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Dienstag, 23. Juni 2015

Die Lügen der Sieger (Christoph Hochhäusler, Deutschland, Frankreich 2014)

"Go to a movie. Relax." Diesen Rat bekam der Journalist, der in Alan J. Pakulas "Zeuge einer Verschwörung" ("The Parallax View" (1974)) auf die Spur einer groß angelegten Verschwörung kommt, von seinem Redakteur mit auf den Weg. Die Tatsache, dass dieser Unerschrockene seine Recherchen letztlich mit dem Leben bezahlen wird, zeigt deutlich, dass wir uns hier gerade nicht in einer Tradition des Kinos bewegen, die die Zuschauenden entspannt, mit der Welt versöhnt zurück in ihren Alltag entlässt. Vielmehr waren die US-amerikanischen Paranoia-Thriller der siebziger Jahre, für die Pakulas Film ein Paradebeispiel liefert, Ausdruck einer tiefen Verunsicherung der Menschen gegenüber der Macht. Dass "die da oben" im Interesse des Volkes handelten, schien im Angesicht von Watergate und Vietnam fraglicher denn je. (Bestimmte Spielarten des Horrorfilms, der in dieser Dekade in den USA ebenfalls florierte, lieferten dazu gewissermaßen das Gegenstück: Statt der Angstphantasie des Mittelschichts-Großstädters vor den Machenschaften der Mächtigen, kam die Bedrohung hier von "unten". In Form kannibalischer Rednecks in Hoopers "Blutgericht in Texas" ("The Texas Chainsaw Massacre") oder Cravens "Hügel der blutigen Augen" ("The Hills have Eyes") oder Romeros Zombies, die den bürgerlichen Individuen das Land streitig machten, eine neue frontier mitten durch das amerikanische Hinterland verlaufen ließen.)
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Sonntag, 26. April 2015

Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort (Andrea Roggon, Deutschland 2015)

"Die Freiheit muss man sich nehmen. Tschüss!", sprach er, stand mitten im Interview auf und ging, den schwarzen, leeren Sessel allein im Bild zurücklassend. Nur eine kurze Szene in Andrea Roggons Film "Mülheim - Texas: Helge Schneider hier und dort", die belegt, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, einen Dokumentarfilm über Helge Schneider zu drehen. Unübersichtlich ist das Schaffen des Jazz-Musikers, Komikers, Kabarettisten, Filmemachers, Theaterregisseurs, Entertainers und Autors Helge Schneider. Fünf lange, nun ja, Spielfilme hat er seit 1993 vorgelegt, unzählige Bücher geschrieben und Platten aufgenommen, in diversen Bands gespielt und immer noch geht er regelmäßig auf Tour. Obwohl schon seit den Siebzigern aktiv, entwickelt sich erst in den Neunzigern ein recht rätselhafter Hype um Schneider, der seine sehr eigene Mischung aus Klamauk, abstrusem Humor und Jazz-Klängen in den Mainstream holte, wo er sich jedoch nie ganz heimisch fühlte.

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Samstag, 3. Januar 2015

Ich will mich nicht künstlich aufregen (Max Linz, Deutschland 2014)

"Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße…" Nur in der ersten Szene regt sich Asta Andersen so richtig auf. Sie liegt da, wälzt sich, rauft ihre roten Haare und wiederholt in einem enervierten und enervierenden Singsang das Wort "Scheiße". Asta (Sarah Ralfs) arbeitet als Kuratorin an einer Ausstellung, die "Das Kino! Das Kunst!" heißen soll. Als sie in einem Radiointerview kritische Thesen vertritt, gehen ihr die Geldgeber flöten. Sich nicht künstlich aufzuregen, eine geradezu stoische Ruhe zu bewahren, scheint Astas Stärke zu sein in ihrer Odyssee durch die Gremien und das Berlin der Gegenwart. Ob bei dem Zusammensein mit einigen Kreuzberger Türken, die sich in der Initiative "I Love Kotti" gegen steigende Mieten engagieren oder beim Warten auf einen indischen Geldgeber.

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Mittwoch, 22. Oktober 2014

Toter Mann (Christian Petzold, Deutschland 2001)

Achtung: Spoiler!!! Ich habe mir Toter Mann binnen weniger Wochen zweimal angesehen. Da seine Wirkung vollkommen anders ist, wenn mensch die Wendungen in der zweiten Hälfte kennt, ich aber gerade über diese Wirkung hier schreiben will, rate ich jedem, der ihn noch nicht gesehen hat, ihn sich vor der Lektüre dieses Textes anzuschauen. Es lohnt sich!

Lukas Foerster hat über Phoenix geschrieben, man könne den Film als ein "Resümee des bisherigen Werks Petzolds betrachten." Tatsächlich findet sich das Motiv der Inszenierung einer Beziehung schon in Toter Mann, seinem faszinierenden Fernsehfilm von 2001. Wo in Phoenix aber - zunächst - der Mann die Fäden hält, Regisseur der Inszenierung ist, in der die Frau (Nina Hoss) zur Doppelgängerin ihrer selbst wird, ist es hier der Mann, der auf die Inszenierung einer Frau (ebenfalls Nina Hoss) hereinfällt.
Da sind also zu Beginn ein Mann und eine Frau, die so einsam sind, wie man in der menschenleeren städtischen Einöde, die Stuttgart in diesem Film ist und in seinen spröden, klaren, kalten Einstellungen nur einsam sein kann. Er, Thomas (André Hennicke), ist Anwalt. Sie, Leyla (Hoss), arbeitet zunächst in einem Callcenter. Das ist wichtig, weil Petzold die Entfremdung, die er zeigt sicherlich nicht zuletzt von einer heutigen Dienstleistungs-Arbeitswelt her denkt. So lakonisch und unaufgeregt wie zärtlich erzählt Petzold, wie sie sich kennen lernen, sich - scheinbar - langsam näher kommen. Dieses Kennenlernen wird mit genau den richtigen Details unterfüttert, um ihm Leben einzuhauchen, ihm das "gewisse Etwas" zu geben. Da ist das Buch, das sie im Schwimmbad fallen lässt und er aufhebt. Das zaghafte Gespräch auf der Brücke über Schulhofliebschaften, die gar nicht erst zustande kamen und Springbrunnen in Fußgängerzonen. Die Verabredung, zu der sie Stunden zu spät kommt. Dann Steinofenpizza bei ihm. Gemeinsam Musik hören.

"What the world needs now,
Is love, sweet love,
 It's the only thing that there's just too little of."
 
singt Dionne Warwick, während Leyla auf dem Sofa entschlummert, um ihrem Verehrer ausgiebig Gelegenheit zu geben, seine schlafende Göttin anzuhimmeln.  
Thomas' Gefühlshaushalt trifft es wie ein Schlag mit dem Vorschlaghammer, dass Leyla nicht nur hinterher spurlos - und mit seinem Laptop - verschwindet, sondern dass er herausfindet, dass er zum Objekt einer Inszenierung wurde, eines Spiels, in dem es nicht um ihn geht ("Zielobjekt Mann - Wie Frauen Männer ködern" heißt das Ratgeberbuch, das zum Script einer Annäherung wird). Gerade das Auffliegen dieser Inszenierung ist insgeheim der bitterste Twist der zweiten Filmhälfte - nicht die Tatsache, dass die rätselhafte Leyla mit ihrem undurchsichtigen Verhalten einem ausgeklügelten Racheplan folgt.
Der Mann, an den sie eigentlich gelangen möchte, heißt Blum. Er ist Mandant von Thomas und befindet sich nach einer Haftstrafe in einem Resozialisierungsprogramm. Sven Pippig spielt ihn mit der devoten Resignation eines Mannes, der längst akzeptiert hat, dass er die Art von Geheimnis mit sich rumträgt, die auf ewig einsam macht, die einen Keil zwischen ihn und seine Mitmenschen treibt. Leyla nähert sich nun ihm an. Sie schenkt ihm ein Buch, "Unter den Brücken", zum gleichnamigen Film von Helmut Käutner. Das zweite Buch für den zweiten Mann. Und auch eine weitere filmhistorische Folie, die dem Geschehen unterlegt wird. Neben den Hitchcock-Filmen Vertigo und Marnie, die, so liest man im Innencover der DVD, Petzold seinen Schauspielern vor dem Dreh gezeigt haben soll. Neben Hitchcocks Männer-Obsessionen für geheimnisvolle Frauen also Käutners Romanze um zwei Männer, die einsam sind auf ihrem Schleppkahn und eine Frau retten wollen, die einsam ist in der Großstadt. Doch Toter Mann versteht sich vorwiegend als Negation dieser Vorbilder. So wie die Männer durch ihre Obsessionen zum Spielball der Frau werden, ist es dann auch nicht an ihnen, sie zu retten. Vielmehr ist ihr großes Komplott ein Selbstheilungsversuch, in dem die Männer nur Mittel zum Zweck sind. Und so wie als Schatten über Unter den Brücken, sieht man ihn heute, die Situation liegt, die der Film erzwungenermaßen vollends ausblendet, nämlich die von Berlin Ende 1944, kommt das Grauen, kommen Mord, Vergewaltigung und Rache erst ganz langsam zum Vorschein in Toter Mann, der als Liebesgeschichte zwischen Entfremdeten beginnt.
Zeigt Käutner in ihrer ersten Szene nur einzelne Partien des im Schatten liegenden Gesichts von Hannelore Schroth, dann ist auch Nina Hoss bei Petzold, am Ziel ihres Plans angelangt, eine Schattengestalt. Im Profil ist sie ganz Schatten, von vorne ist nur ihre eine Gesichtshälfte sichtbar. Ganz zu werden, einen Moment der Geborgenheit und der Gegenseitigkeit zu spüren, das ist es, was die Menschen durch die unterkühlte Welt dieses Films treibt, was ihre Verzweiflung ausmacht, die nur in kurzen Momenten sich Bahn nach außen brechen kann. Die Ambivalenz darüber, ob man sich, liegen die Karten einmal endgültig auf dem Tisch, wirklich kennen lernen kann in dieser Welt ist das, was am Ende bleibt. 

Dienstag, 9. September 2014

Triumph für Peter Kern

...in der filmgazette


Sobald er das Wirtshaus und den Film betritt, gibt′s Freibier für alle und alle Augen und Ohren sind bei ihm und der schlüpfrigen Anekdote, die er erzählt. Dabei spielte Peter Kern in Hans W. Geissendörfers "Sternsteinhof" (1975) nicht nur eine seiner wenigen größeren, sondern auch eine seiner wenigen dramatischen Rollen. Bekannt wurde Kern vor allem durch seine kleineren Auftritte bei fast allen, die im Neuen Deutschen Film Rang und Namen hatten. Wie Elfriede Jelinek es formulierte: "Er kommt immer vor. Aber mehr auch nicht." Und Toby Ashraf bezeichnet seinen fetten Körper, der durch dieses Vorkommen zu seinem Markenzeichen wurde, als den "Körper des Neuen Deutschen Films". In Rainer Werner Fassbinders "Faustrecht der Freiheit" war er der Florist Fatty, der Franz Biberkopf (Fassbinder) den Lottoschein verkaufte, der weitreichende, schließlich fatale Folgen für ihn haben sollte. In Ulrike Oettingers "Johanna D′Arc of Mongolia" bittet er in der transsibirischen Eisenbahn zuerst fürstlich zu Tisch, später dann auch zu Gesang und Tanz. Später war er dann unter anderem auch in Christoph Schlingensiefs "United Trash" und "Terror 2000" und in Rosa von Praunheims "Die Jungs vom Bahnhof Zoo" zu sehen.
Das Vorkommen behielt Kern auch in seinen eigenen Filmen als Regisseur bei. In vielen der knapp dreißig Filme, die er seit den Achtziger Jahren gedreht hat, hat er kurze Cameos.
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Samstag, 30. August 2014

Patriarchat und Gewalt VII: Hotte im Paradies (Dominik Graf, Deutschland 2002)

Der Film, dessen Titel dem Protagonisten das Paradies verspricht, beginnt mit einer infernalischen Szenerie. Feuer, Blaulicht, Sirenen, Krankenwagen. Wie in einem Film Noir beginnt Hotte (Misel Maticevic), ein Zuhälter im Berliner Milieu rund um den Stuttgarter Platz, seine Geschichte im Rückblick, per Voice-Over zu erzählen.
Über Hotte im Paradies in der Serie zu Patriarchat und Gewalt zu schreiben, ist gerade deshalb so interessant, weil er mit den anderen in diesem Zusammenhang besprochenen Filmen zunächst weder formal noch inhaltlich etwas zu tun zu haben scheint. In der Geschichte um Hotte und seine zunächst drei, später dann zwischenzeitlich nur noch eine Hure wird die Prostitution klar als grausame patriarchale Ausbeutung beschrieben, zu deren Durchsetzung es auch mal mehr, mal weniger subtiler Formen maskuliner Gewalt bedarf.
Dennoch hat Grafs Fernseh-Film mit den generischen Formen, durch die im Kino die gewaltsame Unterdrückung der Frau durch die männerdominierte Gesellschaft gezeigt werden, kaum etwas gemein. Vielmehr bildet Grafs TV-Zuhälter-Drama eine Art Komplementärfilm zu seiner Kino-Zocker-Komödie Spieler. Hier wie dort geht es um eine bestimmte Beziehung des Subjekts zur Welt, deren scheinbar einziges Medium das Geld ist. Das Geld, das nur immer wertvoller wird, je mehr es den Männern scheißegal ist. Hier wie dort bietet das Geld eine Alternative zur bürgerlichen Biographie. Die Protagonisten in Spieler waren zu sehr damit beschäftigt vor Schuldnern zu fliehen, mit großen oder kleinen Gaunereien das Geld zu beschaffen, von dem sie immer noch mehr verzockten als sie beschafften, um Zeit für das zu haben, was gemeinläufig mit dem Erwachsenwerden assoziiert wird: Arbeiten gehen, eine Familie gründen, etc. Parallel dazu erklärt Hotte: "Und noch watt, wenn du im Milieu bist, die absolute Nichtachtung das Geldes. Dit is bedrucktes Papier, mehr nicht." Das Geld, das, auch das sagt Hotte im Voice-Over schonungslos ehrlich, die Frauen erarbeiten und die Männer ausgeben. Deshalb muss die Prostituierte, die nach dem Koksen einen Fünfhunderter in ihrem Kleid verschwinden ließ, ihn schnell wieder rausrücken. Das Geld, das die Männer mit betonter Wegwerf-Bewegung beim Würfelspiel auf die Tische schmeißen, muss für die Frauen doch immer seinen Wert behalten. Die Macht der Zuhälter über die Huren ist eine Macht durch die - und zur Verschwendung von Geld.
Der Plot beginnt damit, dass Hotte ein neues Mädchen von einem Kollegen kauft: Jenny (Nadeshda Brennicke). Mit Rosa (Birge Schade) und der unter ihrem Job zunehmend leidenden Yvonne (Stefanie Stappenbeck) arbeiten nun drei Frauen für ihn.
Doch auch die Seele der sehr jungen und sehr attraktiven Jenny scheint durch das Anschaffen und die Drogen mehr und mehr Schaden zu nehmen. Eine Szene bringt das Machtverhältnis zwischen dem Luden und den Prostituierten auf den Punkt. Als ein Freier versucht Jenny für eine andere Organisation abzuwerben, zeigt sie sich zunehmend aufmüpfig gegenüber Hotte. Nachdem sie ihn in einem Restaurant auffordert, sie zu schlagen, legt er sie vollkommen enerviert übers Knie und versohlt ihr in aller Öffentlichkeit den Arsch. Einerseits eine Maßnahme, die ihren Grund darin hat, dass man an ihrem Gesicht beim Anschaffen keine Spuren sehen darf, zeigt diese Szene doch auch überdeutlich, dass das Verhältnis vom Mann zur Frau in diesem Geschäft ist, wie von einem Erwachsenen zu einem Kind, das wenn es nicht pariert eben mit Schlägen gemaßregelt werden muss. Horkheimer und Adorno schreiben: "Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekten wird für die Herrschaft bezahlt: Mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext, auch die jedes einzelnen zu sich."
Hotte im Paradies geht gerade darin weiter als die feministische Kritik an der Prostitution, dass die Versachlichung der Körper nicht nur die beherrschten Frauen betrifft, sondern auch die herrschenden Männer selbst. Kaum zufällig beginnt der Alltag Hottes, den er am Anfang kurz skizziert, mit zwei Stunden Fitness Studio nach dem Aufstehen am Mittag. Wo Frauen zwischen den Männern verkauft werden wie die diversen Statussymbole, wie Uhren, Autos, Klunker, wird der Wert des Mannes eben an diesen Gegenständen bemessen. Zu Beginn, bevor er sich seinen Jaguar kauft, bleibt Hotte wie ein Ausgeschlossener als einziger in einer Bar sitzen, als es anfängt zu regnen, während alle anderen aufspringen, um die Verdecke ihrer Cabrios zu schließen.
Diese Statussymbole sind keine Fetische im Freud'schen Sinne, kein Penisersatz, sondern eher eine symbolische Penisverlängerung. Der Fortsatz eines sowieso zwangsläufig durch und durch sexualisierten Egos.
Doch da ist noch etwas: Durch die Distanzlosigkeit zu dem gezeigten Milieu, die unter anderem durch den Einsatz der beiden mobilen Mini-DV-Kameras entsteht, die fast immer mitten im Geschehen sind, wird auch die Zärtlichkeit innerhalb der ganz und gar kaputten, durch das Milieu und - vor allem - das Geld zerstörten Beziehungen der Figuren gezeigt. Misel Maticevic spielt Hotte mit einer beeindruckenden Gratwanderung, dass er auch dann wenn er sich wie das letzte Arschloch benimmt immer noch charmant wirkt.

Mittwoch, 21. Mai 2014

Montag, 28. April 2014

Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan (Rudolf Thome, Deutschland 1998)


 

(und vielleicht auch ein bisschen: Patriarchat und Gewalt II I/II)


Auf dem Rückweg aus den verregneten Flitterwochen in Italien nach Berlin nehmen Luise (Cora Frost) und ihr Mann Franz (Rüdiger Vogler) den Anhalter Frank Mackay (Herbert Fritsch) mit. Luise fühlt sich von Frank auf Anhieb geradezu magisch angezogen. Einen Kurzurlaub ihres Mannes nutzt sie, um mit Frank auszugehen. Der weist ihre Avancen jedoch zunächst ab, weil er seine - wie sich herausstellen wird sehr - weite Reise aufgenommen hat, um eine andere Frau zu suchen: Die Schriftstellerin Laura Luna (Valeska Hanel).

Dass das alles auf ein Ménage-a-trois in einem Landhaus hinausläuft, dürfte niemanden, der mit dem Schaffen Rudolf Thomes in den letzten zwei Dekaden vertraut ist, sonderlich überraschen.

Es gibt also das polygame Beziehungsgeflecht zwischen zwei Frauen und einem Mann, dass die "serielle Monogamie" irgendwann nicht einmal mehr als Alibi benötigt (wobei die Eifersucht, die solche Experimente extrem erschweren kann, hier mehr nach außen gelagert erscheint, als etwa in dem späteren Das rote Zimmer).  Es gibt die Wohnungen, Häuser und Seen. Es gibt die schöne Alltäglichkeit des gemeinsamen Kochens, Essens und Liebemachens, die leicht gebrochen wird durch Märchen- oder Genre (hier: Krimi- und Science-Fiction-)Elemente. Zunächst also Thome-Business as usual - zumal der Film auch relativ eng mit dem im selben Jahr entstandenen Just Married verknüpft scheint, in dem ebenfalls Flitterwochen in Italien ins Wasser fielen, wenn auch wesentlich buchstäblicher als hier (und Herbert Fritsch, der dort den Ehemann spielte, ist hier der Mann, der schließlich zwischen den Eheleuten stehen wird).

Dann hat dieser Filme, so sehr er insgesamt auch die Ruhe weg haben mag, doch auch immer wieder etwas wildes, frenetisches, exaltiertes. Da sind Szenen wie die, in der Luise und Frank gemeinsam in die Disko gehen. Eine einzige knapp zweiminütige halbnahe Einstellung lang sehen wir sie tanzen in einem einzigen Rausch aus Körpern und Gesichtern im blinkenden weiß-blaustichigen Licht, das durch das Schwarz zu einer Art Stop-Motion-Sequenz fragmentiert wird (unweigerlich musste ich dabei an die Diskoszenen denken, die sich in später entstandenen Filmen von Dominik Graf finden). Da ist der Science Fiction-Plot, um den Mann, der aus einer fernen Zukunft, in der es keine Frauen mehr gibt und die Männer unsterblich sind, in die Neunziger Jahre-Gegenwart gereist ist, um eine Frau zu suchen (wie abstrus das eigentlich ist und mit welcher Wucht es mit dem Alltagsrealismus kollidiert, fällt bei der allgemeinen Sanftheit des Films gar nicht so sehr auf).
Schließlich ist da der Krimi, der sich in Tigerstreifenbaby wartet auf Tarzan versteckt zu haben scheint und schon zu Beginn kurz zu uns durchlugt - in Form einer Pistole im Handschuhfach und eines Mordes, bei dem ein Mann so theatralisch stirbt, wie man es eigentlich nur aus dem Genre-Film lange vergangener Zeiten, dem klassischen Film Noir zum Bespiel, kennt. Übrigens bricht der Krimi dann im Finale ganz und gar hervor - in dem wohl wuchtigsten finalen Plot Point im gesamten bisherigen Werk des Regisseurs und gibt dem Thome-typischen "Beziehungsfilm" damit einen mörderischen Rahmen.

Sonntag, 20. April 2014

Die Freunde der Freunde (Dominik Graf, Deutschland 2002)

Sofort sind wir mittendrin - und zwar gleich doppelt in diesem Film, der die Dopplung schon im Titel trägt. Mitten in der Aktion und mitten zwischen den Körpern der agierenden bzw. reagierenden Figuren. Dass aber die Reaktion des jungen Mannes (Matthias Schweighöfer), der von drei anderen jungen Männern abgezogen wird, dem mit vorgehaltenem Messer Jacke und Uhr geraubt werden, so gar nicht zur Aktion passt, dass er eher genervt als ängstlich wirkt und grinsen muss "wie ein Vollidiot", kündet schon von der sonderbaren Entrücktheit dieses Film.
Nach dieser Nähe zum Geschehen, dem Mittendrin-sein folgt die - wiederum doppelte - Distanzierung, durch die Entfernung der Kamera und durch das Voice-Over, das die Handlung in der Vergangenheit verortet.
Das Mittendrin-sein der Handkamera entspricht einer Nähe der Welt des Films zur außerfilmischen Realität. Diese Welt erscheint und klingt "echter", fühlt sich "authentischer" an, als man es sonst aus Film und Fernsehen - zumindest in Deutschland - gewöhnt ist. Gleichzeitig ist da die Distanzierung durch die überbelichteten, grobkörnigen Video-Bilder, die immer auch auf sich selbst, ihre eigene Materialität verweisen, dem Film eine unheimliche Künstlichkeit geben (das grelle Sonnenlicht, das die Figuren förmlich aufzufressen, aus dem Bild zu tilgen droht, die Standlichter eines Autos, die sich als rote Punkte wie teuflische Augen ins Schwarz einer nächtlichen Straße brennen). Für einen - wie auch immer verstandenen - filmischen Realismus (den man übrigens, laut Georg Seeßlen, "als die größte cineastische Illusion ansehen kann") taugt das Defizitäre dieser Bilder eindeutig nicht. Der dialektische Coup des Films, die Synthese aus Nähe und Distanz, "Realismus" und seinem Gegenteil, besteht darin, dass wir uns von Anfang an mitten in einer Welt befinden, die nicht die sein möchte, die wir kennen, sondern eine Parallelwelt zu ihr - eine Gespensterwelt vielleicht, ein Wiedergänger der Realität.
Auf einer Party trifft Gregor (Schweighöfer) die junge alleinerziehende Mutter Billie (Sabine Timoteo). Rauschhafte Party-Szenen wie diese finden sich in vielen Dominik-Graf-Filmen - zum Beispiel in Der Skorpion, Kalter Frühling oder Eine Stadt wird erpresst. Doch dann ist das auch eine Schlüsselszene für genau diesen Film. Nicht nur, weil sich die eben Gregor und Billie, das zentrale Paar des Films, das doch nie wirklich eins werden wird hier zum ersten Mal treffen, sondern auch, weil sie einen Schlüssel - oder vielleicht gleich mehrere - zum Verständnis des Films in die Hand gibt.
Zunächst ist da der Song, zu dem Jessica Schwarz und eine andere Frau tanzen und den die anderen Party-Gäste enthusiastisch mitgrölen: Totos "Hold The Line".

It's not in the way that you hold me
it's not in the way you say you care
it's not in the way you've been treating my friends
it's not in the way that you stayed till the end
it's not in the way you look or the things that you say that you'll do

Das Schwer-fassbare, das Nicht-greifbare und die Negation sind entscheidende Elemente von Die Freunde der Freunde (in dem "Hold The Line" übrigens leitmotivisch noch öfter erklingen wird). Und: auch das wird sich wohl bewahrheiten: "Love isn't always on time." Mit den Worten "Gregor, wir haben uns zur falschen Zeit getroffen..." beginnt später ein Abschiedsbrief von Billie.
Dann gibt es auf dieser Party auch den Limbo - unter einer brennenden Stange hindurch. Dieser Tanz, den Mitteleuropäer wohl am Ehesten mit einem gut gelaunt touristischen Werbeclip-Bild der Karibik verbinden, gehörte ursprünglich zu einem Begräbnisritual - und hat vielleicht seinen Ursprung in der Enge der Sklavenschiffe. Durch ihn spuken die kolonialen Phantasmen, Erinnerungen an Verlust, Gefangenschaft und Schmerz vergangener Generationen. Im Film wird Gregor später fragen: "Wie kann etwas so weh tun, was gar nicht mehr da ist?" Durch die Erinnerung wohl, und was sind Erinnerungen anderes als Gespenster von Ereignissen, Dingen, Menschen auch, die nicht mehr da sind, aber in unserem Gedächtnis doch fortbestehen?
Schließlich mag einen das Feuer daran gemahnen, dass Limbus auch die Vorhölle ist, der Ort, in dem etwa in Dantes Inferno diejenigen warten, denen aufgrund ihrer Herkunft aus nicht-christlichen Ländern, ihrer Geburt in vor-christlichen Zeiten, ohne eigenes Verschulden also, die Pforten zum Himmelreich - zunächst - verschlossen bleiben. Ist das Internat, in dem Gregor lebt und ein Großteil des Films spielt, eine Vorhölle, in der Unschuldige (?) auf Erlösung warten? Ist es ein haunted house? Sind die Figuren des Films Gespenster? Alle? Oder nur einige von ihnen? Nun, jedenfalls tun wir wohl gut daran, der Diegese eines Films, in dem schon eine Party derart ungeheuerlich und unheimlich, geisterhaft und höllisch übercodiert ist, nicht allzu sehr über den Weg zu trauen.
Gregor geht auf ein Internat, auf das nur reiche Eltern ihre Kinder schicken können. Zum Beginn der Handlung bleiben ihm und seinem Zimmernachbarn und besten Freund Arthur (Florian Stetter) noch drei Monate bis zum Abitur. Während Gregor an die große Liebe glaubt, daran, so sagt er, dass es für jeden Menschen irgendwo einen anderen Menschen gibt, der zu ihm passt und auf ihn wartet (da ist es wieder dieses Vorhöllen-Warten), fürchtet Arthur "ernsthafte" Beziehungen, feste Bindungen offenbar, wie, tja, der Teufel das Weihwasser. Wo Gregor Billie von Anfang an verfallen scheint, er ihr allerlei Gefallen, hauptsächlich monetärer Natur, erweist, ohne dass sie ihn jemals darum bitten müsste, geht Arthur seine "Freundin", die er selbst wohl nie so nennen würde, Pia (Jessica Schwarz) scheinbar nur auf die Nerven. Ständig erzählt er von den Mädchen, die er angeblich gefickt hat, die wir aber in dem Film, von einer Minderjährigen in einem Rückblick abgesehen, nie zu sehen bekommen. Pia erzählt Gregor bei einer zufälligen Begegnung in einem Café, er habe in einer Seance mit dem Geist einer Frau geschlafen, und behaupte seit dem suchten ihn all die Geister der Frauen, mit denen er Sex hatte nachts heim. "Geister ficken" nenne er das. Die Gespenster der Liebe eines Liebesunfähigen?  
Wo sich die Beziehungen der beiden Paare offensichtlich darin spiegeln, dass sowohl Pia als auch Gregor von ihren Partnern etwas erwarten, das diese nicht zu geben im Stande sind, sind die Parallelen zwischen Billie und Arthur wesentlich geheimnisvoller. Beide haben panische Angst, fotografiert zu werden. Beide sind irgendwie in kriminelle Aktivitäten verstrickt. Billie geht mit Männern auf Hotel-Zimmer, nicht um mit ihnen zu schlafen, so sagt sie jedenfalls (aber: wem möchte man schon glauben in diesem Film?), sondern nur um ihnen die Portemonnaies zu klauen. Mit ihrem Ex-Mann hat das irgendwie zu tun, den wir nie zu Gesicht bekommen. Arthur hingegen hat von seinem Vater eine Firma vererbt bekommen, die andere Firmen berät und analysiert und alle Informationen streng vertraulich behandelt, "auch wenn sie weiß, dass der Kunde über Leichen geht". So wie es um die eigentlich Handlung des Films herum von Gespenstern zu wimmeln scheint (von unsichtbaren Liebschaften, Ex-Männern und toten Vätern), so wäre es auch nicht richtig, zu sagen, dass der Film mit diesen Nebenhandlungen Elemente von Sozial-Drama und Thriller in seine Handlung einfließen lässt, vielmehr scheinen diese Genres eher irgendwo in ihm zu spuken - wie so manch anderes. Und dann ist da noch etwas: Einmal springt Arthur aus großer Höhe und verletzt sich einen Fuß, in einer Szene wenig später hat Billie auf genau derselben Seite einen eingegipsten Fuß (versteckt sich unter diesem Gips vielleicht der Klumpfuß der Leibhaftigen?).
Wer nun meint, am Ende müsse all das aufgelöst werden, liegt falsch. Für Fragen interessiert sich Die Freunde der Freunde wesentlich mehr als für Antworten. Auf die radikale Verrätselung der ersten 85 Minuten, folgt in den letzten fünf Minuten ein radikales Nicht-Auflösen.
Was bleibt sind nur Gregors - einigermaßen hilflose - Versuche, all das wieder in einen konventionellen Sinn zu überführen, Schlüsse daraus zu ziehen, das Nicht-zu-Ende-Erzählbare zu Ende zu erzählen.   

Mittwoch, 16. April 2014

Baal (Volker Schlöndorff, BRD 1969/Deutschland 2014)

(Dieser Text wird in ähnlicher Form auch in der filmgazette erscheinen.)

Baal. Vom syrischen Wetter- und Fruchtbarkeitsgott zum Dämon im Christentum. Vom Herrn („Baal“) zum Herrn der Fliegen („Baal Zebub“, „Beelzebub“). Im zwanzigsten Jahrhundert dann, im ersten Stück des (jungen) Anarchisten Bertolt Brecht zunächst: Der Dichter, Säufer, Weiberheld, Libertin, Bürgerschreck, Prototyp des nach außen rücksichtslosen, nach innen selbstzerstörerischen, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehenden Künstlers, Prototyp vielleicht des Club 27-Rockstars (oder doch eher: der Erzählung, die wir über ihn kennen, zum Beispiel von Oliver Stone). Dann, im neu aufgelegten Stück des (alternden) Sozialisten Bertolt Brecht: Der „Böse“, der Asoziale“. Einer, der so verzweifelt nach Freiheit suchte wie Baal passte nicht auf SED-Linie. Blieb der eigentliche Text des Stückes auch mehr oder weniger unangetastet, musste sich der Autor doch im Vorwort entschuldigend äußern, relativieren: Baal „ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft“ und: „Ich gebe zu (und warne): Dem Stück fehlt es an Weisheit.“ Man sieht: es ist immer eine Frage des „richtigen“ Glaubens mit diesem Baal.

An einem vorläufigen Endpunkt dieser Aneignungen, Um- und Überschreibungen steht bzw. geht 1969 Rainer Werner Fassbinder einen Feldweg entlang, in Lederjacke, rauchend natürlich. „Angel to some, demon to others“, nach außen rücksichtsloser, nach innen selbstzerstörerischer, an seiner Umwelt und sich selbst zugrunde gehender Künstler auf dem Weg zum Rockstar-Filmemacher. Die 16mm-Kamera in der Hand von Dietrich Lohmann folgt ihm, läuft eine Weile neben ihm her, macht einen großen Bogen um ihn herum, schweift ab in den Himmel und sieht den Vögeln beim Ziehen zu, kehrt dann zu Baal/Fassbinder zurück, der davon geht, den Feldweg entlang. Zweieinhalb Minuten lang und ohne Schnitt, aber die Szene könnte von der Eleganz, die man oft von Plansequenzen (auch aus prä-Steady Cam-Zeiten, bei Welles etwa) kennt, nicht weiter entfernt sein. Sonderlich gekonnt sieht das, was die Kamera da macht eigentlich nicht aus, zumindest nicht durchgehend. Aber aus dem Dilettantismus, daraus, wie in diesem eigentlich verdammt prätentiösen Unterfangen, das der Film ist, einfach immer wieder ausprobiert und munter drauflos gefilmt wird, entsteht eine sehr eigene und sehr eigenwillige Poesie – hier schon, und auch später immer wieder. Dazu übrigens: Der mit rockigem Blues unterlegte „Choral vom großen Baal“ - von einigen Kürzungen und Straffungen abgesehen ganz so, wie er bei Brecht steht. 

Volker Schlöndorff drehte diesen Film als Teil einer Brecht-Reihe im Fernsehen. Schlöndorffs eigene Regie-Karriere steckte Ende der Sechziger bereits in einer ersten großen Krise, mit der millionenteuren amerikanischen Produktion „Michael Kohlhaas“ war er kolossal gescheitert. „Baal“ sollte konsolidieren. Seine Mitstreiter aber um Fassbinder und dessen Antitheater-Truppe (unter anderem Hannah Schygulla, Irm Hermann, Günther Kaufmann) wurden erst später, in den Siebzigern zu Stars. Die Linien, die sich hier kreuzen, machen dieses „Fernsehspiel“ vielleicht zu einem geheimen Schlüsselwerk dessen, was man den „Neuen Deutschen Film“ nannte. Umso bedauerlicher, dass „Baal“ über vier Jahrzehnte in den Archiven vergammelte, weil Helene Weigel, der der Film nicht in den ideologischen Kram passte, ein Verbot erwirkte, das spätere Brecht-Erben aufrecht erhalten ließen – bis 2013.

Schlöndorff beschrieb sein Werk mit den Worten: „Dieser „Baal“ ist kein Film, sondern eine Fernsehinszenierung des integralen Brechttextes, auf Film produziert als „Fernsehspiel“.“ Was in diesem verschwurbelten Satz munter durcheinander purzelt, beschreibt den Film tatsächlich ziemlich gut. Zunächst einmal: eine Adaption dicht an der Theater-Vorlage. 24 Kapitel, von Zwischentiteln eingeläutet und durchnummeriert, den 24 Szenen des Stückes entsprechend, nur die Reihenfolge wurde teilweise variiert. Hier und da etwas gekürzt oder umgestellt, sagen die Schauspieler die Brecht-Dialoge, -Lieder und -Gedichte auf – und es ist auch hier nicht die Perfektion, die die Brecht-Worte aus den Mündern von Fassbinder, von Trotta, Schygulla und den anderen zum reinsten Gedicht macht, sondern gerade das Provisorische im Spiel der Darsteller, denen man ihre Unerfahrenheit anmerkt. Das over acting – vor allem Fassbinders – disharmoniert mit dem Theatralischen, dem Festgeschriebenen, auswendig Gelernten auf eine Art, die die ganze Zerrissenheit, Verzweiflung und Gemeinheit der Vorlage ans Licht und aufs Zelluloid bringt.

Und dann ist der Film von der Vorlage auch wieder weit entfernt. Wie die Handkamera sich wackelnd, meist dicht an den Körpern, zwischen den Figuren bewegt, auf recht holprige Weise dynamisch, wie sie in einer Szene über die nackte Haut von Rainer Werner Fassbinder und Margarethe von Trotta wandert, deren feuerrote Haare leinwandfüllend ins Bild fallen, das ist Film durch und durch. Die siebente Kunst ganz und gar. 

Und die tollsten von den liebevoll ausgewählten Sets sind die unter freiem Himmel. Baal und Eckart (Sigi Graue) vor einer nächtlichen Straße. Baal in der vorletzten Szene, an der Autobahn, in der Dämmerung, die unscharfen Lichter einer Tankstelle hinter ihm, der dicht fließende Verkehr vor ihm hm, er dreht sich um und rennt in die Felder. In der letzten Szene dann torkelt er sterbend aus der Waldhütte, stürzt, dann sieht man nur noch einen Busch. Die Rückkehr zur Natur, die er erträumt, kann nur im Tod vollzogen werden.

Am großartigsten aber eine Szene mit Fassbinder, Graue und von Trotta (als Sofie) vor einer viel befahrenen Landstraße. Sie streiten, Baal will die von ihm schwangere Sofie zurücklassen, schubst sie zu Boden, Eckart sucht sie zu verteidigen, gelobt ihr, bei ihr zu bleiben, sie aber will nur Baal. Die Ränder des Bildes sind unscharf, das überhelle Sonnenlicht frisst sich ins grobkörnige 16mm-Material, verwandelt die drei jungen Menschen zu Schimären, die mit vollem Körpereinsatz Brecht spielen, während der dichte bundesrepublikanische Sechziger-Jahre-Verkehr vollkommen unbeteiligt an ihnen vorbeirauscht.

Auch weit entfernt vom Stück hat sich der Film durch die jeweiligen zeitgeschichtlichen Konnotationen. Schon bei Brecht, 1918, ging es um den Menschen in der Revolte – und sein Scheitern. Darum, wie der „Ausbruch“ und alle Befreiungen immer nur in neue Gefängnisse führen. Bei Schlöndorff aber handelt der historische Text vom gegenwärtigen Menschen in der Revolte – und antizipiert sein Scheitern. Baal, der den Himmel liebt, mehr als irgendetwas auf der Welt, und sich einmal wünscht, mit den Pflanzen schlafen zu können. Baal, dem die Rückkehr zur Natur, zur Mutter, bei einer Frau nach der anderen verwehrt bleiben muss, und der irgendwann vom „Weib“, von der Sexualität müde ist. Baal, der aus Verzweiflung immer mehr säuft, immer weiter aufquillt. Baal, der schließlich zum Mörder wird. Wovon sollte diese Figur 1969 erzählen, wenn nicht vom Hippie, der zum Terroristen wird. Davon, wie der antibürgerliche Hedonismus in die Krankheit, in die Sucht führen kann – und die „sexuelle Revolution“ irgendwann resigniert feststellen muss: „I can’t get no satisfaction (and I tried and I tried and I tried…)“

Und: ist dieser krude kleine Theater-Fernseh-Film heute, 2014, wenn er nach 43 Jahren wieder aufgeführt werden darf und wir wissen, wie es den Revoluzzern von einst erging, nicht aktueller denn je? Dass sie bestenfalls an den Lehrstühlen der Unis endeten, manche im Knast landeten, andere auf dem Bahnhofsklo und wieder andere – die von außen betrachtet vielleicht gruseligste Variante – im Dschungel Camp.