst brüchig und - was viel schlimmer ist - deutsch
synchronisiert.) Als Vorfilm:
Police, ein Kurzfilm aus dem Jahr
1916 von und mit Charlie Chaplin.

Die Filme Chaplins, vor Allem natürlich die vor 1940, in der er die Figur
des
Tramps spielte, sah ich erstmals als Kind als Fernseh-Mitschnitte
auf VHS bei meinem Vater. Was ich sah - und liebte! - war der lustige Mann mit
dem unverwechselbaren Entengang, den zu großen Schuhen, dem schwarzen Anzug,
der Melone und dem Spazierstock. Viel später begriff ich, dass dieser Mann bei
aller Komik doch eigentlich ein Obdachloser war. Gestern sprang mir noch mal ins Auge,
wie heruntergekommen diese ikonographische Figur doch ist, wie schmutzig und verschlissen der
Anzug und der Hut.

Wenn ich die
Filme heute wiedersehe verblüfft mich, weil es so wenig mit meinen
Kindheitserinnerungen in Einklang zu bringen ist, wie genau sie die sozialen Missstände
ihrer Zeit skizzieren. Die Geschichte um einen Waisenjungen, der einen neuen
Vater findet in
The Kid hat mich letztes Jahr, bei der ersten Sichtung
nach was weiß ich wie langer Zeit, ebenso berührt wie damals, aber mir fiel
erstmals auf, wie dreckig und heruntergekommen die Gassen sind, in denen der
Film spielt, wie prekär die Lebensverhältnisse, die er zeigt. Ich weiß noch,
wie mein Vater, mein Bruder und ich damals brüllten vor Lachen, und merke doch
erst heute, welch vehemente Kritik an den verschiedensten Autoritäten, an
Heuchelei und den Lebensverhältnisen des Subproletariats dieser Humor
befördert. Vielleicht besteht Chaplins große Kunst, die umso größer und
wichtiger ist, je mehr Hollywood sie später fast vollkommen vergessen hat,
darin, gleichzeitig das Gefühl und den Verstand anzusprechen. Er
macht Filme, in denen der Erwachsenen beständig Neues entdecken kann, ohne dass dabei
doch das, was das Kind einst faszinierte, verloren ginge.

Fasziniert
haben mich auch die drei Filme Sydney Lumets aus den Siebzigern, die ich Anfang
des Jahres gesehen habe.
Serpico,
Dog Day Afternoon und
Network
- die beiden letzteren zum ersten Mal. Worin sich diese Faszination begründet
wurde mir erst bei
12 Angry Men richtig klar. Es ist die
Schnörkellosigkeit, mit der der Regisseur - manchmal virtuoses, zumindest aber
solides - Handwerk ganz in den Dienst einer Geschichte stellt.
In
12 Angry Men treibt Lumet, gleich zu Beginn seiner Regie-Karriere,
dieses Vorgehen auf die Spitze. In diesem Film ist kein Bild zu viel und jedes
an seinem Platz, jede Einstellung erfüllt - mit Bravour - eine klare Funktion
in der Erzählung. Zu dieser Schnörkellosigkeit gehört auch die genaue
Absteckung des Themas. Es geht um die Wahrheitsfindung in einem
Geschworenenprozess und alles Weltanschauliche daran, ergibt sich eben aus
dieser Geschichte. Fragen zu Recht oder Unrecht der Todesstrafe, die den
Angeklagten im Falle einer Verurteilung erwarten würde, oder der Tatsache, dass
es eben zwölf
Männer sind, die über dieses Schicksal zu entscheiden
haben, wären sicher interessante Themen für andere Filme, in diesem hier würden
sie unnötige Abschweifungen bedeuten.
Ein junger Mann soll seinen Vater
erstochen haben. Nach dem Prozess ist es an den zwölf Geschworenen, über seine
Schuld zu entscheiden. Bei auf den ersten Blick eindeutiger Beweislage, meldet
zunächst nur einer

der Männer (Henry Fonda), deren Namen wir nicht erfahren, einen
begründeten Zweifel an der Schuld des
Angeklagten an.
Dieser Zweifel eines Einzelnen, sein Misstrauen gegenüber dem allzu
Offensichtlichen, steckt allmählich Andere an.

Einen ersten Sieg erringt Fonda über die, für die schon wegen seiner Herkunft aus den Slums ganz klar ist, dass der Junge schuldig ist, die ihn möglichst schnell auf den Stuhl bingen wollen, um pünktlich zum Baseball-Spiel zu kommen - an vorderster Front ein großartig cholerisch agierender Lee J.
Cobb -, indem er sie dazu zwingt, überhaupt über den Prozess zu sprechen. Nach und nach
wendet sich das Blatt, werden immer mehr der Männer bereit, eine haargenaue
Analyse der über die Tat bekannten Fakten und der verschiedenen Zeugenaussagen
an die Stelle vorschneller Schlüsse zu stellen, wird das vermeintlich Einfache
immer komplexer - im Fall wie im Film.
Der Blick geht vom oberflächlichen
Anschein in die Tiefe der psychologischen Beweggründe sowohl des vermeintlichen
Täters als auch der Zeugen, die ihn belasten und der Anwälte, die ihn verteidigen. Aber auch
innerhalb des Saales spielt die Psychologie und Sozialisierung des Einzelnen
eine große Rolle, genau wie die sich immer rasanter verändernde
Gruppendynamik, die von der
mise-en-scène durch ständig neue
Figurenkonstellationen zum Ausdruck gebracht wird. Nach und nach setzt sich in
allen der zwölf Männern der Teil durch, der die Wahrheit will, statt des
Vorurteils, der langsam beweisen will, statt schnell zu wissen, der
argumentieren will, statt zu pöbeln.

So entwickelt sich zu einem seriösen demokratischen Strafprozess, was
als Farce begann. Und aus einem Film, der, abgesehen von drei kurzen Szenen, in
einem einzigen Raum spielt, und auf Musik fast vollständig verzichtet, wird nicht
nur einer der spannendsten Thriller, die ich kenne, sondern auch eine Utopie
davon, was ein Rechtsstaat sein könnte - und wahrscheinlich in der Realität
viel zu selten ist.
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