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Mittwoch, 28. Januar 2015

Incompresa / Missverstanden (Asia Argento, Italien, Frankreich 2014)

Es ist das Jahr 1984 und Aria ist neun. Sie driftet durch die nächtlichen Straßen Roms, schwer bepackt mit ihrem riesigen Rucksack und einem Käfig mit ihrer engsten Verbündeten: der schwarzen Katze Dac. Ein Kind ohne einen Platz in der Welt. Nach der ruppig gewaltsamen Trennung ihrer egozentrischen Eltern, deren Zusammenleben bestimmt wurde von Geschrei, Gewalt und gegenseitigen Anschuldigungen, bleibt ihre älteste Halbschwester beim Vater (Gabriel Garko), die mittlere bei der Mutter (Charlotte Gainsbourg). Aria aber, die jüngste und einzige Tochter aus der wahrlich unheiligen Allianz, fällt durchs Raster. Sie wird mal von der Mutter, einer neurotischen Pianistin, (Guilia Salerno), deren beständige Sinnsuche sie zu Kommunismus, Buddhismus und ständig wechselnden Partnern treibt, aufgenommen und wieder verstoßen, dann wieder vom Vater, einem so eitlen wie hysterisch abergläubischen Filmstar.
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Donnerstag, 28. August 2014

La resa dei conti / Der Gehetzte der Sierra Madre (Sergio Sollima, Italien, Spanien 1966)

Somewhere there is a land where men do not kill each other.
 
Die Italo-Western-Brutalität der Exposition bekommt angesichts des großartigen Morricone-Songs während des - nicht minder großartigen - Vorspanns eine bittere Note. Strick oder Pistole. Das ist die Wahl vor die Jonathan Corbett (Lee Van Cleef) die drei Männer stellt für die er nichts außer drei Kugeln übrig hat. Dabei scheint der Kopfgeldjäger selbst das Töten von Anfang an satt zu haben, davon zu träumen, es eines Tages hinter sich zu lassen.  
Der Geschäftsmann Brockston (Walter Barnes), der eine Eisenbahnlinie quer durch Texas bauen will, die die USA mit Mexiko verbinden soll, bittet ihn in die Politik zu gehen und seine Sache in Washington zu vertreten. Doch vorher macht sich Corbett auf die Suche nach dem Mexikaner "Cuchillo" Sanchez (Tomas Milian), der ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet haben soll. Doch Cuchillo erweist sich nicht nur als so gewitzter Ausreißer, dass selbst der große Corbett seine Probleme hat, ihn einzufangen, der Kopfgeldjäger beginnt auch irgendwann an der Schuld des Gejagten zu zweifeln.
 
Somewhere you will find a place where men live without fear.
Somewhere, if you keep on running, someday you'll be free.
 
An den üblichen Italo-Western-Gimmicks herrscht in La resa die Conti gewiss kein Mangel. Neben den raffinierten Verkleidungstricks, die Cuchillo für seine Flucht nutzt, ist da etwa eine Szene, in der er einen Stier in den Verschlag locken soll. Gefilmt wird teilweise mit der Handkamera aus der subjektiven Sicht sowohl des Mannes als auch des Stiers während sie miteinander kämpfen. Für die genre-typische Grausamkeit sorgen unter anderem die Messerwurfkünste, denen Cuchillo seinen Namen verdankt, oder eine Szene, in der er an Händen und Beinen mit Lassos gefesselt ausgepeitscht wird. Doch Sergio Sollima nutzt das Genre auch hier vornehmlich für seine eigenen Zwecke. Schon im Text zu Faccia a faccia habe ich den Sollima-Helden als einen gezeigt, der von seiner Leidenschaft für eine bessere Welt angetrieben wird. Der des Tötens müde ist und sich nach Frieden sehnt. In La resa dei Conti nimmt das die Form einer Desillusionierungsgeschichte an, in der Corbett langsam feststellen muss, dass die Werte der Männer für die er arbeitet nicht die seinen sind. 
 
Somewhere there is a land where men call a man a brother.
 
Im Kern ist La resi dei conti ein Film über Rassismus, den Sollima als das anprangert, was er wohl immer schon war: Ein Herrschaftsinstrument. "Ich kenne ein Gesetz, das besagt, dass es zwei Gruppen von Menschen gibt," sagt Cuchillo. "Die eine Gruppe flieht, und die andere verfolgt sie." Schon bevor Corbett - und mit ihm der Zuschauer - endgültig von der Unschuld Cuchillos überzeugt ist, scheint sich der Film ganz auf die Seite des Fliehenden, des Gehetzten, des geschundenen Körpers von Tomas Milian zu stellen.  
Die Reise des Kopfgeldjägers wird auch zu einer Odyssee durch eine regelrechte Galerie verschiedener, teils denkbar bizarrer Machtverhältnisse. Da ist sonderbare Matriarchatsphantasie, die den Gender-Diskurs von Citta violenta ein Stück weit vorwegnimmt. Auf einer Ranch gebietet die Besitzerin nach dem Tod ihres Mannes über eine Gruppe ihr untergebener Männer - wohl eine Art Harem - die sie stets mit "Seniora" anzureden haben. Da ist der ehemalige "Bruder Smith and Weston", ein Mönch, der das Schießeisen vor Jahrzehnten gegen das Kreuz eingetauscht hat, und damit die vorweggenommene Erfüllung von Corbetts Sehnsucht darstellt. Da ist die mexikanische Armee um einen gewohnt schmierigen Fernando Sancho, die den Bauern und der Revolution mit der gleichen Verachtung begegnet wie die adeligen und großbürgerlichen Kreise in den USA. Da ist eine der Schlüsselszenen bei einer feinen Gesellschaft um Brockston. Während er seine Tochter zurecht weist, die sich nicht in eine Hochzeit fügen will, die in seinem (Kapital-)Interesse liegt, folgt die Kamera einer jungen mexikanischen Bediensteten, die mit einem Tablett Champagner durch die Räume geht. Als sie sich den Rock hochzieht während sie das Tablett zu Boden stellt, zieht der Anblick ihrer Beine das Interesse von Brockstons künftigem Schwiegersohns auf sich - dem Mann für dessen pädophile Verbrechen Cuchillo als Sündenbock herhalten soll. Die gleiche Macht, die den mexikanischen Bauern jagt, macht auch die Frauen buchstäblich zum Objekt, zu einer Ware, die man möglichst gewinnbringend verkauft oder die nur dazu dient, männliche Gelüsten aller Art zu befriedigen. Die Kamera ist dabei einmal mehr ganz auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten.  
 
Never, no never no they'll never lock you in.
No never, no never, no never let them win.
Go ahead young man, face towards the sun,
Run man, run while you can,
Run man, run man, run.   
 
Dass am Ende das Gute siegt, dass Lee van Cleefs unvergleichlich eindringlicher Blick schließlich nur die Gerechtigkeit sucht, hat bei der Genauigkeit mit der Sollima Machtverhältnisse analysiert eine regelrecht utopische Note.
 
 
Und weil's so schön ist, bekommt wer mag hier noch den restlichen Text:
 
 

Running like a hare, like deer, like rabbit,
Danger in the air, coming near, you can feel it,
And you're panting like hare, like deer like a rabbit,
Running from the snare until fear is a habit.
Hurry on and on and on.
Hurry on and on, hurry on and on
Run and run until you know you're free,
Run to the end of the world 'til you find a place
where they never never never
No never no they'll never lock you in.
Never, no never, no never let them win.
Go ahead young man, face towards the sun,
Run man, run while you can,
Run man, run man, run.


Dienstag, 26. August 2014

Confessione di un commissario di polizia al procuratore della repubblica (Damiano Damiani, Italien 1971)


Der Clan, der seine Feinde lebendig einmauert

Etwa in der Mitte des Films gibt es eine Miniatur, die in gut zehn Minuten das Netz aus Angst und Mord und mehr Angst und mehr Morden erklärt, durch das die Mafia funktioniert. In Rückblenden erzählt wird die Geschichte eines jungen, unerschrockenen Gewerkschafters, der öffentlich das Netzwerk zur Ausbeutung, Unterdrückung und Entrechtung der Arbeiter und namentlich den Clan-Chef Lumonno (Luciano Gattenaci) anklagt. Am helllichten Tag, vor versammelter Polizei und in Anwesenheit Lumonnos und seiner Männer, wird er ins Bein geschossen. Der Schütze bleibt unerkannt. Niemand eilt dem Mann, der verwundet am Boden liegt, zur Hilfe solange die Mafiosi vor Ort sind. Einige Jahre später wird er ermordet. Es gibt einen Zeugen. Einen etwa zehnjährigen Hirtenjungen. Auch er wird umgebracht. Die Kamera von Claudio Ragona hält drauf, wie zwei Männer den Jungen greifen, wie er eine gefühlte Ewigkeit einen Abhang hinabfällt.
Diese Erzählung teilt den Film klar in zwei Hälften. Nach ihr liegen die Karten auf dem Tisch. Was vorher nur angedeutet wurde, tritt jetzt klar zu Tage. Lumonno, der zu Beginn einem Mordanschlag entgeht, ist Teil eines durch und durch bösen Systems (das Wort "Mafia" fällt in dem Film übrigens nicht). Die undurchsichtige Rolle, die der Mann einnahm, der die Geschichte erzählt, Kommissar Bonavia (Martin Balsam), der zu Beginn mit unlauteren Mitteln dafür sorgte, dass ein Mann aus der Psychiatrie entlassen wird, der Grund hatte Lumonno zu töten und es auch versuchte, wird auch klar. Er will Gerechtigkeit. Genau wie der Mann, dem er die Geschichte erzählte, Staatsanwalt Traini (Franco Nero), der allerdings zunächst sein Widersacher sein muss, weil er noch daran glaubt, dass die Gerechtigkeit mit legalen Mitteln zu erreichen sei. Von hier muss Confessione auf eine Desillusionsgeschichte der bitterbösen Art hinauslaufen.
Der Plot ist kompliziert. Was eigentlich nur bedeutet, dass fast alles, was in Justiz, Politik und Wirtschaft Rang und Namen hat, an den mörderischen Machenschaften mitverdient, durch die unter anderem riesige Wohnviertel entstehen (siehe den deutschen Titel).
Damianis Meisterschaft liegt nicht nur darin, mit welcher Dichte er diese hoffnungslose Geschichte erzählt, bei der Franco Nero letztlich nichts erreicht, als herauszufinden, welche Maßstäbe das hat, woran er nichts ändern kann, sondern auch in der Atmosphäre der allgegenwärtigen Angst, die er den Mitteln des Kinos abringt. Nur ein Beispiel: eine Frau, die eine wichtige Zeugin sein könnte, flieht über einen Markt. Die Handkamera folgt ihr, während sie sich immer wieder panisch nach hinten umsieht, auf Schritt und Tritt. Die Lichter der Stände leuchten grell. Hier gibt es keine Ecke, in der sie sich verbergen könnte, während jeder in dem Gedränge der Straße eine potenzielle Gefahr darstellt. Dann kommt der Schnitt in die Totale, in der wie die Frau davongehen sehen. Die Kamera selbst wird zur Bedrohung, die überall ist. Sie muss ihr nicht dich folgen, um ihr auf den Fersen zu bleiben.
Die emotionale Wucht bezieht der Film schließlich aus seinem Pessimismus. Gerade dass sich an dem Netz aus Angst und Mord und mehr Angst und mehr Morden nichts verändert, geht am Schluss durch Mark und Bein.

Mittwoch, 20. August 2014

Faccia a faccia / Von Angesicht zu Angesicht (Sergio Sollima, Italien, Spanien 1967)

Der Film beginnt mit einem Bruch. Professor Brad Fletcher (Gian Maria Volonté) verkündet seinen Schülern, dass ihr Geschichtskurs beendet ist, aber jederzeit an dieser Stelle fortgesetzt werden kann. Er verabschiedet sich von den Schülern, dann verabschieden sich sein Chef und eine Frau, Elisabeth, von ihm. Man merkt, dass er etwas mit ihr hatte, was genau erfährt man eben so wenig, wie den Grund, warum er geht. Bruchstückhaft, brüchig erzählt diese pre titlte sequence von einem Bruch. Jedenfalls bleibt Volonté allein in dem leeren Unterrichtssaal zurück. Allein mit einer Karte der USA. Allein mit der Geschichte. Von der Spiegelung seines Gesichtes in einer roten Scheibe gibt es einen Match Cut auf einen roten Feuerball im - wie immer bei Sollima großartigen - Vorspann. Neben den Gesichtern von Volonté und Tomas Milian, von Angesicht zu Angesicht, sehen wir in diesem Vorspann vor allem Bilder einer Kutsche, im üblichen Pop Art-Look wird sie verdoppelt, verdreifacht, vervielfacht, in knalligem rot, gelb, grün zieht sie durchs Bild, von rechts nach links und links nach rechts, von oben nach unten und unten nach oben. Die stringente Bewegung wird zersetzt durch ein konstantes hin und her und auf und ab.
Auf seinem Weg wohin auch immer wird Fletcher von dem Banditen Solomon "Beauregard" Bennet (Tomas Milian) als Geisel genommen. Der Mann der Bücher und der Mann der Waffen. In John Fords Meisterwerk The Man who shot Liberty Valance war das eines der großen Paare des postklassischen Westerns (wobei "postklassisch" hier vor allem bedeutet, dass der Film den Zivilisierungsprozess, der von jeher den Kern des Genres bildete, schon eher melancholisch zu einem Verlust erklärte, statt in ihm einen Gewinn sehen zu können). Bei Ford wird der Mann der Bücher am Ende doppelt desavouiert. Er wird gefeiert für eine Tat, die allen seinen Prinzipien widerspricht und die er in Wirklichkeit nicht einmal selbst begangen hat. Faccia a faccia geht da noch ein ganzes Stück weiter.
Immer sind die Protagonisten bei Sollima von ihrer Sehnsucht angetrieben. Nach einer besseren Welt (La resa dei conti) oder zumindest einem besseren Leben (Citta violenta). Faccia a faccia erscheint für einen Italo-Western erstaunlich sehnsuchtsgesättigt. Die Weite der Landschaft, durch die die Männer auf ihren Pferden von den Streichern und Chorälen des epischen Scores von Ennio Morricone getrieben werden, scheinen tatsächlich noch ein Freiheitsvesprechen zu geben, das in dieser Phase des Genres selten geworden ist. 
Die Stadt, in der die Männer von ihrer Sehnsucht zunächst zusammengetrieben zu werden scheinen, heißt Purgatory City (meisterlich, wie Sollima hier einmal mehr Machtverhältnisse als Blickverhältnisse abbildet. Unten im Staub der Straße, diejenigen, die schießen, oben in ihren Häusern, an den Fenstern, als Zuschauer die Gutbürgerlichen, die die schießen lassen.) Von diesem Fegefeuer aus führen ihre jeweiligen Wege die beiden Protagonisten in den Himmel bzw. die Hölle, wobei sich jedoch erst zeigen muss, was wo ist. William Berger als Charley Siringo, ein Pinkerton-Agent, der Banden infiltriert, um sie zu stellen, nimmt dabei eine Art Vermittlerrolle ein.
Ein Dialog in einem Camp, in dem sich die Bande versteckt und das einen weiteren sprechenden Namen trägt: Pietra di Fuoco (Feuerstein), verdeutlicht, wie ihre Sehnsüchte die Männer in verschiedene Richtungen treibt. Einer von Bennets Männern nennt das Camp eine Geisterstadt voller "Jäger ohne Büffel, Cowboys ohne Herden und Gold-Gräber ohne Gold", fernab von Realität und Moderne. Fletcher entgegnet, er habe noch nie so wahrhaftige, freie und glückliche Menschen gesehen wie dort. Bei Sollima führt die Sehnsucht des zivilisierten Bildungsbürgers nach einer archaischen Welt in die Katastrophe. Sie führt zu einer Ermächtigung zum grausamen gang leader, die beginnt mit dem Erschießen eines Mannes und der Vergewaltigung einer Frau. So phallisch, in Begehren und Sehnsucht getränkt die Macht in diesem Film gedacht wird, so sehr scheint sie gerade den Geist zu korrumpieren. Der Geschichtsprofessor erklärt später: "Ein gewalttätiger Mann ist tatsächlich ein Outlaw. Hundert Männer sind eine Gang und 100.000 eine Armee. Es geht darum, individuelle Gewalt zu überwinden, die ein Verbrechen ist, und zur Massengewalt zu gelangen, die die Geschichte macht."
Der Schluss ist atemberaubend ambivalent. Einerseits endet der Film, der in einem Seminarraum begann, in dem Volonté von (politischen) Subjekten träumte, die aus sich heraus richtig und falsch erkennen könnten, damit, dass zwei solcher Subjekte ausgebildet scheinen. Diese Ausbildung wurde dann aber andererseits nicht nur mit Unmengen von Blut bezahlt, sondern der Film gibt die Figur Volontés nicht preis, der sich zu Beginn wünschte, solche Subjekte zu schaffen, und dem es nun - wenn auch auf ganz andere Weise als erhofft - auch gelang. Ein wahrlich tragischer Tod ist das, bei dem ein Überschuss einer Sehnsucht, die das Gute wollte und das Böse schuf, mit seinen letzten Atemzügen aus Volontés Körper zu weichen scheint.

Sonntag, 18. Mai 2014

There's still the river

Hinweis auf meinen Text zu Il futuro in der filmgazette und ein kleiner Nachtrag


Bei der ohnehin schon recht lang geratenen Besprechung habe ich eine der schönsten Szenen von Alicia Schersons kongenialer Verfilmung zu Roberto  Bolaños Una novelita lumpen gar nicht erwähnt, die wie viele in diesem Film nur aus einer einzigen Einstellung besteht (leider finde ich keine screen shots dazu.)
Unmittelbar vor dem Ende des Films sitzen Bianca und ihr jüngerer Bruder Tomás am Ufer eines Flusses und essen ein Eis. Wenn die Art, wie der Film gerade in seiner märchenhaften Entrücktheit soziale Realitäten spiegelt nie weit entfernt ist von der Art, wie der klassische Film Noir, nicht Ab-, sondern Stimmungsbilder einer desillusionierten Nachkriegsgesellschaft lieferte, dann führt diese Szene ganz unmittelbar zu The Night of the Hunter.
Die Geschwister, der Fluss, das üppige Grün der Pflanzen, das um sie herum wuchert wie etwas, das nicht von dieser Welt zu sein scheint, das alte Gasometer, das am anderen Ufer, am anderen Bildrand zu sehen ist, und so verwunschen aussieht wie von Menschenhand gebautes nur verwunschen aussehen kann, rufen die berühmten Bilder des Flusses aus dem Laughton-Klassiker auf, auf dem ebenfalls zwei Geschwister, Bruder und Schwester, hinab treiben, und dessen Ufer überlebensgroßen Tiere wie Fabelwesen bewachen.



Bei Laughton bot der Fluss den Kindern Schutz vor dem Bösen an Land. Er war ganz und gar ihr Studio-Kinder-Märchenreich, zu dem die - natürlich nicht minder märchenhafte - Figur des bösen Stiefvaters keinen Zutritt hat. Bei Scherson aber scheinen die beiden Kinder mit dem Eis-Essen am Fluss erst in einer Kindheit angelangt zu sein, die sie zuvor nie hatten. Erzählt Il futuro also ein umgekehrtes coming of age, in dem es nicht darum geht, erwachsen zu werden, sondern Kind sein zu können? Waren sie, wenn sie am Ende das Ufer des Märchenflusses Hand in Hand verlassen, ohne dass ein Schnitt den Bilderfluss unterbrechen würde, Kinder, und sei es auch nur eine einzige Einstellung lang, um nun erwachsen werden zu können? Ist der Fluss die Zukunft? Oder doch ein Ort der Geborgenheit, an den man, hat man ihn sich einmal erkämpft, sich seinen Platz an ihm behauptet, nun immer wieder zurückkehren kann?
 
Anders gefragt: Is there still the river?   

Montag, 12. Mai 2014

Robert Bolaño: Una novelita lumpen (Lumpenroman) (2002)

(Einfach mal eine Buchbesprechung. Der Text zur kongenialen Verfilmung von Alicia Scherson wird demnächst in der filmgazette zu lesen sein.)
 
Roberto Bolaños Lumpenroman ist ein Büchlein von großer Radikalität. (Der Diminutiv im Original-Titel: Una novelita lumpen ist wichtig, weil er die Kleinheit betont, hinter der sich die große Radikalität dieses Büchleins verbirgt.)

Eine junge Frau erzählt in der ersten Person. Ihr genaues Alter erfahren wir nicht. Ihr Name, Bianca, wird nur an einer Stelle erwähnt, betont beiläufig. Sie beginnt den Roman mit den Worten:

„Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“

Die Einfachheit und Klarheit, die Nüchternheit dieser Sätze ist keine Reduktion, sondern eine Bereinigung. Alles an Diskursen, an Konventionen des Erzählens oder der literarischen Gattung (welcher auch immer), an Tragik, an „Moral“, was sich von außen über den Bericht dieses Mädchens legen könnte, hat in diesen Sätzen nichts verloren. Wenn es überhaupt mitgedacht werden soll in der Geschichte, die ganz und gar Bianca gehört, ihre Geschichte ist, dann doch nur als etwas, das abwesend ist – wie die Eltern. Eng damit verbunden versteckt sich in diesen Sätzen die eine oder andere Falle. Die Überwindung eines Traumas, das Coming-of-Age, der Weg der adoleszenten Kriminellen in die bürgerliche Biographie, die übrigens nicht, wie es der erste Satz suggeriert, der Endpunkt der Erzählung sein wird, müssen zu Beginn aufgerufen werden, nicht um erfüllt, sondern um überwunden zu werden.

Über ihren ersten Freund berichtet die Erzählerin: „Dass ich mit meinem Freund Erfahrungen gesammelt hätte, konnte man eigentlich nicht behaupten. Er war ein Junge wie viele andere, ich mochte ihn, und eines Tages mochte ich ihn nicht mehr. Das ist alles.“ Der letzte Satz, das „Eso es todo“, das sich wiederholen wird, ist der Schlüsselsatz dieses Romans. Una novelia lumpen ist ein „Eso es todo“-Roman. Gewissermaßen steht dieses „Eso es todo“ als Punkt am Ende eines jeden Satzes. Als Negation all dessen, worum es in diesem Roman gehen könnte, aber nicht geht.  

Eines Tages bringt der Bruder der Erzählerin aus dem Fitness-Studio, in dem er arbeitet, zwei junge Männer mit. „Sie waren nicht seine Freunde, auch wenn mein Bruder das glauben wollte. Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im Friseursalon gesehen hatte.“ Mit diesen beiden Nicht-Figuren, über die wir als erstes erfahren, was sie nicht sind, deren Distinktionsmerkmale nicht moduliert, sondern verwischt werden, mit diesen ent-subjektivierten und „objektivierten“ Männern also, die zukünftig bei den Geschwistern leben werden, beginnt die Erzählerin ein sexuelles Verhältnis, das mit Begriffen wie Beziehung oder Affäre zu beschreiben, nicht den geringsten Sinn machen würde.

„In dieser Nacht, während ich im Bett lag und an sie dachte (…), das Licht ausgeschaltet und die Augen offen, ohne Hoffnung auf Schlaf, kam einer von ihnen in mein Zimmer und schlief mit mir. Ich glaube, es war der Bologneser.“ An anderer Stelle heißt es: „Einmal pro Woche, manchmal zweimal ließ ich sie in mein Zimmer. Ich brauchte nichts zu sagen, ich musste mich nur ein wenig gesprächiger zeigen als sonst oder sie intensiv anschauen (…), und sie begriffen sofort, dass sie mich in dieser Nacht besuchen konnten und die Tür offen sein würde.“ Und, viel später:

„An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte mittlerweile besaßen.“

Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ist in Una novelita lumpen nichts, was sie sich erkämpfen müsste, sie ist viel eher eine Prämisse ihrer „Entwicklung“. Als identitätsstiftendes Moment funktioniert der Sex dabei offenbar nur, indem er die Identität des Partners negiert, zumindest: nicht erkennt. Das bemerkenswerte daran ist, dass Bolaño sich dabei jeglicher Wertung im Hinblick auf gängige sexuelle Ideologien enthält. Die Sexualität seiner Protagonistin soll weder „befreit“ noch „domestiziert“ werden, sondern einfach nur gelebt.

Ihr Bruder und die beiden Männer schmieden einen Plan, der sie aus ihrer finanziellen Misere befreien soll. Sie soll sich mit dem ehemaligen Schauspieler und Bodybuilder Maciste einlassen, der sich, nachdem er bei einem Unfall das Augenlicht verlor, komplett in seinem riesigen Anwesen zurückzog. Sie soll den Tresor finden, in dem er seine verbleibenden Reichtümer aufbewahrt.    

Doch die Erzählerin fügt sich nicht in die männlichen Pläne. Entwickelt sie zu Maciste bald eine innigere Beziehung als sie sie zu den jüngeren Männern je hatte, so ist diese doch auch er nicht der Endpunkt ihrer Entwicklung. Ihre Sexualität lässt sich weder ausbeuten noch in der „Liebe“ „binden“. Sie braucht weder „Zuhälter“ noch „Retter“.

Natürlich ist Una novelita lumpen ein „feministischer Roman“. Es geht um die Emanzipation, die Ermächtigung einer jungen Frau, die sich in der Männerwelt, die sie umgibt, ihre Unabhängigkeit erkämpft. Ihr Kampf beginnt damit, dass sie eine Stimme hat (übrigens: als einzige Figur in diesem Roman, in dem es keine Dialoge im eigentlichen Sinne gibt, alle Gespräche werden von der Erzählerin in indirekter Rede wiedergegeben). Die einzige Macht, die sie durch ihre Stimme zu Beginn zu haben scheint ist die, über ihr eigenes Stigma zu entscheiden: „ich bin keine Nutte, ich war eine Kriminelle, aber keine Nutte.“ (Nicht das das wenig wäre.) 

Am Ende ihres Berichtes beobachtet sie ein Gewitter, „das sich nicht am Himmel über Rom befand, sondern in der Nacht von Europa oder im Raum zwischen zwei Planeten, ein geräuschloses und blindes Gewitter, das aus einer anderen Welt stammte, einer Welt, die nicht einmal die erdumkreisenden Satelliten einfangen können, wo es eine Lücke gibt, die meine Lücke ist, einen Schatten, der mein Schatten ist.“

Einerseits wohnen wir in Una novelita lumpen einer Subjektwerdung bei, erleben wie die Frau, die von Anfang an „Ich“ sagt, erst nach und nach zu einem Ich wird. Der große Traum dieses Büchleins ist jedoch der vom Werden eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes ist. Ein utopisches Subjekt, das nicht von dieser Welt zu schein scheint.

Darin besteht die Größe seiner Radikalität.

Zitiert nach: Roberto Bolaño: Lumpenroman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, München 2010.

 

Sonntag, 13. April 2014

Città violenta (Brutale Stadt) (Sergio Sollima, Italien, Frankreich 1970)


Die ersten Einstellungen, Schuss (der Mann, Charles Bronson, am Bootssteuerrad, der Oberkörper frei, braungebrannt, durchtrainiert) und Gegenschuss (die Frau, Jill Ireland, an der Reling am Bug, im Bikini, breitbeinig, in Rückenansicht, Zierrat, eine Galionsfigur, ein Objekt zur männlichen Selbstbestätigung), bilden ein Macht- als Blickverhältnis ab. Die Männer-Tragödie, um die es in den folgenden 100 Minuten gehen wird, handelt von der Dekonstruktion von Macht- und Blickverhältnissen, von der Dekonstruktion von Machtverhältnissen als Dekonstruktion von Blickverhältnissen. Das Blickverhältnis, um das es geht, der männliche Blick auf die Frau, der einerseits von Macht über sie kündet, Besitz anzeigt, andererseits in ihr nur sieht, was er sehen möchte, ein Erlösungsversprechen, etwas außerhalb der Männerwelt von Geld, Macht und Mord, ist gründlich aus dem Ruder geraten.
Im Vorspann schon, wenn Bronson zum ersten - und weiß Gott nicht zum letzten - Mal vom Subjekt zum Objekt des Blickes wird, zum Beobachteten, zum Gejagten (und dass ihn diese Bilder durch den Sucher einer Kamera noch gemeinsam mit Jill Ireland als glückliches Paar auf den Virgin Islands zeigen, entpuppt sich dann später als reine Projektion, als Phantasmagorie - wie alle Macht, alle Kontrolle, alle Unschuld in diesem Film). Danach dann die Verfolgungsjagd über die Hügel und durch die engen Gassen der kleinen Insel: Wenn sie vorbei ist, sind zehn Filmminuten um und fünf Männer tot, ohne dass ein einziges Wort gesprochen wurde. Nichts als Blicke. Bronsons Blicke. Zuerst zu ihr auf dem Beifahrersitz, dann in den Rückspiegel, der versichernde Blick, der bestätigt, dass ihn die Vergangenheit eingeholt hat. Dann nur noch starr auf die Straße, nach vorne. Das einzige, was sich in seinem Gesicht jetzt noch tut, ist dass er beim Gas-Geben den Mund ein Wenig öffnet, so dass etwas vom Weiß seiner Zähne durch die Lippen unter dem Schnurrbart leuchtet. Irelands Blicke. Zunächst zu Bronson, zärtlich. Dann fragend, ängstlich, entsetzt. Vorwurfsvoll, als er sie schließlich wortlos auf die Straße setzt. (Und spätestens hier wird auch klar, dass der Mann nicht so sehr vor anderen Männern flüchtet, sondern vor allem vor der Frau, dass er, wenn sein Versteck einmal ausgemacht ist, im Kampf wieder in seinem Element ist, das die "Liebe" nie war. Nicht nur die geliebte Frau wird sich als Illusion herausstellen, sondern - schon zu Beginn - auch seine Rolle als liebender Mann.)
Dass der Mann am Lenkrad, der Mann mit dem Finger am Abzug, den Blick durch ein Zielfernrohr gerichtet, wirklich in charge wäre, Macht und Kontrolle über die Situation hätte, ist die Illusion, die in diesem Film - genüsslich - in Stücke gerissen wird. Und immer wieder entpuppt sich nicht nur das (Frauen-)Bild als trügerisch, sondern auch das Machtverhältnis, das die Blickstrukturen suggerieren. Relativ plump noch, wenn Bronson dabei fotografiert wird, wie er einen Mord begeht, wenn er mit seinem Gewehr nicht, wie er gerne annehmen würde, am Ende einer Verkettung von Machtblicken steht, sondern - einmal mehr - auch Objekt des Blickes ist. Ganz großartig dann, wenn der Oberschurke Weber (wunderbar abgeklärt: Telly Savalas), ihm in seinem Haus etwas zeigt, ein Bild, das sich auf Knopfdruck in ein Fenster verwandelt und den Blick freigibt auf ein Schwimmbad dahinter - und auf die nackt badende Jill Ireland. Der Statussymbol gewordene Kontrollblick ist für Bronson eine - weitere - Desillusion, er offenbart ihm - einmal mehr - dass die Frau, die er sich erträumt eben nur als Projektion, als seine Vorstellung von ihr existiert. Für Savalas aber hält das Blickverhältnis hier noch die Illusion eines Machtverhältnisses aufrecht, während doch in Wirklichkeit die Frau, die er durch seinen Blick zu kontrollieren meint, die Kontrolle über ihn hat, ihr Spiel mit ihm spielt.
Ich denke, den Film auf seine - schwer bestreitbare - Misogynie zu reduzieren, ihn nur als antifeministischen Reflex zu lesen, als ängstliche Männerphantasie von der neuen Macht der Frau, greift zu kurz. Die Nostalgie nach einer Zeit, in der Männer noch echte Kerle sein konnten, weil Frauen ihren Platz in der Männerwelt kannten, ist eben nur das eine. Das andere ist die unverhohlene - etwa zu gleichen Teilen sadistische und masochistische - Lust, die der Film an der Dekonstruktion seines Frauenbildes, und damit zugleich des Männerbildes, das sich in Abgrenzung von diesem konstruiert, hat. (Aus dieser Zerrissenheit rührt vielleicht die Diskrepanz her, wie wunderschön, wie hell, wie sinnlich und sonnig - es gibt, so weit ich's bei der ersten Sichtung mitbekommen habe, keine einzige Nacht-Szene - dieser finstere, brutale, absolut hoffnungslose Film daherkommt - ein als Sommertagstraum verkleideter Albtraum.)
Der Sadismus ist noch ganz und gar patriarchal: mit einer solchen Frau schläft Bronson nicht, er vergewaltigt sie. Wenn die angebetete Frau sich mehr und mehr als "Schlampe" herausstellt, ist der Mann seiner lästigen Gentleman-Pflichten entbunden und kann ganz zum "Tier" werden. Dass er aber auf die Frau, die er doch bald entlarvt hat, jedes Mal aufs Neue reinfällt, liegt nicht nur darin begründet, dass er sich von seiner Illusion, von der Frau, die außerhalb seiner Vorstellung nicht existiert, nicht verabschieden will, weil sie das einzige ist, was ihm bleibt, es findet sich darin auch eine masochistische Lust am Scheitern, am Kontrollverlust, an der Hilflosigkeit. Eine absolute Hingabe an das da-weg-Spiel, an die Dialektik von (Selbst-)Täuschung und Ent-Täuschung, über deren tödlichen Ausgang sich wohl niemand Illusionen machen wird - am aller wenigsten er selbst.
Am Ende dann kommt dem Film nicht nur die Sprache abhanden, sondern gleich der ganze Ton. Das einzige, was man noch hört beim wirklich atemberaubenden Zeitlupen-Blut-Balett im Fahrstuhl ist das dumpfe Platzen des Glases durch die Schüsse. Und dann muss sich Bronson selbst opfern. Der Mann (seine Vorstellung von sich) kann ohne die Frau (seine Vorstellung von ihr) nicht existieren. Die Kamera zoomt auf seine Augenpartie ran. Leinwandfüllend sehen wir Bronsons Augen, die nicht mehr sehen, was es von Anfang an nicht gab. Doch nicht mal der Triumph des finalen Close-Up ist ihm vergönnt. In der letzten Einstellung wird umgeschnitten in die Totale. Ein lebender Mann mit Pistole in der Hand, der über einem tot am Boden liegenden Mann steht auf einem Dach. Fine.