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Freitag, 12. Dezember 2014

Lluvia (Paula Hernández, Argentinien 2008)

Lluvia habe ich das erste Mal im FSK gesehen, ohne vorher irgendetwas über ihn zu wissen. Die freudige Überraschung über diesen zugleich absolut unaufgeregten und doch eindrücklichen kleinen Film machten das zum wohl schönsten Kinoerlebnis 2011.
Es ist gut möglich, dass meine Begeisterung für den Regen im Kino maßgeblich von diesem Film ausgeht. In Lluvia ist es als würde nicht nur der Schauplatz, Buenos Aires, aus dem Regen Kontur annehmen, aus Lichtern hinter der verregneten Windschutzscheibe langsam zusammenfließen, im Rhythmus der Scheibenwerfer Gestalt annehmen, um sich sogleich wieder zu verflüchtigen, oder genauer: zu verflüssigen, sondern das gleiche scheint auch für die beiden Hauptfiguren des Films zu gelten und für die Beziehung, die sich zwischen ihnen entwickeln wird.
Zu Beginn sitzt eine Frau alleine in ihrem Auto und fährt durch eine verregnete Großstadtnacht. Als sie im Stau stehen bleibt, steigt plötzlich von draußen, aus dem Regen ein fremder Mann zu ihr ins Auto. Das bedrohliche Moment an dieser Situation hält nur einige Sekunden vor. Schnell wird klar, dass der verletzte Mann vor etwas auf der Flucht war und nur einen Unterschlupf suchte. Nach und nach kommen die beiden ins Gespräch und einander ganz allmählich näher.
Was Alma (Valeria Bertuccelli)  und Roberto (Ernesto Alterio) eint, ist das sich beide in einer Umbruchphase in ihrem Leben befinden. Roberto lebt seit seiner Kindheit in Madrid, wo er Frau und Kind hat. In seine Geburtsstadt Buenos Aires kam er, weil sein Vater im Sterben liegt.
Alma hat ihren Mann verlassen und wohnt seitdem in ihrem Auto, mit dem sie unermüdlich durch die Stadt fährt.
Es ist ein beständiges Spiel von Anziehung und Abstoßung, das sie von den ersten gemeinsamen Momenten an zu verbinden scheint. Nach und nach gibt jeder ein wenig von sich preis, dann gibt es harte Worte, einen Konflikt und eine vorübergehende Trennung. Die Dynamik, die diesem langsamen Ertasten des Gegenübers und der Bereitschaft, sich ihm anzuvertrauen zu Grunde liegt, ist wohl ein Konflikt, nicht so sehr zwischen den beiden als in jedem selbst. Es geht um ein Austarieren der Hemmung, einem Wildfremden die eigenen intimen Geheimnisse und Dilemmata mitzuteilen gegen das Verlangen, in der schwierigen und einsamen Situation, in der sie sich gerade befinden, nicht alleine zu sein. Die Arten mit ihren jeweiligen Gefühlen umzugehen variieren. Während Alma mehrmals unvermittelt in Tränen ausbricht, muss bei Roberto schon ein Klavier aus dem Fenster fliegen, um von seinem Vater, der Musiker war, Abschied zu nehmen und sich zugleich der eigenen Herkunft zu stellen.
Bei der langsamen und schwierigen Annäherung zwischen zwei Menschen, von der der Film erzählt, ist die Sicht des Zuschauers die ganz subjektive der Figuren. Wie sie den jeweils anderen, lernen auch wir sie Stück für Stück kennen. Nach und nach bekommen sie einen Namen, eine Geschichte, einen Charakter, bis wir schließlich wissen, wie sie in die Situation kamen, in der sich ihre Wege kreuzten. Durch diese behutsame Art des Erzählens, scheinen die Figuren im beständigen Werden begriffen zu sein, sich ganz langsam vor unseren Augen zu entwickeln.
Der Film steuert zu auf die Sex-Szene im Auto, die für Alma und Roberto nicht den Beginn, sondern das Ende ihrer Beziehung markiert. Von der Ansicht der Gesichter, die, wie immer wieder in diesem Film, durch die verregneten Scheiben zu sehen sind, kommt ein Schnitt ins Innere des Autos. Auf die beiden Liebenden, die einige Momente der Zärtlichkeit und Geborgenheit, der Sicherheit vor dem Regen finden. Der Film findet dann zu einem gar nicht verhaltenen Happy End mit einigen statischen Einstellungen von den Orten, an denen sich die beiden aufgehalten haben, nun menschenleer und dem Close-Up von Valeria Bertuccellis Gesicht, das ein paar Sonnenstrahlen abbekommt.
Bei der mehrmaligen Sichtung fragte ich mich kurz doch, ob der Film sich seiner verregneten Atmosphäre, bestärkt durch melancholische und sphärische Synthesizer- und Klavierklänge, nicht doch etwas zu sicher ist, zu berechnend wirkt. Alles in allem überwiegt jedoch die Freude an der Einfachheit mit der hier eine an sich ziemlich komplizierte kleine Liebesgeschichte erzählt wird, die die Vergänglichkeit nicht fürchtet, sondern sich ihr stellt und sie umarmt.

Freitag, 27. September 2013

Carancho (Pablo Trapero, Argentinien 2010)

Laut einer wunderbaren Definition war "der Film noir eine Kunstform des Nachkriegs, die Mitleid hat mit Leuten, die ihre Seele verloren haben."
Wollte man das um die Jahrtausendwende entstandene "Neue argentinische Kino", dem auch Pablo Trapero zugeordnet wird, auf eine ähnlich griffige Formel bringen, könnte man sagen, dass es ein Kino der Nachkrise ist, dass Mitleid mit Leuten hat, die ihre Existenz verloren haben - aber auch solchen, die noch nie eine hatten.
In Traperos Carancho, einem Film, der einem den Begriff "Neo-Noir" wahrlich aufdrängt, geht es, kurz gesagt, um zwei verlorenen Seelen, die, eigentlich auf der Suche nach einer auch nur halbwegs würdevollen Existenz, einander im nächtlichen Buenos Aires finden.
Er, Sosa (Ricardo Darín), ist Anwalt, hat seine Lizenz verloren und arbeitet seitdem für eine Firma, die sich darauf spezialisiert hat, für Opfer von Verkehrsunfällen - oder deren Angehörige - Schadensersatz einzuklagen. Ein sehr lukratives Geschäft, denn, so informiert eine Texttafel zu Beginn, in Argentinien sterben jedes Jahr 8000 Menschen bei Autounfällen, sie sind die Haupttodesursache bei unter 35-jährigen. So lukrativ, dass es in durch und durch mafiosen Strukturen organisiert ist - von fingierten Unfällen bis zu windigen Firmen, die nur einen Bruchteil des erklagten Schadensgeldes tatsächlich an die Betroffenen weitergeben. Dort wo er nachts Klienten sucht, in den Notaufnahmen der Krankenhäuser und an den Straßenecken, behandelt sie, Luján (Martina Gusman), Notärztin, frisch aus der Provinz-Uni im Arbeitsleben und der Hauptstadt angekommen, Patienten. Den enormen Belastungen ihres Jobs ist sie bald nur noch gewachsen, indem sie sich mit allerlei Medikamenten betäubt. Die beiden werden ein Paar und versuchen nun gemeinsam dem Netz der kriminellen Verstrickungen, das sich immer enger, um ihn schließt - und in das er sie zunehmend mit hinein zieht - zu entkommen.
Wenn Isabel Caetanos Pizza, birra, faso 1997 einer der Schlüsselfilme des neuen argentinischen Films war, dann nimmt er auch dessen Tendenz vorweg, sich den Schicksalen der neuen und alten Marginalisierten mit den Mitteln des Genre-Kinos zu nähern - kaum zufällig läuft in einer Szene Dog Day Afternoon im Fernsehen, ein New-Hollywood-Klassiker von Sidney Lumet, der bekannt war für seine politisch engagiertes Genre-Handwerk. Pablo Trapero hatte 2002 mit El Bonarense einen Polizeifilm gedreht, der das Genre regelrecht aushöhlte. In den prototypischen modernen Polizeifilmen der Siebziger Jahre ging es immer um das Individuum, dass sich im beständigen Kampf mit dem System befand, in dem und für das es eigentlich arbeiten sollte. Dieser Konflikt einte seine (Anti-)Helden - die "rechten" (Popeye Doyle, Dirty Harry) unterschieden sich von den "linken" (Serpico) nur in der grundverschiedenen Beschaffenheit des "bösen Systems", mit dem sie sich anlegten. Der Protagonist von El bonarense, der vom Kleinkriminellen zum Polizisten wird und schließlich in Uniform zu einem größeren Verbrecher als er vorher je war, ist das genaue Gegenteil: er macht - will sagen: prügelt und kassiert - einfach mit. Bestimmt kein guter Bulle, aber über weite Strecken so passiv, dass er auch nicht wirklich ein böser Bulle ist. Keiner, der sich irgendeinen moralischen Kodex leisten würde, aber auch kein criminal mastermind in Uniform. So einer, das ist das Fazit des Films, bringt es im Argentinien nach dem "Corralito", wo viele auf der Strecke bleiben, zu etwas.
Sehr anders sieht der Zugriff aufs Genre in Carancho aus. Wo dort das Identifikationsangebot für den Zuschauer durch eine Figur, die nicht gegen, sondern mit dem Strom schwamm, konsequent demontiert wurde, wird es hier durch die Liebesgeschichte zweier Menschen, die einer absolut unmenschlichen Arbeitswelt zu entkommen versuchen, neu zusammengesetzt. Während Trapero dort die horrenden Misstände im Polizeiapparat von Buenos Aires - Vetternwirtschaft, Korruption, Polizeigewalt - mehr im Vorbeigehen schilderte, schreibt er sich hier die politische Brisanz seines Themas gleich per Texteinblendung im Vorspann auf die Fahnen. War El bonarense über weite Strecken so unaufgeregt, dass die Bezeichnung Thriller beinahe sarkastisch wirkt, lässt Carancho seine zwei Hauptfiguren, Melodram und Thriller, Film und Zuschauer mit denkbarer Wucht aufeinander prallen - wie einen Lastwagen auf einen Fußgänger, wie den Stiefel auf den Solar Plexus oder den Vorschlaghammer auf das Knie.
In der ersten Szene wird parallel montiert, wie Sosa am Boden liegt, nur ein Schatten im gelben Licht der Straßenlaternen, und von den erzürnten Hinterbliebenen eines Unfallopfers zusammengetreten wird, während sich Luján Morphium in den Fuß spritzt. Er steht auf, spuckt einen Mundvoll Blut aus, sie versucht sich zu sammeln, die Kamera auf ihrem Gesicht im Profil, in Großaufnahme, unscharf. Der mitleiderregende "Schlafzimmerblick" scheint auf der Arbeit zu ihrem Erscheinungsbild zu gehören wie der Kittel. Dann sind beide unterwegs, im Auto. Auf Kollisionskurs. Aufeinanderprallen als Synthese.
Vom klassischen Film noir entleiht sich Trapero nicht zuletzt das zentrale Thema der Mobilität, das jener seinerseits von der hard boiled detective fiction übernahm. Die Stadt ist ein bedrohlicher Nicht-Ort, leere, gesichtslose Straßenecken bei Nacht, an denen es immer wieder ziemlich unvermittelt rumst. Menschen, die aneinander vorbeihetzen am Tag. Von der Suche nach Intimität in dieser durchanonymisierten, entmenschlichten Welt, in der der Crash zur letzten Form sozialer Interaktion geworden zu sein scheint, handelt der Film einerseits. Andererseits von dem Ausbruchversuch aus einer vollkommen unmenschlichen Arbeitswelt, von der vernarbte Venen und lädierte Gesichter nur die äußerlichen Spuren sind, die nach außen, an die Körperoberfläche gekehrten Traumata der beiden Hauptfiguren, über deren Vergangenheit wir nur wenig erfahren. Wie Sosa seine Lizenz verloren hat, woher die riesige Narbe an Lujáns Schulter rührt etwa, wissen wir nicht. Von den an sich schon denkbar zerrissenen Biographien bekommt man wiederum nur Fetzen präsentiert.
Das große Problem des Films ist, dass Trapero die (a-)soziale Realität, von der er erzählen möchte, und die Form des Genre-Films, die er dafür wählt, nicht wirklich zusammenbekommt. War der klassische Film noir mehr ein Stil als ein Genre, eine stark stilisierte Ästhetik, deren pessimistische Dunkelheit sich eher abstrakt aus den Erfahrungen des Weltkriegs speiste, ist es sicherlich schwierig, in einer solchen Ästhetik von einer sehr konkret gefassten Gegenwart zu erzählen. Zumal "Neo-Noir" eben auch immer einen Rückbezug auf die Geschichte des Films bedeutet. Man denkt eben bei den Gesichtern im flackernden Blaulicht, den sich in weiße und rote Lichter hinter der Windschutzscheibe auflösenden Straßen in Carancho eher ans Kino und seine Geschichte als an irgendeine außerfilmische Realität. Auch fiebert man mit den beiden Protagonisten so sehr mit, dass das wo vor sie fliehen eher ins Hintertreffen zu geraten droht.
Jedoch: diese entscheidenden Unstimmigkeiten tun der Wucht des Films, an dessen Ende das Auto - einmal mehr - zur tödlichsten aller Waffen wird, keinen großen Abbruch.
   

Donnerstag, 29. August 2013

Fantasy Filmfest 2013: El desierto (Christoph Behl, Argentinien 2013)

Draußen tobt die Zombie-Apokalypse. Drinnen sitzen Ana, Jonathan und Axel. In einem kleinen heruntergekommenen Haus am Rande einer Stadt, von der nicht viel übrig ist, haben die drei Zuflucht gefunden vor den gefräßigen Horden. Abwechselnd gehen zwei von ihnen raus, schwer bewaffnet und gegen Beißattacken gepanzert, um das Notwendigste, Nahrung, Wasser und Benzin für den Generator im Hof, in den Trümmern der Stadt zu besorgen. Dass Ana und Jonathan ein Paar geworden sind und sich Axel - nicht wirklich heimlich - in seinem Begehren für Ana verzehrt, macht das Leben in der postapokalyptischen Zwangs-WG nicht eben einfacher.
El desierto konzentriert sich ganz auf seine drei Figuren, wobei die Kamera meistens so nah an ihren Körpern ist, dass man sich in den wenigen Räumen, in denen der Film beinahe ausschließlich spielt, nie wirklich eine Orientierung verschaffen kann. Jedenfalls ist alles in diesem Haus, getaucht ins ständige Dämmerlicht, das durch die Milchglasscheiben fällt, vergilbt, verbraucht, abgefuckt. Von der Gegenwart kündet hier außer - bezeichnenderweise - einer Video-Kamera und einigen vollautomatischen Waffen kaum etwas. Die Hitze und die schlechte Luft werden durch das Licht und die allgegenwärtigen Fliegen (deren Summen einen entscheidenden Anteil am bedrückenden sound design des Films haben) beinahe physisch erlebbar.
Das Außen zu diesem Innen existiert gleich in doppelter Hinsicht nicht (mehr). Nicht nur kann man die Einstellungen, die mehr zeigen als die wahrlich beengenden Räume des Hauses und des wiederum durch Mauern streng begrenzten Hofes an einer Hand abzählen. Diese wenigen Einstellungen, die einzigen "echten" Totalen des Films, unscharf und grau, dienen dann auch hauptsächlich dazu, zu zeigen dass es da draußen nichts mehr gibt, wohin man flüchten könnte: ein Schwenk über eine verfallene Skyline, eine Straße, in der sich die Leichenberge türmen, und die zu allem Überfluss noch eine Sackgasse ist. No. Way. Out. Gerade in seiner Inexistenz ist dieses Außen die Vorraussetzung, für die Geschichte im Innen, um die es Behl geht. Die Zombies (oder auch, dazu später: der Zombie) und die Apokalypse sind hier wenig mehr als plot devices in einem wahrlich klaustrophobischen Dreiecks-Beziehungsdrama.   
Zu dem fehlenden Außen gesellen sich die mangelnden Rückzugsmöglichkeiten für die einzelnen Figuren im Inneren des Hauses. Ana hat dafür, mehr schlecht als recht, eine Lösung gefunden. All das an Gedanken und Gefühlen, was jeder einzelne der Gruppe den anderen beiden nicht erzählen kann, erzählt er statt dessen einer Video-Kamera, wobei die jeweiligen Bänder für die anderen unzugänglich aufbewahrt werden.  "Consultorio" hat sie das getauft. Die Kamera als Therapeut. Das Videotagebuch als letzte Form einer Privatsphäre, die es in der Welt des Films eigentlich nicht mehr gibt. In diesen Video-Aufzeichnungen stellen sich nicht nur die drei Protagnisten zu Beginn selbst dem Zuschauer vor, sie erzählen der Kamera, also auch uns, das, was sie einander eben gewiss nicht sagen könnten. So beschwert sich Ana nicht nur über Axels Voyeurismus, über ihren Freund erfahren wir auch: "Jonathan ist Ingenieur. Er fickt auch wie ein Ingenieur."    Diese Sätze unterstreichen nicht nur das Erzwungene in dieser Gemeinschaft, in der man einander, darum geht es, mehr braucht als in so ziemlich jeder anderen vorstellbaren, aber die doch eben gerade dadurch immer Zweckgemeinschaft bleibt, es charakterisiert auch gut Jonathans Rolle im Film. Letztlich steht, allem Anschein der Figurenkonstellation zum Trotz, er als Mann ohne Eigenschaften, eher zwischen den beiden anderen wesentlich interessanteren Figuren. Ana hat nicht nur das Consultorio eingerichtet, sie schreibt auch für jeden Zombie, den sie getötet hat einen Namen an die Wand des Wohnzimmers. Sie versucht also einerseits händeringend Wege zu finden, mit der gegenwärtigen Situation umzugehen, andererseits scheint sie auch an eine mögliche Zukunft zu denken, für die man als Monument den anonymen Toten Namen hinterlässt. (Wer möchte, kann ihre Besessenheit mit Namen auch im Hinblick auf einen, nie ausgesprochenen Kinderwunsch, deuten.) Axel hingegen scheint sich soweit mit dem Verfall - und dessen einziger möglicher Konsequenz - arrangiert zu haben, dass er ihn sich langsam auf seinen eigenen Körper einschreibt, indem er sich diesen vollständig mit Fliegen voll tätowiert. Wenn es keinen Platz mehr für mehr Fliegen gibt, so sagt er, wird er gehen.
Was den Film, und den Ausnahmezustands-Alltag von dem er handelt, strukturiert, sind zum einen die verschiedenen Spiele, mit denen sich die drei abzulenken versuchen, zum anderen die Blicke, in denen Regisseur Christoph Behl das Beziehungsdreieck auflöst. Ausdruck des Begehrens - vor allem natürlich Axels für Anas - sind diese Blicke einerseits, andererseits auch von klar strukturierten Machtverhältnissen. Ana versucht das Machtverhältnis der Blicke um zukehren, indem sie sich vom Objekt von Axels voyeuristischen Blicken, mit denen er sie nackt im Bett und unter der Dusche ansieht, zum Subjekt macht. Ihn, so sagt sie, "obsessiv beobachtet", ihn ständig anstarrt und hinter ihm herläuft bis zur Toilette, wo sie ihm beim Pinkeln auf den Schwanz guckt. Diese Umkehrung gelingt ihr, soviel kann man wohl sagen, ohne zu viel zu verraten, nicht.
Blick, Spiel und Macht treffen sich in dem Blickduell zwischen Axel und Jonathan, bei dem verloren hat, wer zuerst wegguckt. Über dieses Spiel kommt schließlich auch der vierte "Mitbewohner" ins Haus. Beim Flaschendrehen wählt Axel Pflicht und Jonathan fordert, dass er Blickduell mit einem Zombie spielen soll. Diesen bringen die beiden Männer dann tatsächlich von ihrem nächsten Ausgang mit. Der Zombie an der Kette verweist nicht nur direkt auf Day of the Dead (mit Romero hat der Film dann übrigens, so atypisch er als "Zombiefilm" auch sein mag, doch eine ganze Menge zu tun), er liefert auch ein Ventil für die ständig zunehmenden Agressionen zwischen den Figuren. Einen Körper, an dem all die Gewalt, die sich in der Gruppe mehr und mehr anstaut, bis man in dem Haus, so sagt Jonathan gegen Ende und diese Atmosphäre wird auch für den Zuschauer immer mehr greifbar, nicht mehr atmen kann, hemmungs-, reue- und konsequenzenlos ausagiert werden kann.
Behl macht zunächst sehr vieles richtig: Die Intensität, auf die er offensichtlich abzielt, erreicht er über weite Strecken durchaus. Immer wieder werden Konflikte nicht zu Ende geführt, nicht aufgelöst, weil sie in der gezeigten Welt nicht mehr aufgelöst werden können. Einerseits erinnerte mich - nicht nur - das an Lucrecia Martel (ein Einfluss, den mir Behl im anschließenden Q&A auch bestätigte), andererseits werden hier auch geschickt geschürte (Genre-)Zuschauererwartungen ein ums andere mal in die Irre geführt. Mit seinen minimalen Mitteln erzielt er tatsächlich immer wieder maximalen Effekt, oder eher: Affekt.
Ein bisschen ratlos hat mich der Film schließlich denoch zurück gelassen. Die Auflösung trivialisiert das Ganze in seinem Detail- und Anspielungs-reichtum dann doch etwas arg. Auf die Frage eines Zuschauers nach der Botschaft seines Films wollte Behl natürlich keine Antwort geben, verwies darauf, dass das Aufgabe der Zuschauer bzw. Kritikers sei, es aber wohl einiges zu entdecken gäbe. Vom Ende her betrachtet ist die "Botschaft", die sich mir erschließt, dass drei einer zu viel sind und auch in der absoluten Extrem-Situation letztlich nicht zusammenwächst, was nicht zusammen gehört, die materiellen und emotionalen Abhängigkeiten innerhalb des Trios keine Grundlage für irgendwelche "gesunden" Beziehungen bieten. Das ist dann irgendwie doch ein recht minimales Ergebnis bei maximalem Affekt-Aufwand.

Den Namen des in Argentinien lebenden deutschen Regisseurs Christoph Behl, der hier nach einem Kurzfilm und einigen Dokus sein Langfilm-Debüt vorlegt, kann man sich aber wohl trotzdem getrost merken.    

Montag, 19. August 2013

Resümee: Lateinamerikanische Filmtage

Leider habe ich es nur geschafft, mir drei der sieben Filme aus sieben verschiedenen Ländern Lateinamerikas anzusehen, die vom 8.-16. August in der HU zu sehen waren: den argentinischen Pizza, birra, faso, den chilenischen La nana und den guatemaltekischen Cápsulas. Ersteren fand ich ziemlich gut, zweiteren ziemlich zwiespältig und den letzten, bei allem Respekt für seine filmhistorische Bedeutung als erster Film einer Regisseurin aus Guatemala, leider ziemlich schrecklich.
(Ob sich unter den anderen vier Filmen für meinen bescheidenen Filmgeschmack Meisterwerke befanden, kann ich natürlich ebenso wenig sagen, wie, inwieweit sie sich in die gemeinsamen Tendenzen, die ich hier kurz skizzieren möchte, einreihen lassen.)
Die Veranstalter/innen der Reihe betonten, dass das Thema Gewalt in allen Filmen auf sehr unterschiedliche Art eine Rolle spielte.

Die Protagonisten von Adrián Caetanos Pizza, birra, faso, eine Gruppe von Straßenkindern in Buenos Aires, die notdürtig in einem besetzten Haus Unterschlupf gefunden haben, sind immer zugleich Objekt und Subjekt der Gewalt. Einerseits sind sie Opfer der Marginalisierung, staatlicher Repressionen und der Ausbeutung derjenigen, die sich ihre Notlage zu Nutzen machen, um sie als "billige" Handlanger in ihre kriminellen Aktivitäten einzubeziehen, andererseits sind sie Täter, weil sie eben die Gewalt in Raubüberfällen zu ihrem Geschäft machen, um sich Geld fürs Überleben, was für sie vor allem bedeutet, für die titelgebenden Pizza, Bier und Zigaretten zu beschaffen. Trotz der für ein Erstlingswerk durchaus verzeihlichen Schwächen in Dramaturgie und Figurenzeichnung, ein in der Radikalität seiner Botschaft ebenso wichtiger wie bewegender Film. Wie in seinen späteren Filmen benutzt Caetano schon hier Mittel und Versatzstücke des Genre-Kinos zu seinen eigenen Zwecken. Der letzte Coup, der den Ausbruch aus dem bisherigen Leben ermöglichen soll, muss hier, wie in wohl Hunderten von Gangster-Filmen zuvor, scheitern, weil man eben die Spirale der Gewalt nicht mit Gewalt durchbrechen kann. Die sozialen Hierarchien bleiben undurchdringlich. Der Weg aus der Ersatzfamilie der Gang in die traditionelle Familie bleibt seinen Protagonisten auf tragische Weise verwehrt. (Wobei es schon beeindruckend ist, wie es Caetano in der letzten Einstellung, wie auch in seinem späteren Meisterwerk Bolivia, versteht, dieser Tragik jedes Pathos zu nehmen und sie in ihrer ganzen bösen Banalität zu zeigen.) Wie in Pizza, birra, faso spielt auch in den anderen Filmen neben der Gewalt - und eng mit dieser verbunden - die Familie eine zentrale Rolle.
Sebastián Silvas La Nana, so anders der Film stilistisch und thematisch auf den ersten Blick auch sein mag, erzählt letztlich von einer ähnlichen Verbindung von Marginalisierung und Gewalt. Raquel arbeitet als Nana, was im chilenischen Spanisch Hausangestellte bedeutet, im Haus einer Familie aus der Oberschicht von Santiago de Chile. Diese gutbürgerliche Residenz übrigens, die der fast ausschließliche Schauplatz des Films ist, wird bei Silva ebenso zu einer Art eigenständigen Protagonisten wie das - überwiegend nächtliche - Buenos Aires mit seinen frappierenden sozialen Gegensätzen bei Caetano. Allerdings sind die Beziehungen zwischen oben und unten, die Mechanismen der Ab- und Aus-Grenzungen in diesem Haus wesentlich komplexer und subtiler als in der Stadt in Pizza, birra, faso. Die reine Segregation der ersten Szenen (Raquel isst in einem Zimmer, die Familie in einem anderen) ist absichtlich trügerisch. Die starke Konzentration auf seine Titelfigur ist zugleich Stärke des Films und sein größtes Problem. Raquel, von Catalina Savedra durchaus beeindruckend gespielt, scheint sich vollkommen für ihre Arbeit aufzuopfern, alle Verbindungen zu ihrer Herkunft, was auch und vor allem bedeutet: ihrem sozialen Status kappen zu wollen, um ganz zu der Familie zu gehören, für die sie arbeitet. Aber sie lebt doch in dem ständigen Bewusstsein, nie ein vollwertiges Familienmitglied, nie Gleiche unter Gleichen zu sein. Das Mitleid, das eine solche Situation beim Zuschauer hervorrufen könnte, unterwandert der Film geschickt, indem er die unbarmherzige Gewalt zeigt, mit der Raquel ihren Status verteidigt. Als die Hausherrin ihr eine zweite Angestellte zur Seite stellen will, um sie zu entlasten, weiß Raquel diese, die sie als reine Konkurrentin empfindet, mit einem Sadismus, der des öfteren über reine Zweckdienlichkeit hinausgeht - und dabei auch mal ins Komische kippt - zu vergraulen. Dass die Fokusierung auf Raquel und ihre Befindlichkeit eine tiefergehende Analyse der psychologischen Dynamik zwischen Bediensteten und Herrschaften, wie sie sich etwa in Lucrecia Martels La Ciénaga findet, verhindert, dass der Film letztlich eher persönliche Psychopathologie sieht, wo es doch eindeutig soziales Unrecht gibt, ist das Eine. Schlimmer ist jedoch seine Lösung des Problems in Form von Lucy, die künftig mit Raquel zusammenarbeiten soll, und ihr genaues Gegenteil ist: humorvoll, lebensbejahend, fest in ihrem eigenen Leben verankert. Indem sie auf Raquels Aggression mit Liebenswürdigkeit und Humor reagiert, gewinnt sie bald ihre Zuneigung. Wenn diese Deus-ex-machina-Figur schließlich wieder verschwindet, deutet die letzte Szene - mehr oder weniger - zaghaft an, dass sich auch Raquel verwandelt hat, zumindest ein bisschen von Lucy auf sie abgefärbt hat. Nur, was soll uns das sagen? Dass sich mit der richtigen Einstellung jede Biographie aushalten lässt? Auch die der ewigen Dienerin. Anstatt die Machtverhältnisse, die er darstellt in Frage zu stellen, setzt der Film also schließlich auf falsche Versöhnlichkeit.
Die Zweideutigkeit des Titels Cápsulas, Verónica Riedels Debutfilm, verweist letztlich schon auf zwei Formen der Gewalt: die der Drogenkriminalität und die der dysfunktionalen Familie. Einerseits bezieht er sich auf die Kapseln, in denen Drogen durch Guatemala - und ganz Mittelamerika - von Süd nach Nord geschmuggelt werden, andererseits verweist er auch auf den abgeschlossenen Raum einer Familie. Anhand einer wirklich reichlich dysfunktionalen Familie versucht der Film vom Schicksal einer ganzen Weltregion zu erzählen, die langsam in der Welle der mit dem Drogenhandel in Verbindung stehenden Gewalt zu ertrinken droht. Allein diese Prämisse ist wohl schon, sagen wir, das Gegenteil einer guten Idee, das sich in Klischees geradezu suhlende Thriller-Rührstück, das die Regisseurin dann aus dieser Idee macht, strotzt jedoch fast jeder Beschreibung. Im Mittelpunkt steht der zwölfjährige Fonsi. Seine Mutter Lupe hat einst seinen Loser-Vater, der übrigens zwischenzeitlich vom Alkoholismus zu esoterischem Gaga-Hippietum konvertiert ist, verlassen und ein Arschloch geheiratet, das es (leider muss man in diesem Film fragen: wie sonst?) durch Drogenhandel zu beträchtlichem Reichtum gebracht hat, um ihrem Sohn ein "gutes Leben" zu ermöglichen. Um das Figuren-Repertoire aus dem Stereotypen-Bilderbuch abzurunden, kommt zu dieser Familie, die der Hausangestellten, hauptsächlich deren Kinder, die tun was Ghetto-Kids eben tun: rappen, sich die Arme voll tätowieren, Drogen nehmen und verkaufen und mit allerlei Waffen rumfuchteln. (Auch wenn die Figurenzeichnung etwas ist woran Pizza, birra, faso letztlich eher kränkelt, ist der qualitative Unterschied in der Darstellung der Jugendlichen aus den Slums hier und dort doch absolut frappierend.) Fonsi hat ein Hobby. Er zeichnet die Baller-Spiele mit seinen Freunden auf und verarbeitet diese Aufzeichnungen mit computergenerierten Blutfontänen zu Ego-Shooter-Videoclips. Aus diesen - kein bisschen unschuldigen - Spielen im Garten am Anfang, wird am Ende im großen Show-Down im Wald blutiger Ernst. (Man bemerke die Transformation der simulierten in reale Gewalt, aus Spielzeug- werden echte Pistolen, aus CGI- echtes Blut, aus dem "künstlichen" Schlachtfeld des Gartens, das "echte" des Waldes.) Jedenfalls werden schließlich im melodramatischen Suspense-Modus, der mich in seiner Möchtegern-Virtuosität irgendwann nur noch genervt hat, die Konflikte und Traumata ausagiert, dass es nur so seine Art hat. Supertough will das alles sein und trotzdem auf eine Happy End hinaus, dass der Plot und die, nun ja, Figuren beim besten Willen nicht hergeben. Mit der Realität der schrecklichen Zustände, die in Mittelamerika herrschen und jeden Tag Hunderte von Menschenleben fordern, hat dieser Film wohl in etwa so viel zu tun wie Fonsis Clips mit realer Gewalt.

Zu Pizza, birra, faso werde ich, sobald ich die Zeit dazu finde, noch einen eigenen längeren Text schreiben.

Ausserdem möchte ich den schönen Abend, an dem ich nach La nana mit Georg und Matias, kettenrauchend am Spreeufer saß und wir uns über den Film, Frauen, Männer, Gott und die Welt unterhielten an dieser Stelle noch kurz erwähnen.

Samstag, 17. August 2013

El abrazo partido (Daniel Burman, Argentinien 2004)


"Eine Einkaufspassage trügt. Für die Kunden sind wir nur Verkäufer, die nach Ladenschluss verschwinden. Aber wir wissen, dass wir viel mehr sind, dass es hinter unseren Schaufenstern, die eine oder andere Geschichte gibt, die, auch wenn sie vielleicht nichts besonderes ist, doch wert ist, erzählt zu werden." Mit diesen Worten führt - das ist wörtlich zu verstehen - Ariel, Protagonist und Voice-over-Erzähler, uns in den Film und die Einkaufspassage, die Hauptschauplatz von El abrazo partido und seines Lebens ist. "Die Einkaufspassage" heißt auf spanisch "La galería" und so lautet auch der erste der Zwischentitel, die den Film gliedern. In dieser Exposition (was eben auch "Ausstellung" heißen kann) führt uns Ariel Makaroff (Daniel Hendler) durch die Passage wie durch eine Galerie, in deren chaotischen und hoffnungslos überfrachteten Räumen hauptsächlich Menschen ausgestellt werden. Ariel charakterisiert diese Menschen vor allem durch ihre ausgeprägten Idiosynkrasien: die ewig rumschreiende italienische Großfamilie (der Mann repariert Radios, die Frau schneidet Haare), das koreanische Paar, das Feng Shui "verkauft" und von dem man sonst nichts weiß bzw. versteht, die beiden jüdischen Händler, die sich in breitem argentinisch mit eingestreuten jiddischen Vokabeln über die mangelhafte Qualität von Stoffen auslassen, die nicht mehr ganz junge aber ebenso attraktive wie aufreizende Rita, die ein Internet-Café betreibt, der Schreibwarenhändler, der nicht nur Papier verkauft, sondern selbst ein vollkommen unbeschriebenes Blatt zu sein scheint, ein Mensch ohne Präsenz, ohne Geschichte, ohne Irgendwas. Dann Ariels Bruder Joseph, der Dinge, die nun wirklich niemand braucht aus der ganzen Welt importiert, was auf Grund der Dollar-Kurse allerdings gerade nicht läuft. Schließlich ist da Ariel, der seiner Mutter Sonia in ihrem Dessousgeschäft hilft.
Von gängigen Klischees ist das alles, diese Figuren wie der Mikrokosmos, den sie bevölkern, und der ziemlich überdeutlich für das große Ganze der zu Beginn dieses Jahrhunderts reichlich gebeutelten argentinischen Einwanderergesellschaft steht, zunächst schwer zu unterscheiden.
Einerseits macht der Film von Anfang an mit seinem atemlosen Tempo und seiner detailversessenen Lust am Anekdotischen ziemlich viel Spaß, hat man die komischen Vögel, die einem hier vorgestellt werden - Klischees hin oder her - auf Anhieb ziemlich gerne. Andererseits ist der Blick auf diese Welt von Anfang an ein radikal subjektiver und wenn Ariel zwar behauptet, sich für das zu interessieren, was hinter den Schaufenstern passiert und zunächst doch nur ein sehr oberflächliches stereotypes Bild abliefert von den Menschen, mit denen er sich jeden Tag umgibt, liegt das wohl daran, dass er einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um sich wirklich für sie zu interessieren.
Ariel hat sich von seiner langjärigen Freundin Estela getrennt, weil ihm die feste Bindung wie eine Falle vorkam, nach der das Leben nichts weiter als grauen Alltag zu bieten hat. Ablenkung bietet Ariel der gelegentliche betont verspielte und unverbindliche Fick mit Rita, deren liebste Zeitangabe, eines dieser reizenden Burman-Details, "manchmal" ist. Ansonsten besteht sein Lebensziel darin, "Pole zu werden". "Pole sein" wie ein weiterer Zwischentitel des Films lautet, ist ein überdeterminierter Begriff. Zunächst bedeutet es einfach, dass Ariel die polnisch-jüdischen Wurzeln seiner Familie, die einst vor dem Nazi-Terror nach Argentinien flüchtete, nutzen möchte, um die polnische Staatsbürgerschaft zu erhalten, die ihm die Tür nach Europa öffnen soll. Dann ist dieses "Pole (Europäer) werden" auch ein ebenso treffender wie sarkastischer Ausdruck für die einzige Lebensperspektive, die sich Ariel, wie vielen jungen Menschen in den ärmeren Ländern dieser Erde bietet: die Migration. Schließlich ist es Ausdruck von Ariels grundlegendem Identitätskonflikt. Sein Vater Elias ist unmittelbar nach Ariels Geburt nach Israel gegangen, um im Jom-Kippur-Krieg zu kämpfen. Gerade in seiner Abwesenheit ist der Vater, über den Ariel kaum etwas weiß, für ihn auf sehr ambivalente Art allgegenwärtig. Als Ich-Ideal einerseits, als Projektionsfläche nie ausagierter ödipaler Aggression andererseits. Die Entfremdung vom Vater spiegelt sich sich für Ariel auch in seiner Entfremdung von der jüdischen Kultur, von deren Traditionen und Ritualen man in El abrazo partido, wie schon in Burmans Esperando al mesías (2000), eine Menge zu sehen bekommt, allerdings eben aus der subjektiven Perspektive Ariels, für den sie immer ein Stück weit fremd - und befremdlich - bleibt.   
Die Prämisse des Films ist letztlich trivial, da jeder Mensch nicht nur eine Geschichte hat, sondern auch Produkt dieser Geschichte ist, durch einen bestimmten sozialen und historischen Kontext geprägt wurde, kann man anhand eines Mikrokosmos, in dem Menschen aus der ganzen Welt zusammenarbeiten auch ein kleines Stück Weltgeschichte erzählen. Treffen sich nicht nur verschiedenen Kulturen, sondern auch Geschichte und Gegenwart, die onto- und phylogenetischen Traumata und Krisen von gestern und heute. Das wunderbare an Burmans Film ist, wie er für diesen Inhalt eine Form findet. Die Konzentration auf das Kleine spiegelt sich in (fast) jeder Einstellung. Die oft stark wackelnde Handkamera ist immer nah an den Figuren. Die Totalen in diesem Film kann man wohl an einer Hand abzählen. Von Buenos Aires sehen wir in den ohnehin spärlich gesäten Außenaufnahmen kaum mehr als Köpfe und Schultern. Zusammen mit den häufigen Jump-Cuts drückt die unruhige Kameraführung nicht nur die Spannungen in Ariel selbst und zwischen ihm und den anderen Figuren, vor allem seiner Mutter, aus, die Unmöglichkeit des Zuschauers, sich in den Räumen des Films zu orientieren verdeutlicht zugleich die Orientierungslosigkeit Ariels in seinem Leben.
Am Ende gibt es eine erneuten Rundgang durch die Einkaufspassage, die sich verändert hat, nicht nur, weil einige gegangen, andere gekommen sind, sondern auch, weil Ariel seinen Platz in diesem Mikrokosmos gefunden hat. Das Coming-of-Age wird hier nicht nur erzählt als Aussöhnung mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Umfeld, sondern auch als Schärfung des Blickes auf die Umwelt, als Willen tatsächlich den Menschen hinter der Fassade/dem Schaufenster/dem Klischee zu erblicken. All das mag reine Utopie sein, aber es ist eine schöne Utopie. Am versöhnlichen Pathos der letzten Einstellung, im Gegensatz zur Hektik des vorangegangenen Films betont ruhig und klar, in Zeitlupe, ist kein Falsch.


 Damals der erste Burman, den ich gesehen habe und für mich übrigens in vielerlei Hinsicht eine "Premiere": der erste Filme, den ich in einer Presse-Vorführung sah und einer der ersten, zu denen ich eine Kritik geschrieben habe. Inzwischen kenne ich einige andere Filme des Regisseurs, aber El abrazo partido ist für mich, nach wie vor, mit Abstand sein schönster.

Dienstag, 16. Juli 2013

Días de mayo (Gustavo Postiglione, Argentinien 2009)



Am Anfang und am Ende des Films sitzt eine Frau auf der Brüstung einer Brücke und blickt hinab in die Tiefe. Dazwischen liegen drei Monate, Mai, Juni und Juli 1969, in Rosario, Argentinien, wo sich im sogenannten Rosariazo ein Bündnis aus Arbeitern und Studenten gegen die Diktatur unter de facto-Präsident Juan Carlos Onganía auflehnte. Die Aufstände, bei denen sich die Polizei immer wieder zurückziehen musste, wurden schließlich vom Militär niedergeschlagen. Zwei Demonstranten wurden erschossen. Dazwischen liegt das Gemälde einer Epoche, der späten Sechziger, in Schwarzweiß und Cinemascope. Dazwischen liegt schließlich eine Liebesgeschichte. Laura, die Frau auf der Brücke, flüchtet nach einer Demo, gemeinsam mit dem Arbeiter Miguel und Pablo, Kameramann bei Film und Fernsehen, in die Wohnung von Pablos Familie. Die Drei freunden sich an. Laura und Pablo verlieben sich.
 Días de mayo, der Film des aus Rosario stammenden Regisseurs Gustavo Postiglione, der im Mai 2009, also genau vierzig Jahre nach den Ereignissen, die er beschreibt, in die argentinischen Kinos kam, geht es letztlich darum, wie diese drei Elemente, das konkrete geschichtliche Ereignis, sein größerer politischer und kultureller Kontext und schließlich die fiktive Liebesgeschichte zusammenpassen - oder eben auch nicht. Denn Postiglione ist sichtlich eher darum bemüht, Widersprüche darzustellen, als sie aufzulösen. Das wird schon daran evident, wie der Film die Zeit, in der er spielt, darstellt. Das Bild der späten Sechziger als Schlachtengemälde, in dem der Kampf von Menschen oder Ideologien aufgelöst wird in einen Kampf widersprüchlicher Zeichen. Molotow-Cocktail und Panzer, Marx und Coca Cola, Godard und Solanas, Rock und Minirock, Perón und Evita und Pariser Mai und Beatles und Gras und Vietnamkrieg und Mondlandung. Was diese Zeichen im Einzelnen - sei es als intertextueller Verweis oder zeithistorischer Kommentar - bedeuten könnten, spielt dabei kaum eine Rolle. Eben dadurch, dass sie in erster Linie in ihrer Gesamtheit auf eine historische Epoche verweisen, erzählen sie vom Scheitern der Aufbruchstimmung der späten Sechziger daran, so die These des Films, dass es nicht gelang, diese Widersprüche zu vereinen.
Dabei wird auf die Beziehung zwischen Laura und Pablo zunächst wesentlich größeres Augenmerk gelegt, als auf ihren geschichtlichen Kontext. Viel erfahren wir über die inneren und äußeren Beweggründe und Konflikte der Figuren, relativ wenig über den Verlauf des Rosariazo oder seinen politischen Hintergrund. Dennoch ist der Film mehr als ein Melodram vor historischer Kulisse.
Georg Seeßlen schreibt über das Genre des Melodram, es kritisiere "die Gesellschaft im Namen des individuellen Glücks, das nichts als sich selber will. Es ergreift Partei für das jeweils kleinere System in der sozialen Struktur: für die Gemeinde gegen die Gesellschaft, für die Familie gegen die Gemeinde, für das Individuum gegen die Familie." Einerseits könnte man Días de mayo durchaus als Melodram begreifen insofern, als der Film letzlich vom Scheitern des Kleinen am Großen, einer Liebesbeziehung an ihrem gesellschaftlichen Kontext, erzählt. Andererseits unterminiert der Film die Dichotomien des Melodrams, nicht nur, indem er das Politische konsequent ins Private verlagert, sondern auch, indem er zu zeigen versucht, wie beides immer schon zusammenhängt. Die politischen Grabenkämpfe Argentinien dieser Epoche werden, vielleicht mehr noch als auf der Straße, am familiären Essenstisch ausgetragen. Lauras Vater, ein wohlhabender Ingieneur, pflegt Verbindungen zu Regierung und Militär, zu genau denjenigen also, die das Leben seiner Tochter schließlich bedrohen werden. Er wiederum wirft der Tochter ihre Sympathien für Perón vor, der, so sagt er, Leute wie ihn am liebsten erschießen würde.
Auch die Spaltung in Lager innerhalb der Widerstandsbewegung wird im Figurenrepertoire abgebildet. "Glaubst du an die Revolution?" fragt Laura Pablo relativ zu Beginn des Films und er antwortet, dass in seiner Wohnung alles geteilt werde, dass der Kommunismus hier funktioniere. Der Widerstand gegen die bestehende Ordnung wird so in ein Innen und ein Außen aufgeteilt, wobei, in Umkehr traditioneller Geschlechterrollen, das Außen mit der weiblichen und das Innen, auch der typische Handlungsort des "Frauengenres" Melodram, mit der männlichen Hauptfigur verbunden scheint. Wie schon in den ersten Szenen angelegt, wechselt der Film beständig zwischen Innen- und Außenaufnahmen. Wo die Rahmung der Geschichte durch die Bilder von Laura auf der Brücke ihr Scheitern verdeutlicht, gibt es gewissermaßen einen Binnenrahmen, in dem es um das Scheitern von Pablos Rückzugsstrategie geht. Während zu Beginn die Flucht vor den Schergen der Diktatur in die eigenen vier Wände noch gelingt, dringen schließlich gegen Ende Soldaten in Pablos Wohnung ein, auf der Suche nach kompromittierendem Filmmaterial, das Pablo während einer Demo aufgenommen hat. Der Rückzug ins Private wird von der Diktatur einerseits forciert ("kümmert euch um euren eigenen Scheiß, sonst kümmern wir uns um euch!"), andererseits verunmöglicht, sobald das Innen dem Außen gefährlich werden könnte.
Schließlich werden auch die Widersprüche innerhalb der Figuren selbst - allen voran Laura - thematisiert. Das einzige konkrete, was man über die "Revolution" von der sie träumt erfährt, ist ihre Sympathie für Dikator und Nazifreund Perón. Nicht nur finanziert sich Laura mit dem Geld aus dem, wie dieser sagt, "materialistischen und bürgerlichen Portemonnaie" ihres Vaters, auch sonst scheint sie schon fest in der bildungsbürgerlichen Welt ihrer Eltern verankert. Ob Postigliones Standpunkt zum Scheitern der Bewegung, nicht zuletzt an ihren entweder gar nicht vorhandenen oder äußerst fragwürdigen (Perón!) Positionen letztlich im Dienst einer neo-konservativen Agenda steht oder ob er aus linker Perspektive konstatiert, dass es eben nicht gelungen ist, gründlich genug mit dem "Establishment" zu brechen, bleibt letztlich relativ offen.
Ich denke jedoch, dass das entscheidende Problem des Films nicht "politischer", sondern ästhetischer Natur ist. Was die "neuen" Kinematographien, die ab Ende der Fünfziger Jahre an verschiedenen Orten der Welt aufkamen und die auch die Bewegung Ende der Sechziger beeinflußten (in Días de mayo wird dieser Einfluß etwa an einem Poster von Godards Alphaville in Pablos Wohnung deutlich), verbindet ist wohl, dass sie nicht nur versuchten, tradierte Erzählungen im Kino zu überkommen, sondern auch mit den tradierten Erzählmechanismen des Kinos zu brechen. Die Rebellion im Kino, war immer auch eine Rebellion gegen das Kino - in seiner herkömmlichen Form. Ula Stöckls Film Neun Leben hat die Katze etwa - ein einigermaßen beliebiges Beispiel, das ich hier nur anführe weil ich ihn gestern gesehen habe - etwa erzählt nicht nur für die Zeit wohl auf tatsächlich neue Weise von der Rolle von Frauen in der Gesellschaft bzw. der Rolle, die die Gesellschaft Frauen zugedenkt, sie findet dafür auch zum Teil sehr verstörende Bilder und bricht immer wieder mit den Regeln filmischer Illusionserzeugung. Die Form bei Postiglione hingegen ist reine Gefälligkeit: romantisierendes Schwarzweiß, genau kadrierte Bilder, elegante Plansequenzen. Wo es in Días de mayo inhaltlich vielleicht tatsächlich um eine kritische retrospektive Auseinandersetzung mit den Geschehnissen der späten Sechziger geht, vermittelt die Form reine Nostalgie.


(Eigentlich überflüßig zu erwähnen, dass das Scheitern eines eben nicht wirklich gelungenen Films wie Días de mayo allemal interessanter ist als etwa ein deutscher Baader-Meinhoff-Geschichts-Porno...)