Mittwoch, 19. Juni 2013

La niña santa (Lucrecia Martel, Argentinien 2004)


La niña santa, der Titel des zweiten Films der Argentinierin Lucrecia Martel, ist, wie schon der ihres Debuts La Ciénaga, ebenso schlicht wie präzise gewählt. Das „Heilige“ und das Mädchen stehen sich zunächst in Form antithetischer Diskurse gegenüber. In dem einen Diskurs, dem der katholischen Mädchenschule, geht es um Gott, um Hingabe, um Berufung, er wird gelehrt gepredigt und gesungen. In dem anderen, dem der Schülerinnen, die eben, Katholizismus hin oder her, immer noch pubertierende Mädchen sind, geht es um die Atemprobleme einer Mitschülerin beim Singen oder darum, dass gesehen wurde, wie eine andere Mitschülerin einen Jungen geküsst hat, er wird meistens geflüstert. Diese beiden Diskurse werden sich im Folgenden begegnen, sich überlagern und dabei doch unvereinbar bleiben. Das Verhältnis von erwachender Sexualität und katholischer Moral ist dabei jedoch wesentlich vielschichtiger und komplexer als das aus Repression und Rebellion, das einem zunächst in den Sinn kommen mag.

 

Amalia (Maria Alché) lebt mit ihrer geschiedenen Mutter Helena (Mercedes Morán) in deren Hotel. An einem medizinischen Kongress, der hier abgehalten wird, nimmt auch Dr. Jano (Carlos Belloso) teil. Bei einem Straßenkonzert nutzt Dr. Jano eine Menschenmenge aus, um Amalia sexuell zu belästigen. Im Folgenden spitzen sich die Ereignisse zu, als sich Jano und Helena näher zu kommen scheinen und Amalia, verwirrt durch die Widersprüche ihrer aufkeimenden Sexualität und der streng katholischen Erziehung durch ihre Schule, es als ihre Berufung betrachtet, Dr. Jano von der Sünde zu befreien.

In La niña santa setzt Martel einerseits den Weg fort, den sie in La ciénaga eingeschlagen hatte, wieder übersteigert sie die sehr genaue Milieustudie ins Unheimlich, fast Mystische. Das Erstaunliche daran ist jedoch, dass sie die Intensität des Vorgängers noch zu steigern vermag, obwohl – oder gerade weilLa niña santa ein formal sehr viel zurückgenommener Film ist. Der Film spielt beinahe komplett in geschlossenen Räumen, die Kamera bleibt – abgesehen von einigen signifikanten Ausnahmen – streng statisch. Die Einstellungen, in der Regel nah oder halb-nah, sind oft geradezu vollgestopft mit Menschen, mit Gesichtern, die die Kadrierungen ein ums andere mal zerschneiden, und so das Fragmentarische, das „Unvollständige“ der Figuren verdeutlichen.  Zu diesen Mitteln kommt das großartige Spiel der Darstellerinnen – allen voran María Alches, die aus 1.400 Bewerberinnen für die Rolle der Amalia gecastet wurde. Alché verleiht der Figur eine beinahe somnambule Anmut. Unmöglich hinter die Fassade dieses Gesichtes zu gucken, es bleibt rätselhaft wie die emotionalen Verstrickungen, die das Handeln des Mädchens bestimmen.

Auch inhaltlich ist La niña santa ein wesentlich subtilerer Film. Ging es in La ciénaga um eine – mitunter etwas zu – deutliche Kritik an Rassismus und dysfunktionalen Familiensturkturen, will dieser Film auf wesentlich komplexeres hinaus als eine ähnlich gelagerte Kritik an verlogener katholischer Sexualmoral oder sexuellen Beziehungen zwischen erwachsenen Autoritätspersonen mit Jugendlichen. Wurden die Themen von Krankheit und (körperlichem) Verfall dort noch mitunter drastisch ins Bild gerückt, sind sie nun gänzlich in den Bereich der Sprache verlagert, in den Vorträgen auf dem Kongress oder in den Gesprächen zwischen Amalia und ihrer besten Freundin Josefina. Vielleicht lässt sich der Gegensatz beider Filme am besten anhand der Swimming Pools beschreiben, die hier wie dort eine beträchtliche Rolle spielen. War der Pool in La Ciénega noch ein Drecksloch, weil die Reinigungspumpe so kaputt war, wie die meisten der Menschen, die den Film bevölkerten, erstrahlt er hier in so reinem, geradezu beißenden Blau, dass man förmlich meint den typischen Schwimmbadgeruch von Chlor in der Nase zu haben. Ist das Wasser in La niña santa auch wesentlich durchsichtiger, mit den psychologischen und weltbildlichen Verstrickungen, die das Handeln der Figuren bestimmen, verhält es sich genau entgegengesetzt. Sehr kunstvoll bringt Martel schließlich keinen der skizzierten Konflikte zur Auflösung – zumindest  nicht so, wie man es vielleicht erwarten könnte.

 
„Familie ist eine Krankheit“, sagt Martel in einem Interview im Hinblick auf ihre eigene Erfahrung in der argentinischen Großfamilie, in der sie aufgewachsen ist. Sie betont aber zugleich das grundsätzliche menschliche Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Zugehörigkeit, das sich aber eben nicht mit der traditionellen heteronormativen Vorstellung von Papa, Mama, Kindern decken müsse. Dysfunktionale Familienstrukturen gibt es durchaus auch in La niña santa. Erschien allerdings der Familienhorror  in La Ciénaga noch absolut ausweglos, stellt die Regisseurin ihm nun sehr zaghaft eine Alternative entgegen: Die – mindestens – an einer Stelle explizit homoerotisch konnotierte Beziehung Amalias zu  Josefina. Gemeinsam schwimmen die beiden Mädchen am Ende aus dem Gefängnis des Bildkaders, in dem nur das Blau des Pools zurückbleibt. So ist La niña santa schließlich auch ein hoffnungsvollerer Film.
 
 
 
 



 

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