"Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!", sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea Roggons Film "Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort", die belegt, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, einen Dokumentarfilm über Helge Schneider zu drehen. Unübersichtlich ist das Schaffen des Jazz-Musikers, Komikers, Kabarettisten, Filmemachers, Theaterregisseurs, Entertainers und Autors Helge Schneider. Fünf lange, nun ja, Spielfilme hat er seit 1993 vorgelegt, unzählige Bücher geschrieben und Platten aufgenommen, in diversen Bands gespielt und immer noch geht er regelmäßig auf Tour. Obwohl schon seit den Siebzigern aktiv, entwickelt sich erst in den Neunzigern ein recht rätselhafter Hype um Schneider, der seine sehr eigene Mischung aus Klamauk, abstrusem Humor und Jazz-Klängen in den Mainstream holte, wo er sich jedoch nie ganz heimisch fühlte.
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Sonntag, 26. April 2015
Sonntag, 4. Mai 2014
Allerlei Hinweise
Zunächst: seit ein paar Tagen gibt es in der filmgazette einen neuen Text von mir zu lesen: zum wundervollen Der Glanz des Tages von Tizza Covi und Rainer Frimmel.
Dann sei auch hier nochmal unbedingt eine Filmreihe im Zeughauskino empfohlen, die Freitag eröffnet wurde und noch bis 11. Juni läuft: "Wo Leidenschaft wie Feuer brennt: Retrospektive der deutsch-brasilianischen Filmbeziehungen". Allein die Eröffnung mit dem so brillanten wie deliranten Experimental-Industriefilm Alvorada - Aufbruch in Brasilien war ein rauschhaftes Kinoerlebnis, dass ich um nichts in der Welt missen möchte.
Dann sei auch hier nochmal unbedingt eine Filmreihe im Zeughauskino empfohlen, die Freitag eröffnet wurde und noch bis 11. Juni läuft: "Wo Leidenschaft wie Feuer brennt: Retrospektive der deutsch-brasilianischen Filmbeziehungen". Allein die Eröffnung mit dem so brillanten wie deliranten Experimental-Industriefilm Alvorada - Aufbruch in Brasilien war ein rauschhaftes Kinoerlebnis, dass ich um nichts in der Welt missen möchte.
Montag, 10. Februar 2014
Die Mauer (Jürgen Böttcher, Deutschland 1990)
Die Sichtung des Films im Arsenal vergangenen Monat verlief nicht gerade optimal. Dafür, dass ich bei der Nachmittagsvorstellung irgendwie übermüdet war und mir ständig die Augen zu fielen, kann niemand was - am Film lag es ausdrücklich nicht. Dass der anwesende Regisseur sich in der letzten Szene lautstark echauffierte, dass der Ton zu leise sei und der Film dadurch verfremdet werde, machte das Kinoerlebnis allerdings auch nicht besser. Einerseits konnte ich seinen Ärger durchaus verstehen, andererseits ist es dann auch ärgerlich für jemanden, der den Film nicht zum hundertsten mal sieht, wenn gerade die letzten Minuten aus dem Kinosaal totgequatscht werden. (Dass ich nicht zur anschließenden Diskussion bleiben konnte, fand ich jedenfalls glatt etwas weniger schade.) Jedoch: Dass Die Mauer, den ich nun auf DVD nochmal gesehen habe, absolut faszinierend ist, merkte ich auch so - und zwar als Zeitdokument und als Film gleichermaßen.
Böttcher filmt das Geschehen an, unter und auf der Berliner Mauer unmittelbar nach der Öffnung. Der zeitliche Rahmen ist gesetzt vom November 1989 bis zum "The Wall"-Konzert auf dem Potsdamer Platz im Juli 1990. Natürlich weiß Böttcher, dass die Gegenwart, die er mit seiner Kamera einfängt in kürzester Zeit in den Geschichtsbüchern landen wird. Allein um Gesichtsschreibung geht es dem Film absolut nicht. Die Bilder von der Mauer, vom gespenstischen S-Bahnhof Potsdamer Platz und vom Brandenburger Tor werden auf keine Weise kommentiert; einen Voice Over gibt es ebenso wenig wie eingeblendete Daten, o. ä., extradiegetische Musik schon gar nicht.
Vielmehr scheint es Böttcher, DDR-Dokumentarfilmer und - unter dem Namen Maler Strawalde - Künstler darum, Geschichte auf eine ganz bestimmte Art erlebbar zu machen. Das wird etwa deutlich in den Szenen, in denen Böttcher historische Aufnahmen gegen die Mauer projiziert: Paraden zur Kaiserzeit, das Brandenburger Tor unter Hakenkreuzbeflaggung und die Fackelzüge der Nazis, Bilder aus dem geteilten Berlin und schließlich von der Maueröffnung. Böttcher ist auf der Suche nach der Materialität von Geschichte, ihren Texturen. Was ist Geschichte? Wie fühlt sie sich an? Wie klingt sie? In einer Szene legt eine Frau ihr Ohr an die Mauer, sie behauptet man könne hören, was drüben auf der anderen Seite passiert. Was sie hört sind jedoch vor allem die Geräusche der "Mauerspechte", wie man die Leute nannte, die mit Hammer und Meißel Stücke aus der Mauer klopften, um sie zu verkaufen oder als Souvenir mit nach hause zu nehmen. Auch die holt Böttcher kurz vor seine Kamera, etwa zwei türkischstämmige Jungs, die ihre Stücke feil bieten oder eine Gruppe japanischer Touristinnen. Der Klang der Gesichte im Berlin Ende 1989 scheint ein beständiges tack-tack-tack-tack zu sein, bei dem sowohl historische Artefakte als auch neue Texturen entstehen.
Geschichte, wie wir sie kennen, wird aber auch sehr deutlich als Inszenierung erkennbar. Vor dem Brandenburger Tor wird eine Reportage für CNN aufgenommen, viermal wiederholt der Reporter sein Statement: "this gate going nowhere, now goes somewhere. And all of East Germany knows where it goes."
In der Silvesternacht 89/90 schmeckt Geschichte dann hauptsächlich nach Sekt und riecht nach dem Feuerwerk, das den Himmel über dem Brandenburger Tor erhellt. Ein junger Mann hält eine leere Flasche Wodka Gorbatschow in die Kamera und ruft dazu: "Gorbi, Gorbi, Gorbi...." Ein anderer verkündet, am Boden sitzend, Woodstock sei gar nichts dagegen. Indem es der Kamera mitten im Getümmel gelingt, eine gemessene Distanz zu wahren, verwehrt sich der Film erfolgreich gegen jede platte Nutzbarmachung des Gezeigten. Er feiert nicht mit, er kritisiert aber auch nicht den kapitalistischen Event-Charakter, den Geschichte im späten zwanzigsten Jahrhundert angenommen hat, oder warnt, dass nach dem Rausch der Kater kommt. Vielmehr interessiert er sich im Großen, in den Massenaufläufen, im historischen Ereignis für das Kleine, die einzelnen Menschen, die einzelnen Begegnungen. In der Silvesternacht kommt ein junger Italiener mit einer Frau aus Kansas City ins Gespräch. In einer anderen Szene flirtet eine Frau aus Hannover mit einem jungen Volkspolizisten, Nummern werden getauscht. Klaus Kremeier bezeichnet das als "Liebesgeschichte im Schnee. Die Liebesgeschichte entsteht aus dem Nichts und flattert ins Nichts zurück."
Klar ist da begegnet sich was im Berlin der Maueröffnung. Was daraus werden wird, das ist eine andere Gesichte.
Böttcher filmt das Geschehen an, unter und auf der Berliner Mauer unmittelbar nach der Öffnung. Der zeitliche Rahmen ist gesetzt vom November 1989 bis zum "The Wall"-Konzert auf dem Potsdamer Platz im Juli 1990. Natürlich weiß Böttcher, dass die Gegenwart, die er mit seiner Kamera einfängt in kürzester Zeit in den Geschichtsbüchern landen wird. Allein um Gesichtsschreibung geht es dem Film absolut nicht. Die Bilder von der Mauer, vom gespenstischen S-Bahnhof Potsdamer Platz und vom Brandenburger Tor werden auf keine Weise kommentiert; einen Voice Over gibt es ebenso wenig wie eingeblendete Daten, o. ä., extradiegetische Musik schon gar nicht.
Vielmehr scheint es Böttcher, DDR-Dokumentarfilmer und - unter dem Namen Maler Strawalde - Künstler darum, Geschichte auf eine ganz bestimmte Art erlebbar zu machen. Das wird etwa deutlich in den Szenen, in denen Böttcher historische Aufnahmen gegen die Mauer projiziert: Paraden zur Kaiserzeit, das Brandenburger Tor unter Hakenkreuzbeflaggung und die Fackelzüge der Nazis, Bilder aus dem geteilten Berlin und schließlich von der Maueröffnung. Böttcher ist auf der Suche nach der Materialität von Geschichte, ihren Texturen. Was ist Geschichte? Wie fühlt sie sich an? Wie klingt sie? In einer Szene legt eine Frau ihr Ohr an die Mauer, sie behauptet man könne hören, was drüben auf der anderen Seite passiert. Was sie hört sind jedoch vor allem die Geräusche der "Mauerspechte", wie man die Leute nannte, die mit Hammer und Meißel Stücke aus der Mauer klopften, um sie zu verkaufen oder als Souvenir mit nach hause zu nehmen. Auch die holt Böttcher kurz vor seine Kamera, etwa zwei türkischstämmige Jungs, die ihre Stücke feil bieten oder eine Gruppe japanischer Touristinnen. Der Klang der Gesichte im Berlin Ende 1989 scheint ein beständiges tack-tack-tack-tack zu sein, bei dem sowohl historische Artefakte als auch neue Texturen entstehen.
Geschichte, wie wir sie kennen, wird aber auch sehr deutlich als Inszenierung erkennbar. Vor dem Brandenburger Tor wird eine Reportage für CNN aufgenommen, viermal wiederholt der Reporter sein Statement: "this gate going nowhere, now goes somewhere. And all of East Germany knows where it goes."
In der Silvesternacht 89/90 schmeckt Geschichte dann hauptsächlich nach Sekt und riecht nach dem Feuerwerk, das den Himmel über dem Brandenburger Tor erhellt. Ein junger Mann hält eine leere Flasche Wodka Gorbatschow in die Kamera und ruft dazu: "Gorbi, Gorbi, Gorbi...." Ein anderer verkündet, am Boden sitzend, Woodstock sei gar nichts dagegen. Indem es der Kamera mitten im Getümmel gelingt, eine gemessene Distanz zu wahren, verwehrt sich der Film erfolgreich gegen jede platte Nutzbarmachung des Gezeigten. Er feiert nicht mit, er kritisiert aber auch nicht den kapitalistischen Event-Charakter, den Geschichte im späten zwanzigsten Jahrhundert angenommen hat, oder warnt, dass nach dem Rausch der Kater kommt. Vielmehr interessiert er sich im Großen, in den Massenaufläufen, im historischen Ereignis für das Kleine, die einzelnen Menschen, die einzelnen Begegnungen. In der Silvesternacht kommt ein junger Italiener mit einer Frau aus Kansas City ins Gespräch. In einer anderen Szene flirtet eine Frau aus Hannover mit einem jungen Volkspolizisten, Nummern werden getauscht. Klaus Kremeier bezeichnet das als "Liebesgeschichte im Schnee. Die Liebesgeschichte entsteht aus dem Nichts und flattert ins Nichts zurück."
Klar ist da begegnet sich was im Berlin der Maueröffnung. Was daraus werden wird, das ist eine andere Gesichte.
Mittwoch, 5. Februar 2014
Hinweis: "Nanuk" in der filmgazette
Für die filmgazette habe ich Robert Flahertys wundervollen ersten Film Nanook of the North besprochen, der kürzlich bei absolut Medien auf einer kongenialen DVD erschienen ist.
Zur Einstimmung:
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Dienstag, 21. Januar 2014
Paradies - eine imperialistische Tragikomödie (Zelimir Zilnik, BRD 1976)
Gestern im Arsenal gesehen: Drei Filme von Zelimir Zilnik. Zwei recht kurze und ein etwas längerer. Der erste, Ich weiss nicht was soll es bedeuten (1975), arbeitet sich mit eher experimentellen Mitteln an der Verkitschung von Heinrich Heines Lorelei ab.
Der zweite dann ist reine Agit-Doc. Es geht um die bedingungslose Härte von Polizeieinsätzen gegen Bankräuber in der Zeit des RAF-Terrorismus, die der Film als Öffentliche Hinrichtung(en) (1974) anklagt. Dokumentarische Bilder von einer solchen Aktion werden gezeigt, bei der ein Bankräuber erschossen wird, ohne dass selbst Rücksicht auf die Unversehrtheit der Geiseln genommen werden würde. Durchaus eindrucksvoll ist der Beginn: Ansichten von Hamburger Straßen, die dominiert werden von den Namensschriftzügen und Gittern von Banken. Auf dem ausgeblichenem schwarzweißen Film-Material, teilweise grobkörnig bis zur Beinahe-Unkenntlichkeit, ergibt das ein Bild einer kalten und - sicherlich nicht wegen des Terrorismus - bedrohlichen Welt.
Der längste der drei Filme dann, Paradies - eine imperialistische Tragikomödie (1976), scheint, das ist ein durchaus gelungener kuratorischer Clou, die ersten beiden zusammen zu führen. Wieder geht es um die BRD zur Zeit des Terrorismus, aber diesmal in einem experimentellen, immer wieder ins atemberaubend Groteske überzeichneten Spielfilm. Angelehnt an die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz wird erzählt von einer bankrotten Großindustriellen, die, um sich am eigenen Lösegeld zu bereichern, Anarchisten beauftragt, sie zu entführen. Ursprünglich sollten Rainer Werner Fassbinder und Hannah Schygulla die Hauptrollen übernehmen. Jedenfalls zeichnet Zilnik die BRD-Gesellschaft der Siebziger Jahre als ganz und gar verroht, jeder Empathie unfähig. Und dass die radikalisierte Linke da längst keinen Unterscheid mehr macht, schließt Paradies mit den Fassbinder-Filmen Mutter Küsters Fahrt zum Himmel und - vor allem - Die dritte Generation kurz. Was der Film politisch zu sagen hat, bleibt, trotz des Verzichts auf allzu einfache Gut-Böse-, Täter-Opfer-Zuweisungen, eher plump. (Wobei das Dreschen von Imperialismus-, Ausbeutungs-, Dritte Welt- und Gastarbeiter-Phrasen in seiner stereotypen, formelhaften Leere auch schon wieder System haben mag.)
Beeindruckend sind aber die verstörenden Bilder, die der Film für seine Geschichte findet. Da sind die Zahnarzt-Szenen bei denen in Großaufnahme in verfaulten, verformten Zähnen herumgestochert wird. (Wie sollte ich da nicht an Yuznas kürzlich wiedergesehene Dentist-Filme denken. Überhaupt: nach dem Schlachthaus in In einem Jahr mit 13 Monden, das zweite mal diesen Monat, dass ich im Arsenal den Blick abwenden musste. Ich wusste gar nicht, dass der Neue Deutsche Film so splattrig sein konnte.)
Da ist - vor allem - die komplett in extremen Close-Ups gefilmte Szene, in der eine Zunge Honig von einem Körper leckt, ein Mund Weintrauben aufnimmt, um sie wieder auszuspucken. Dann nacheinander alle Zehen eines Fußes ableckt, an ihnen saugt.
Paradies findet eine Form, das ist seine große Leistung, die unmenschlichen Verhältnisse, die er beschreibt, komplett inkommensurabel zu halten.
Der zweite dann ist reine Agit-Doc. Es geht um die bedingungslose Härte von Polizeieinsätzen gegen Bankräuber in der Zeit des RAF-Terrorismus, die der Film als Öffentliche Hinrichtung(en) (1974) anklagt. Dokumentarische Bilder von einer solchen Aktion werden gezeigt, bei der ein Bankräuber erschossen wird, ohne dass selbst Rücksicht auf die Unversehrtheit der Geiseln genommen werden würde. Durchaus eindrucksvoll ist der Beginn: Ansichten von Hamburger Straßen, die dominiert werden von den Namensschriftzügen und Gittern von Banken. Auf dem ausgeblichenem schwarzweißen Film-Material, teilweise grobkörnig bis zur Beinahe-Unkenntlichkeit, ergibt das ein Bild einer kalten und - sicherlich nicht wegen des Terrorismus - bedrohlichen Welt.
Der längste der drei Filme dann, Paradies - eine imperialistische Tragikomödie (1976), scheint, das ist ein durchaus gelungener kuratorischer Clou, die ersten beiden zusammen zu führen. Wieder geht es um die BRD zur Zeit des Terrorismus, aber diesmal in einem experimentellen, immer wieder ins atemberaubend Groteske überzeichneten Spielfilm. Angelehnt an die Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz wird erzählt von einer bankrotten Großindustriellen, die, um sich am eigenen Lösegeld zu bereichern, Anarchisten beauftragt, sie zu entführen. Ursprünglich sollten Rainer Werner Fassbinder und Hannah Schygulla die Hauptrollen übernehmen. Jedenfalls zeichnet Zilnik die BRD-Gesellschaft der Siebziger Jahre als ganz und gar verroht, jeder Empathie unfähig. Und dass die radikalisierte Linke da längst keinen Unterscheid mehr macht, schließt Paradies mit den Fassbinder-Filmen Mutter Küsters Fahrt zum Himmel und - vor allem - Die dritte Generation kurz. Was der Film politisch zu sagen hat, bleibt, trotz des Verzichts auf allzu einfache Gut-Böse-, Täter-Opfer-Zuweisungen, eher plump. (Wobei das Dreschen von Imperialismus-, Ausbeutungs-, Dritte Welt- und Gastarbeiter-Phrasen in seiner stereotypen, formelhaften Leere auch schon wieder System haben mag.)
Beeindruckend sind aber die verstörenden Bilder, die der Film für seine Geschichte findet. Da sind die Zahnarzt-Szenen bei denen in Großaufnahme in verfaulten, verformten Zähnen herumgestochert wird. (Wie sollte ich da nicht an Yuznas kürzlich wiedergesehene Dentist-Filme denken. Überhaupt: nach dem Schlachthaus in In einem Jahr mit 13 Monden, das zweite mal diesen Monat, dass ich im Arsenal den Blick abwenden musste. Ich wusste gar nicht, dass der Neue Deutsche Film so splattrig sein konnte.)
Da ist - vor allem - die komplett in extremen Close-Ups gefilmte Szene, in der eine Zunge Honig von einem Körper leckt, ein Mund Weintrauben aufnimmt, um sie wieder auszuspucken. Dann nacheinander alle Zehen eines Fußes ableckt, an ihnen saugt.
Paradies findet eine Form, das ist seine große Leistung, die unmenschlichen Verhältnisse, die er beschreibt, komplett inkommensurabel zu halten.
Freitag, 6. Dezember 2013
Camal (Miguel Alvear, Ecuador 2000)
Dokumentarische Bilder vom Schlachthof in Quito. In Schwarz-weiß. Dazu ein Stück von Ryuichi Sakamoto, dräuend, sakral. "Salvation" heißt es, doch gerettet wird hier kein Mensch - und schon gar kein Tier. Immer wieder wird durch Türen gefilmt, durch Fenster, Luken, Zäune,
Gitter, werden die Bilder so in verschiedene Ebenen gestaffelt. Der Schlachthof als Übergangszone, als Schwelle, als Zwischenreich. Zwischen Leben und Tod. Erde und Hölle. (Einen Himmel gibt es nicht in den fünfzehn Minuten dieses Films. Einmal: die handgehaltene Kamera auf einer Straßenkreuzung, unter Augenhöhe. Menschen, Autos, Chaos, kein Himmel.) Infernalisch jenseitige Bilder für einen eindeutig diesseitigen Ort. Subreal. Detaillierte Schlachtungen. Ein Kind, in Lumpen, verängstigt (vor der Kamera?), neben ihm ein Haufen Stierköpfe. Stierköpfe auf einer Schubkarre. Brennende Tierkadaver. Die letzen Zuckungen von kopflosen Schafskörpern. Die haargenau kadrierten Bilder schneiden auch den Menschen bisweilen die Köpfe ab. Ein kopf- und himmelloser Film. Auch: Kinder, die mit den Schafen, noch mit Köpfen, spielen. Ein Mann auf dem Markt, unter jedem Arm einen Spiegel, in dem Spiegel Spiegelungen der Marktszene um ihn herum. Eine Frau mit Ghettoblaster. Kein Kommentar, keine Kritik, keine Anklage in diesem Film, die sich nicht direkt aus seinen Bildern ergeben würde. Den Bildern, die die Misere von Mensch und Tier, das alltägliche serialisierte Töten zeigen. Der unbedingte Stilwille dieser Bilder, die sich bei Rembrandt und dem deutschen expressionistischen Film nehmen, was sie brauchen, ist ihr großer Clou. Die doch so eindeutig als real erkennbare Welt wird durch sie fremd, entfremdet. Brutale, verstörende Bilder. Bilder vom Schlachthof in Quito. Dokumentarische Bilder, wie nicht von dieser Welt.
Gedreht wurde 1991, ursprünglich war eine Dokumentation über die Fleischproduktion in Quito geplant, erst 2000 konnte der Film in der nun vorliegenden Form veröffentlicht werden.
Entdeckt habe ich dieses kleine Meisterwerk des ecuatorianischen Künstlers und Filmemachers Miguel Alvear auf der DVD "Cine al contracorriente", einer Sammlung experimenteller Kurzfilme aus Lateinamerika, veröffentlicht als "Katalog" zu einer Reihe des Centre de Cultura Contemporanía de Barcelona (CCCB). Einen IMDb-Eintrag gibt es bisher nicht. Ist allerdings in Arbeit.
Montag, 4. November 2013
News from Home (Chantal Akerman, F, Belgien, BRD 1977)
Chantal Akerman filmt New York. In 64 langen bis sehr langen, oft statischen Einstellungen sehen wir Straßen, U-Bahn-Höfe und -Waggons. Mal gespenstisch menschenleer, dann wieder mit hektischem Treiben. Dazu liest sie selbst aus dem Off zwanzig Briefe vor, die ihr ihre Mutter aus Belgien geschrieben hat. News from Home über Krankheiten und Geldsorgen, den Gang der Geschäfte, Hochzeiten und Geburtstage. Immer wieder verliert sich der Text der Briefe in der lauten Geräuschkulisse des neuen Lebens der Wahl-New Yorkerin Akerman, übertönt das Quietschen und Rattern einfahrender U-Bahnen, der Autolärm der Avenues, die Worte der Mutter aus dem Mund der Tochter. Die Worte aus denen jene Mischung aus Sorge und - unbewußt? - als Sorge camoufliertem Willen zur Kontrolle spricht, der die Mütter dieser Erde zu einen scheint.
In meiner Lieblingsszene filmt die Kamera die Fenster in der Tür eines U-Bahn-Wagens. Das eine Fenster ist mittig im Bild zu sehen, das andere daneben zur Hälfte abgeschnitten. Über drei Stationen geht die Einstellung. Gibt Zeit, jedes Detail zu erfassen. Die tags an der Tür. Die schemenhaften Spiegelungen in der Scheibe, eine Frau, ein Reklame-Schriftzug: "Think". An jeder Station öffnen sich die Türen und gehen schnell wieder zu. Erst bei der dritten steigen zwei Männer aus, die ersten Menschen, die direkt zu sehen sind in dieser Szene, gesichtlos, von hinten. Dann kommt der Schnitt. Vorher nur die gespenstische Sinnlosigkeit dieses mechanischen urbanen Ablaufes. "I love the every day and want to present it," sagt Ackerman. Hier, wie in vielen anderen Szenen dieses Films, scheint es, dass dieses Alltägliche nur in Form eines Freud'schen Unheimlichen den Weg auf die Leinwand finden kann. Beunruhigend fremd in seiner Vertrautheit.
Und dann ist da die Schlussszene. Die Skyline von Südmanhattan, aufgenommen von der Fähre nach Staten Island, nimmt langsam Konturen an, umso weiter sich die Kamera von ihr entfernt, um dann allmädlich wieder im Nebel zu verschwimmen. Dazu die Möwen im Segelflug (als die erste von ihnen ins Wasser stürzt, habe ich mich regelrecht erschrocken, dachte, ihr wäre etwas passiert, bis sie wieder emporschnellt.) Die verschwindende Stadt mit World Trade Center auf zum Ende hin immer brüchigerem, mit Artefakten übersätem, in Auflösung begriffenem 16mm-Material. Ein von Geschichte und Zeit seit 1977 beständig fortgeschriebenes Bild der Vergänglichkeit.
In meiner Lieblingsszene filmt die Kamera die Fenster in der Tür eines U-Bahn-Wagens. Das eine Fenster ist mittig im Bild zu sehen, das andere daneben zur Hälfte abgeschnitten. Über drei Stationen geht die Einstellung. Gibt Zeit, jedes Detail zu erfassen. Die tags an der Tür. Die schemenhaften Spiegelungen in der Scheibe, eine Frau, ein Reklame-Schriftzug: "Think". An jeder Station öffnen sich die Türen und gehen schnell wieder zu. Erst bei der dritten steigen zwei Männer aus, die ersten Menschen, die direkt zu sehen sind in dieser Szene, gesichtlos, von hinten. Dann kommt der Schnitt. Vorher nur die gespenstische Sinnlosigkeit dieses mechanischen urbanen Ablaufes. "I love the every day and want to present it," sagt Ackerman. Hier, wie in vielen anderen Szenen dieses Films, scheint es, dass dieses Alltägliche nur in Form eines Freud'schen Unheimlichen den Weg auf die Leinwand finden kann. Beunruhigend fremd in seiner Vertrautheit.
Und dann ist da die Schlussszene. Die Skyline von Südmanhattan, aufgenommen von der Fähre nach Staten Island, nimmt langsam Konturen an, umso weiter sich die Kamera von ihr entfernt, um dann allmädlich wieder im Nebel zu verschwimmen. Dazu die Möwen im Segelflug (als die erste von ihnen ins Wasser stürzt, habe ich mich regelrecht erschrocken, dachte, ihr wäre etwas passiert, bis sie wieder emporschnellt.) Die verschwindende Stadt mit World Trade Center auf zum Ende hin immer brüchigerem, mit Artefakten übersätem, in Auflösung begriffenem 16mm-Material. Ein von Geschichte und Zeit seit 1977 beständig fortgeschriebenes Bild der Vergänglichkeit.
Freitag, 2. August 2013
Room 237 (Rodney Asher, USA 2012)
"What is in The Shining?" So könnte man die Frage zusammenfassen, der Regisseur Rodney Asher in seiner Dokumentation Room 237 nachgeht. Mögliche Antworten erhält er von fünf fanatischen Exegeten des Films, die in ihm allerlei mehr oder minder versteckte Anspielungen, Botschaften und Subtexte gefunden haben wollen. Nach diesen Theorien gehe es in The Shining wahlweise um den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern ("The tide of terror that swept America," die das Filmplakat verkündet), den Holocaust oder - wie unoriginell! - nur um Sex. Einer der Interviewten meint im Film einen Stinkefinger in Richtung Stephen King zu entdecken, der die Romanvorlage schrieb und Kubricks Adaption nicht mochte, und ein anderer - sicherlich das Highlight! - will Hinweise darauf gefunden haben, dass die Bilder der Mondlandung eine Fälschung waren. Wobei er mehrfach betont, dass nicht die Mondlandung an sich eine Lüge sei, sondern eben "nur" die übertragenen Bilder inszeniert waren - und zwar von Stanley Kubrick, der diese Geschichte nun - elf Jahre später - in The Shining ein- und ver-arbeitete.
Illustriert werden die als Voice-Over vorgetragenen Theorien durch eigens annimierte Sequenzen, Ausschnitte aus sämtlichen Stanley Kubrick- und unzähligen anderen Filmen und natürlich immer wieder aus The Shining. The Shining im Kino, im Fernsehen, auf VHS, DVD und blu-ray. The Shining in Zeitlupe und Einzelbildanalyse. The Shining in Animationen und Grafiken, die zum Beispiel die genauen Wege, die Danny auf seinem Go-Kart durch die Flure des Overlooks fährt, und die mit der damals vollkommen neuen - und von ihrem Erfinder Garett Brown selbst geführten - Steadycam aufgenommen wurden. The Shining in einer doppelten Projektion, bei der der Film, übereinandergelegt, vorwärts und rückwärts abläuft. Faszinierend ist das vor allem dann, wenn die verschiedenen Interpreten die selbe Einstellung, ja, mitunter das selbe Einzelbild des Films im Hinblick auf verschiedene Details ganz unterschiedlich deuten. So entstehen verschiedene Layer, die sich über die Filmbilder legen und sie zu schier endlos mit Bedeutungen aufgeladenen - oder zumindest: mit Bedeutungen aufladbaren - Objekten machen und dadurch die Lust wecken, ganz genau hinzusehen.
Letztlich funktioniert Room 237 wohl wie ein üppiges Büfett, in dem sich jeder nehmen kann, was ihm schmeckt und den Rest liegenlässt. Allerdings ist dieses Büffet, das ist das Manko des Films, eben so überladen, dass sich schnell Übersättigung einstellt, einen die Flut der Bilder und Theorien zeitweise etwas überfordert und man, zumindest beim ersten Sehen (aber: gerade um das mehrfache und immer wieder Sehen von Filmen geht es ja auch), einiges wohl auch schlicht übersieht.
Dass Room 237 Lust macht, solche Bezüge zu entdecken, zu vergleichen, eben, wie gesagt, genau hinzusehen, dass er von der Lust am Kino und seiner Auslegung handelt (wenn auch nicht unbedingt in einer noch "gesunden" Form) und gleichzetig Lust auf das Kino macht, ist - relativ unabhängig davon, wie viele der hier aufgestellten Theorien und Bezüge nun absoluter Humbug sind - die große Stärke dieses Films, die über einige Schwächen gerne hinwegsehen lässt.
Room 237 startet am 19. September 2013 in den deutschen Kinos.
Mittwoch, 5. Juni 2013
Por primera vez (Octavio Cortázar, Kuba 1969)
Kuba Ende der Sechziger Jahre. Mit dem „Cine-Mobil“, einem auf einem Lastwagen aufgebauten Filmprojektor, machen sich ein paar Männer im Auftrag des ICAIC (Kubanisches Institut für Filmkunst und Filmindustrie) auf den Weg, um den Bauern in einer abgelegenen Region im Südosten des Landes einen Film vorzuführen – für die meisten von ihnen zum ersten Mal.
Schön an diesem
Kurzfilm, der ersten Regie-Arbeit Cortázars, sind die Definitionen – oder doch
eher: Spekulationen – der Dorfbewohner, die in ihrem Leben noch keinen Film
gesehen haben, was das Kino sei. „Es muss etwas sehr schönes und wichtiges
sein, wenn ihr euch so dafür interessiert,“ mutmaßt eine Frau und ein Junge
sagt: „Kino ist Film.“
Noch viel schöner
aber der Höhepunkt des Films – die Vorführung selbst (gezeigt wird Chaplins Modern
Times.) Das Lachen, die Vergnüglichkeit, die Aufregung des jungen wie des
alten Publikums, vor allem aber das Leuchten der Kinderaugen. Dieses Leuchten
habe ich, seit ich den Film, es ist nun schon wieder einige Jahre her, zum
ersten Mal an der Uni sah, nie wieder vergessen können. Bilder, die, indem sie
von der Magie des Kinos erzählen, selbst zu Kino-Magie in Formvollendung
werden.
Das Arsenal, das übrigens gestern sein 50-jähriges Bestehen feierte – verspätete Glückwünsche! – hat den Film nun digitalisiert und zeigte ihn gestern im Loop. Dreimal habe ich ihn mir hintereinander angesehen und dann auf dem Weg nach Hause in der S-Bahn doch gleich die Verfügberkeit der Special Edition-DVD von Modern Times recherchiert, die den Film als Bonus beinhaltet, um die Kinderaugen möglichst bald zuhause nochmals leuchten zu sehen.
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