Die Tradition meines "Movie of the Week" ist im Dezember etwas eingeschlafen. Diese wieder aufzugreifen scheint mir ein schöner - und durchführbarer - Vorsatz fürs neue Jahr. Ich wüsste nicht, mit welchem Film ich das lieber täte, als mit Stars in my Crown, vielleicht der wunderbarste unter den wunderbaren Tourneur-Western, die ich in letzter Zeit gesehen habe.
Zu Beginn führt uns ein Voice-Over durch Walsburg, ein Städtchen in Tennessee, in der Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Nostalgisch verklärt die Stimme aus dem Off den Schauplatz des Films als eine - ganz persönliche - goldene Stadt der Kindheit. Hier wächst der junge John (Dean Stockwell) bei seinem Onkel Gray, dem örtlichen Pfarrer (Joel McCrea), und dessen Frau Harriett (Ellen Drew) auf. Die eigentliche Hauptfigur des Films ist jedoch Walsburg selbst.
Zwei zentrale Konflikte werden eingeführt - allerdings erst nach und nach, ganz langsam. Zum einen ist da Uncle Famous (Juano Hernandez), ein Schwarzer mit einem kleinen Stück Land, das für einen örtlichen Minenbaron von großem Interesse ist, wegen der Mineralien, die sich im Boden befinden. Als sich Famous weigert, zu verkaufen, rückt ihm der Minenbesitzer und seine berittene Meute immer unerbittlicher auf den Leib. (Es geht dabei, wohl gemerkt, nicht um Rassismus. Auch wenn die Männer am Ende einen Lynchmob in weißen Kapuzen mit brennendem Kreuz und Schlinge formieren, gibt es keine Anspielungen auf die Hautfarbe des Farmers. Der Film macht sichtbar, dass hier, wie in allen kolonialistischen Projekten - und was ist diese Art der gewaltsamen Landnahme sonst? - hinter dem Rassismus Profitinteressen stehen.) Zum zweiten ist da der Konflikt zwischen Gray und dem örtlichen Arzt (also Religion vs. Wissenschaft). Jedoch tritt alles offensichtlich Allegorische hinter der Lust am Erzählen, am Erschaffen eines fiktiven Ortes zurück. Auch ist die Dramaturgie so geschickt, dass man sie kaum bemerkt. Diese zwei Handlungsstränge werden so entwickelt, eine Zeit lang ruhen gelassen und wieder aufgegriffen, dass sie eben das Gefühl aufrecht erhalten, es ginge um die Entwicklung eines Ortes, nicht eines Plots.
In Stars in my Crown zeigt Tourneur seine ganze Meisterschaft, dass er nicht nur wie gerne behauptet wird, ein Hollywood-Routinier war, sondern einer, der, mit den Worten Frieda Grafes, "in Hollywood alle Genres durchgemacht und auch beherrscht [hat]. Mit kleinen französischen Glanzlichtern."
Kleine inszenatorische Glanzlichter sind auch die Szenen, die diesen Film so unvergesslich machen.
Da ist die Verwüstung der Hütte und der Felder von Uncle Famous. Die schnell hintereinander geschnittenen Einstellungen von den Berittenen als dunkle Schatten auf dem Feld, von den alles zertrampelnden Beinen der Pferde. Montage, Kadrierungen und Musik verbinden sich perfekt zu einer höchstmöglichen Dramatik.
Da ist der Zauberer, der mit seiner Show nach Walsburg kommt (übrigens mit als Indianer verkleideten Schwarzen auf der Bühne.) Wenn die Kamera über die strahlenden verzückten Gesichter seines jungen Publikums wandert, sind das, neben denen in Por primera vez, die schönsten derartigen Aufnahmen, die ich kenne.
Da ist der schwedische Farmer, ein Freund Grays, der eine ganze Schar großgewachsener strohblonder Söhne hat, die in einer Einstellung, in der sie sich alle um ihren Vater versammeln, den Bildkader fast zu sprengen scheinen. (Mindestens genau so grandios ist eine Einstellung später, in der er sie, einen nach dem anderen per Namen aus dem Bild kommandiert.)
Schließlich ist da die Auflösung, die auf großes Versöhnungs-Pathos setzt. Auch wenn der Film ehrlich genug ist, das religiöse Befriedungsprojekt des Pfarrers durch bewaffnete Männer, die sich im Hintergrund halten, abzusichern, reicht doch der Appell ans Gewissen, um einen entfesselten Lynchmob von seinem mörderischen Vorhaben abzuhalten. Natürlich ist das ziemlich naiv, aber es ist eben die Art von Naivität, die das populäre Kino in´seinen schönsten Momenten auszeichnet.
(Die ihm allerdings in den letzten Jahrzehnten relativ gründlich abhanden gekommen zu sein scheint.)
Ach, und schließlich ist auch toll, dass es nicht, wie Poster und Tagline suggerieren, um einen Pfarrer geht, der das Wort Gottes mit schwerer Artillerie predigt. Ein einziges Mal zieht McCrea zu Beginn seine Revolver, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, aber ohne zu schießen. In keiner der späteren Szene trägt er sie überhaupt.
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Montag, 13. Januar 2014
Dienstag, 19. November 2013
Movie of the week 8: Yankee (Tinto Brass, Italien, Spanien 1966)
"Einer, der Portraits sucht, um Rahmen zu verkaufen." So nennt Concho (Adolfo Celi), der große Schurke, einmal den Mann, den sonst alle nur Yankee nennen (Philippe Leroy). Diese geheimnisvollen Worte führen direkt zur Essenz des Films, in dem es um Portraits geht, um Bilder, um Rahm(ung)en. Ein Film, der das Genre dekonstruiert, indem er seine Bilder überhöht, verzerrt, rahmt und - in ihrer ganzen Bild-Haftigkeit - ausstellt. Eine groteske Galerie des Italo-Western.
Zunächst, im Saloon, eher implizit. An den Objekten und Körperteilen, die in Großaufnahme ins Bild gerückt werden - ein Flintenlauf, Augenpaare, fast das Dekoltee sprengende Frauenbrüste, ein Bündel Geldscheine, Spielkarten - ist der Fetischcharakter längst wichtiger, als ihre - sowieso rudimentäre - narrative oder dramaturgische Funktion. Dazu Ausleuchtung und Farben von exquisiter Künstlichkeit und die Schauspieler, die ihre - denkbar obskuren - Dialoge eher zu rezitieren scheinen, als dass sie sie sprechen würden.
(Auch großartig: der Vorspann. Die Sonne, ein roter Feuerball im Hintergrund, taucht das ganze Bild in Orange, im Vordergrund Ähren, dazwischen Yankee, der, als Schatten auf seinem Pferd, für die Kamera posiert und gar nicht so tut, als würde er etwas anderes machen, als eben das: für die Kamera posieren.)
Später dann, im Sheriffs-Office und der Kirche, in der sich die Banditen um Concho häuslich eingerichtet haben, explizit. Zwei Galerien sind das. Die erste zeigt Steckbriefe ("hässliche Visagen, aber hübsche Summen"). Die zweite eine Vielzahl von Portraits von Concho, mit denen er sich - Norma Desmond-like - umgibt - und die übrigens an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten sind.
Bei dem Kampf, der sich zwischen Yankee und Concho entspinnen wird, scheint es um nichts anderes zu gehen als um Bilder und die Verfügungsgewalt über sie. Yankee besucht die Bleibe seines Widersachers nachts, als dieser nicht zuhause ist. Er lässt nichts als leere Rahmen zurück. Das Badezimmer, in dem er Conchos Frau Rosita (Mirella Martin) in der Wanne antrifft, leuchtet rot gestrichen, mittig im Bild, während es ausserhalb des Rahmens der Tür, durch den gefilmt wurde, nur tiefe Dunkelheit gibt. Rosita übrigens lächelt den Mann nur an, der mit gezogener Pistole vor ihr steht, erwartungsvoll, wissend. Das Frauenbild. Außer ihr entwendet Yankee auch noch die vielen Abbilder ihres Mannes, schneidet sie aus den Rahmen, um sie an den Wänden der Stadt aufzuhängen. Darüber, nicht etwa über die Entführung seiner Frau, ist Concho so erzürnt, dass er die Bilder mitsamt den Wänden, Häusern, Frauen, Männern und Kindern, niederschießen und niederbrennen lässt. Die ganze Stadt in ein Bildnis des Höllenfeuers verwandelt. Brüllend verspricht er, das ganze Land mit Steckbriefen von Yankee pflastern zu lassen. Dann die Schießerei, zehn Minuten lang, in einem verlassenen Dorf, dessen Gemäuer mit ihren sinnlosen Fenstern und Türen zu nichts weiter dienen, als das Bild und die Figuren in ihm, die lebenden zuerst, später dann auch die toten, - manchmal gleich mehrfach - zu rahmen. Yankee gerät, wie es den Protagonisten eines Italo-Westerns im vierten Akt nun mal geschieht, in Gefangenschaft der Banditen. Concho erschießt Rosita. Tot liegt sie auf dem Boden, ihr Gesicht in Großaufnahme von oben, ein pittoresk gestalteter Blutfleck neben ihrem Mund. Yankee wird eingerahmt in einem Ring aus Feuer. Einen Menschen zu töten, bedeutet in diesem Film offenbar ein Bild von ihm zu machen, ihn in ein Gemälde zu verwandeln.
Mit politischen Lesarten des Films sollte man vorsichtig sein. Gewiss, überbordend ist die religiöse Symbolik. Einmal wird ein Gelage der Banditen als letztes Abendmahl inszeniert. Die Schurken haben mit "echten" Faschisten nicht nur die - oft willkürliche - Grausamkeit gemein, sondern auch die Bild-Besessenheit. Außerdem geht es ja auch irgendwie noch um Geld und Gold - auch wenn deren Wert hier eindeutig unter dem der Bilder zu stehen scheint -, was auch ein Bindeglied zwischen den vorigen Elementen sein könnte. Wer das alles jedoch zu voreilig beim Wort nimmt, ist im falschen Film oder zumindest auf der falschen Ebene der Repräsentation. Brass kritisiert nicht, er rahmt und stellt aus, zeichnet vielleicht Studien zu einer Kritik - woran auch immer.
Als Genre-Film, als narratives Unterhaltungskino also, funktioniert Yankee nur sehr bedingt. (Deshalb nimmt es kaum Wunder, dass der Produzent den Film - ich nehme an mit einigem Entsetzen und ziemlich radikal - umschneiden liess.) Als wahnwitziges Experiment im karikaturesken Genre-Gewand jedoch, ist er nicht nur großartig, sondern wahrscheinlich auch ziemlich einmalig. (Deshalb ist es umso löblicher, dass die Spaghetti-Western-Aficionados bei Koch Media ihn erstmals in seiner ursprünglich von Brass geplanten Form rekonstruierten und auf DVD veröffentlichten.)
P.S. Tinto Brass, später durch seine Sex-Filme berüchtigt geworden, hat nie wieder einen Western gedreht. Wie zum Teufel hätte der nächste denn auch aussehen sollen?
P.P.S. Schon erstaunlich, wie viel man aus diesem Film kennt - und zwar aus ungleich bekannteren, aber später entstandenen Western. Dass zu Beginn von The Wild Bunch (1969) ebenfalls ein sadistisches Spiel mit Skorpionen und Feuer stattfindet, ist wohl eher Zufall. Dass aber Sergio Leone diesen Film kannte, als er am Ende von Spiel mir das Lied vom Tod (1968) einen Menschen mit Schlinge um den Hals auf den Schultern eines Angehörigen stehen ließ, davon gehe ich jetzt einfach mal aus.
Freitag, 8. November 2013
Movie of the Week 7: Une femme est une femme (Jean-Luc Godard, F 1961)
"Bevor wir unsere Farce durchspielen, sollten wir uns vor dem Publikum verbeugen," sagt Angela (Anna Karina) zu Émile (Jean-Claude Brialy). Gesagt, getan. Die beiden machen, im Wohnungsflur stehend, einen höflichen Knicks vor der Kamera, vor uns. Dann: Let the games begin! Sie streiten sich. Mal mit der extra dafür in den Mund genommenen Zahnbürste, dann wieder, ohne selbst zu reden, indem sie sich auf Buchumschlägen stehende Schimpfwörter zeigen. Émile fährt dabei teilweise mit dem Fahrrad Runden durch die geräumige Pariser Altbauwohnung. Die Tragödie festgefahrener Beziehungskonflikte, reinszeniert als Farce. Später gesellt sich Alfred (Jean-Paul Belmondo) dazu. Er fragt sich, ob wir uns in einer Komödie oder einer Tragödie befinden, hat selbst jedoch keine Zeit, diese Frage zu beantworten. Er muss weg, weil er Außer Atem sehen möchte, der im Fernsehen läuft. Diese Szene enthält en nuce, was den Film ausmacht. Brecht'sche Verfremdungseffekte am laufenden Meter, ein unablässiges sub- und meta-, intra- und inter-textuelles Verweisspiel. Godard bricht ständig mit der Illusionserzeugung, um durch den Bruch hindurch, Fetzen von Realität sichtbar zu machen. Der - immer wieder absolut hinreißende - Nonsense-Humor will gerade keinen comic relief, sondern entstellt durch Überzeichnung zur Kenntlichkeit. Gerade so gelangt Une femme est une femme zu größerer Wahrhaftigkeit in der Darstellung des alltäglichen Irrsinns zwischenmenschlicher Beziehungen, als hundert "ernstere", einem herkömmlichen Realismus-Konzept verpflichetete, Liebesfilme. Schon der Plot: Angela will ein Kind, Émile nicht, Alfred, Émiles bester Freund, soll aushelfen - und zeigt sich dazu allzu gerne bereit. Filmhistorischer Verweis, eine Geschichte wie von Ernst Lubitsch einerseits (Lubitsch heißt dann auch Alfred mit Nachnamen). Andererseits kennen die Konstellation eines zur Besessenheit ausartenden Kinderwunsches einer Frau und die Bedenken des Mannes wohl viele Menschen, nun, ich zumindest, aus dem richtigen Leben. Der Reality-Touch.
Godard bezeichnet seinen dritten Langfilm, gedreht in Farbe und Cinemscope, als "neorealistisches Musical, also einen Widerspruch in sich". Widersprüche werden hier jedoch immer nur sichtbar gemacht, nicht aufgelöst. Etwa in einer Szene zu Beginn: Im Gespräch mit Belmondo legt Karina plötzlich unvermittelt einen Tanz hin: "Ich möchte in einer Musical-Komödie sein. Mit Cyd Charisse und Gene Kelly. Choreographie: Bob Fosse." Die heruntergekommenen Gassen, die Kulissen ihrer Step-Nummer sind (jede Einstellung ein anderes set), konterkarieren das Postkarten-Paris, das ein beliebter Schauplatz im Hollywood-Film der Fünfziger war. Und doch: offensichtlich auch eine sehr liebevolle Hommage. Echte "Nostalgie nach dem Musical" (Godard), dessen strikter Anti-Realimsus in seiner ursprünglichen Form keine Option mehr ist. Schade. Als Entschädigung: Der Regisseur als Zauberer, der in einem Fort seine eigenen Tricks verrät, aber doch nie die Magie des Kinos. Der Film, der als Spiel mit offenen Karten einfach immer weiter läuft. Ein verspielter und bezaubernder Film. Einer, über den man Doktorarbeiten schreiben, den man aber auch - und das unterscheidet ihn wohl recht grundlegend von anderen Werken des Regisseurs - einfach genießen und herzhaft über ihn lachen kann. Oder, wie es Émile gegen Ende sagt: "Ob es eine Komödie oder eine Tragödie ist, weiß ich selbst nicht, aber sicherlich: Ein Meisterwerk."
Zwei Nachträge, die nicht mehr in den Text passten:
Die Vefremdungseffekte des Films finden auch - und nicht zuletzt - auf der Tonspur statt. Mal wird das Geschehen mit Chansons überorchestriert, dann wieder reiner Original-Ton, dazwischen oft eine Art "akustischer Jump Cut". Besonders toll: in einer Szene läuft Karina durch eine belebte Straße, dabei werden alle Umgebungsgeräusche ausgeblendet, zu hören sind lediglich ihre Schritte. Sie ist damit doppelt markiert und isoliert: durch den Ton und durch ihre leuchtend rote Bluse und die gleichfarbigen Socken im Grau des Quartiers Saint-Denis.
Zum Schluss noch ein Zitat von J. Hoberman im Essay zur Veröffentlichung des Films im Rahmen der Criterion Collection, das den Gender-Aspekt des Films und besonders seine Konstruktion von Weiblichkeit beschreibt: "Seen today, what’s fascinating [in Une femme est une femme] is how much social awareness Godard brings to the notion of “heterosexual love.” With her masklike makeup and bouffant hairdo, Karina is a total construction. This stubborn, graceful creature is not only the world’s most demure stripper but merely the idea of a woman—or, at least, Godard’s idea of one."
Dienstag, 15. Oktober 2013
Movie of the Week 4: Narc (Joe Carnahan, USA 2002)
1. Mit dem, schon wieder aus der Mode gekommenen, Begriff mindfuck bezeichnete man ca. ab Beginn der 00er Jahre Filme, in denen sich, meist in einem finalen Plotpoint, herrausstellt, dass alles, was der Protagonist - und in Identifikation mit ihm: der Zuschauer - wahrnimmt, nicht ist, was es zu sein schien. Mit der schließlichen Aufdeckung der Identität des Protaginisten, der nicht ist, was er zu sein glaubte, wird auch die Diegese des Films 'umgeworfen'. Was er für seine und wir für die innerfilmische Realität hielten, entpuppt sich wahlweise als virtual reality, als psychotisches Wahngebilde oder Halluzination oder als 'Geisterwelt'. Bezieht sich der Begriff vorwiegend auf Filme aus den späten 90ern wie Fight Club oder The Sixth Sense, ziehen sich die Vorläufer durch die Filmgeschichte - von Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) über Carnival of Souls (1962) und Blow Up (1966). Nicht in diese Kategorie gefasst, aber doch dramaturgisch eng mit ihr verwandt, sind Filme, deren Aufklärung nicht 'alles' über den Haufen wirft, aber die Figur doch radikal in einem anderen Licht dastehen lässt. Er oder sie entpuppt sich nicht als psychisch krank oder Gespenst, aber ist doch 'nicht was er schien', in dem Sinne, dass die Motivation seines Handelns eine vollkommen andere ist, als es im vorherigen Verlauf des Films erschien. Hier wie dort wird der Vertrag zwischen Film und Zuschauer gebrochen. So fallen wir etwa in Billy Wilders Witness for the Prosecution (1956) auf die 'Inszenierung' Marlene Dietrichs herein oder fiebern in Mario Bavas Cani arrabbiati (1974) mit einem 'Helden' mit, der sich als alles andere als heldenhaft herraustellt. (Wenn Roger Donaldsons No Way Out (1987) mit der letzten Volte endgültig ins Irr- und Unsinnige kippt, macht er sich in Perfektion über diese Art des Erzählens lustig). Mögen diese Filme auch nicht alle Voraussetzungen des mindfucks erfüllen, so unterwandern sie doch ebenfalls, wie Alexander Geimer in seinem Aufsatz zum Subgenre schreibt, die Bedürfnise und Erwartungen des Zuschauers, die sich "häufig ein Maximum an affektivem
Wohlgefühl und Minimum an kognitiver Unruhe vom Ende eines Films erhoffen... Diese Präferenz kann auf ein konstantes anthropologisches Bedürfnis
nach Orientierung zurückgeführt werden: Menschen streben auch in
der imaginären Teilhabe an fiktiven Situationen einen Zustand an, welcher
es ihnen erlaubt die Situation, falls sie echt wäre, zu kontrollieren".
2. Eine Großaufnahme von Jason Patrics Gesicht. Schnitt auf eine Drogenküche. Ein Mann flieht. Die Handkamera, heftig wackelnd, in Patrics subjektiver Sicht verfolgt ihn. Über Zäune und vollgemüllte Parkplätze, durch die Einfahrten und Gartenanlagen trister Siedlungen. Der Fliehende sticht einen Polizisten nieder. Er gelangt zu einem Spielplatz, nimmt ein Kind als Geisel. Patric erschießt ihn, die Mutter des Kindes wird von einem Querschläger an der Hüfte getroffen. Die Exposition von Narc errichtet nur scheinbar klare Dichotomien, um die Grenzen dann sehr schnell wieder zu verwischen. Drogen-Cops und Drogen-Dealer zeigen sich bereits hier in ein sehr komplexes Netz aus Schuld, Intrigen
und Abhängigkeiten (nicht zuletzt: der Drogenabhängigkeit) verstrickt. Auch die Idee der Familie als ein Innen, das vor dem Außen dieser kalten
und bösen Welt Schutz bieten könnte, wird nur evoziert, um gleich
wieder verworfen zu werden. In den Bildern dieser Ghettowelt, wie man sie so trost- und hoffnungslos wahrlich selten gesehen hat, leuchtet die Spielplatzanlage in hellen warmen Farben, wo es sonst nur noch blaustichige Kälte gibt - und doch, das ist bezeichnend, ereignet sich gerade hier das erste der Polzistentraumata, an denen in diesem Film wahrlich kein Mangel herrscht. Im war on drugs, wie ihn der Film darstellt, gibt es nicht nur keine Guten und keine Bösen, es gibt überhaupt keine klaren Fronten mehr. Hier gibt es Niemanden, der irgendetwas unter Kontrolle hat. Nichts, was Orientierung bieten könnte. (Da es in Narc also von Anfang an um das Entgleiten der Welt, den Verlust von Kontrolle und Orientierung geht, ist die letzte Wendung, in der dem Zuschauer Film und Figuren endgültig entgleiten, überraschend wie sie sein mag, nicht mal wirklich ein twist, sonder eher ein sehr konsequenter Schlussstrich.)
3. Patric spielt den Polizisten Nick Tellis. Nach einem Disziplinarverfahren wegen der Spielplatzschießerei, bei der die schwangere Mutter ihr Kind verloren hat, soll sich Tellis rehabilitieren, indem er den Mord an einem Polizisten, Michael Calvass, aufklärt. Sein Partner bei der Ermittlung, der bärbeißige Henry Oak (Ray Liotta), war eng mit Calvass befreundet. Wie tief er jedoch wirklich in den Fall verstrickt ist, wird sich erst am Ende zeigen.
Nichts daran ist wirklich neu. Vieles nah am Klischee. Dass der Film als Thriller trotzdem ganz vorzüglich funktioniert, liegt an der grimmigen Ernsthaftigkeit, mit der er die Versatzstücke zusammensetzt. Kein Hauch von Ironie oder Selbstreflexion. Die an der Arbeit ihres Mannes verzweifelnde Ehefrau, der wenig vertrauenswürdige Partner, Sozialbautürme hinter müllübersäten Brachen, wollen hier niemals der Geschichte des Genres Referenz zollen, sondern sind lediglich die Bausteine aus denen Carnahan eine durch und durch kaputte und abgefuckte Welt baut. Weder die starke Stilisierung in der Farbdramaturgie, noch die Überzeichnung bestimmter Szenen ins Groteske, führen jemals zum Bruch, zur Möglichkeit des Zuschauers zur Distanzierung. Es geht im Gegenteil um dessen größtmögliche Einbeziehung in eine absurd und grotesk gewordene Welt.
4. Schon Steven Soderberghs Traffic folgerte ein Jahr zuvor, dass der "Krieg gegen die Drogen" mit militärischen Mitteln nicht zu gewinnen ist. Wenn das Ende bei Soderbergh im Zeichen einer Abwendung von den Institutionen hin ins Private stand - ein Polizist begleicht eine persönliche Rechnung, ein Staatsanwalt kümmert sich um seine drogenabhängige Tochter -, ist genau das bei Carnahan Prämisse - auch wenn sich diese erst vom Ende her offenbart. In dem Maße, wie am Ende der Film dem Zuschauer entgleitet, entgleitet er auch allen möglichen ideologischen Ausrichtungen, die Polizeifilme so gerne bedienen. Er predigt weder Law & Order, bedient nicht die Vorstellung, dass hier nur mal jemand so richtig aufräumen müsste, noch geht es darum, dass die Polizisten böser sind, als die Dealer, die sie jagen - sie sind aber - mindestens - genau so kaputt.
5. Narc ist ein fieser, düster-nihilistischer Kotzbrocken von einem Thriller. Ein Film also, der es einem vielleicht recht schwer macht, ihn zu mögen, aber auch schier unmöglich, sich ihm zu entziehen.
Montag, 7. Oktober 2013
Movie of the Week 3: Das Mikroskop (Rudolf Thome, BRD 1987)
Die schönste Szene in diesem rundum wunderschönen Film: Adriana Altares und Vladimir Weigl mit Gipsarm haben recht umständlichen, aber dadurch nur umso vergnüglicheren Versöhnungssex, gerahmt von Blicken durchs Mikroskop. Wo sich vorher Pantoffeltierchen auf behäbige Einzeller-Art "küssen", flitzen hinterher die Spermien durchs Bild.
Lukas Foerster schreibt, dass Thome mit diesem Film endgültig zu seinem ganz eigenen Stil fand: "Was heute ein Thome-Film ist, bildet sich in den ersten zwei Jahrzehnten der Karriere langsam heraus, ist aber spätestens 1986 ganz und gar da. Seit Das Mikroskop spielen die Filme in ihrem eigenen Universum. Es gibt ein Thome-Stammensemble (das allerdings erstaunlich anschlussfähig ist, siehe die Hannelore-Elsner-Serie Mitte der 00er-Jahre), es gibt Thome-Figuren, -Motive, -Orte, -Situationen, -Milieus. Sieht man von Modischem ab, von Kleidern, Frisuren, Autos, Kommunikationstechnik, könnte Das Mikroskop auch 2010 gedreht worden sein und Das rote Zimmer 1986."
Sehr bezeichnend erscheint mir in diesem Zusammmenhang der Titel des Films. Weigl, der männliche Protagonist, beschäftigt sich, nach seiner (vorübergehenden) Trennung von Altares zu Beginn, mit dem Leben in immer kleineren Formen. Vom Mikrokosmos der Aquarien, mit denen er seine Wohnung vollstellt, bis zu seinen kleinsten, nur noch durch das Mikroskop sichtbaren Formen. Zum Mikroskop wird bei Thome auch die Kamera, und es sind die Details, die durch dieses sichtbar werden, die seine Filme so faszinierend machen.
Nach dem eher enttäuschenden System ohne Schatten (1983) und einer mehrmonatigen Pause in meiner Erschließung vom Werk des Regisseurs, fühlte ich mich in Das Mikroskop, meinem nunmehr fünfzehnten Thome, auf Anhieb "zu hause". Einerseits, weil mich so vieles in diesem Film, eben en detail, an meine Westberliner Kindheit in den Achtzigern erinnerte. Die "beckers beste"-Saftflaschen auf dem Frühstückstisch. Die Werbung für ein Möbelgeschäft mit dem schlichten Namen "Regale" in einem U-Bahn-Waggon (Gibt's den Laden eigentlich noch? Gab's ihn je? Da mein einziger Berührungspunkt mit ihm eben jene Werbeaushänge waren, erschienen mir diese immer ein Stück weit wie ein nur auf sich selbst verweisendes Zeichen, sagen wir, in der Art der Grindhouse-Trailer). Das japanische Feuerwerk auf dem Flughafen Tempelhof, das ich, gebürtiger Tempelhofer, damals mit meinen Eltern vom Dach unseres Hauses aus bestaunte, und über das hier in einer Szene im Fernsehen berichtet wird. Andererseits legt sich über das so vermittelte Gefühl von Authentizität, das spezifisch Thome'sche als sehr eigene Art, "Realität" zu sehen und zu zeigen. So entstehen, wie Foerster den bereits zitierten Text überschreibt, Filme "knapp neben dem Leben".
Das in sich Abgeschlossene des Thome-Universums entsteht, nur scheinbar paradox, gerade durch die Offenheit seiner, manchmal beinahe banal anmutenden Alltagsgeschichten für allerlei - teilweise generische - Zuspitzungen. Das Mikroskop kippt immer wieder ins Komische, vor allem dann, wenn es um Sexualität - und Fortpflanzung - geht. Neben der eingangs erwähnten Szene, mochte ich besonders den Kauf von Multicolor-Buntbarschen, die, wie der Tier-Fachverkäufer informiert, polygame Maulbrüter sind. Ins Tragische, das durch eine finale Volte ins Spiel kommt, und dem sich der Film dann aber nicht hingibt. Schließlich - aber sicherlich nicht zuletzt - ins Märchehafte, das Thome in Interviews im Kontext seiner Filme gerne als offene Provokation für den Zuschauer beschreibt. Letzteres hier in der Figur der, von Malgorzata Gebel wunderbar mysteriös gespielten Frau, die Weigl auf der Straße anspricht und fortan zu einem Beziehungsdreieck führt, das sehr konsequent entgegen jeglicher Genre-Vorgaben aufgelöst wird. In der ersten Einstellung, in der sie zu sehen ist, sitzt sie auf einer Bank, in deren rote Farbe das Wort "Fuck" geritzt wurde und liest Aladin und die Wunderlampe. Die Kamera und die Xylophon-Klänge auf der Tonspur stilisieren den Berliner Park zum Märchenwald.
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