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Sonntag, 28. September 2014

Victimas del pecado (Emilio Fernández, Mexiko 1950)

Bühne frei! Die ersten zehn Minuten sind den großen Auftritten der Dramatis Personae gewidmet. Zunächst ist da Rodolfo Acosta, Gangster und Zuhälter im Pachuco-Stil, der beim Friseur sitzt und sich für den Film herausputzt. Bis zur Augenbraue muss alles genau sitzen, aber wenn es ans Bezahlen geht, stellt er sich eher knausrig an. So durchgestylt macht er sich auf in den Nachtclub Changoo. Dort hat ihren Auftritt: Ninón Sevilla. In einer der für sie typischen, frenetischen Tanznummern, deren pure ekstatische Energie danach zu trachten scheint, den Bildkader zu sprengen. Schließlich, aber nicht zuletzt bekommt seinen Auftritt: ein Neugeborenes, das eine der Tänzerinnen bekommen hat, was sich frau in ihrem Gewerbe aber gar nicht erlauben kann. Erst hat es eine Einstellung, die überfrachtet ist mit Frauengesichtern, die das Kind bewundern. Dann schreckt Acosta, der Vater, vor dem Anblick des Kleinen zurück wie der Teufel vor dem Weihwasser. Er geht zur Bar, bestellt sich eine ganze Flasche, gießt sich ein Glas ein und setzt dann die Flasche an. Es ist Zeit, dass Sevilla Acosta, der ihr hauptsächlicher Widersacher in dem Film sein wird, ein erstes Mal zur Rede stellt.
Acosta wird wenig später einen Überfall ausführen - ausgerechnet auf eine Kinokasse hat er es abgesehen - die junge Mutter, Rosa, wird mit gebrochenem Herzen das Kind, das er nicht anerkennen will, in einen Mülleimer in der schummrigen "verbotenen Straße", die der deutsche Titel verspricht, werfen. Nun ist es an Sevilla, es zu retten und sich seiner anzunehmen.  
Einerseits ist Victimas del pecado absolut over the top. Ein einziger Exzess voller kalter, grausamer Männer und heißblütiger Frauen - entweder bitterlich weinend oder Ninón-Style frenetisch zupackend. Ein Exzess des Lichts und des Schattens, des Rhythmus und der Musik.
Andererseits aber wird das Melodram immer wieder geerdet durch eine Darstellung der sozialen Verhältnisse im Mexiko der frühen Fünfziger. Unter denen hat vor allem das Waisenkind, das schwächste Glied in der Kette der sozialen Hierarchien, zu leiden. Zunächst findet sich niemand, der ihm die Brust gibt, weil die Frauen, die auf dem Markt sitzen und sich als Kindermädchen anbieten, es nicht mit ihren Männern vereinbaren können, fremden Kinder zu säugen. Viel später - und vorübergehend wieder ganz auf sich allein gestellt - wird er sich auf den Straßen von Mexiko City als Schuhputzer verdingen müssen.
Eine der tollsten Songs wird gesungen von Pedro Vargas als Ehrengast im Changoo. (Einmal gleitet die großartige Kamera von Gabriel Figueroa an der Reihe der Streicher entlang und, etwas später, im Takt der Musik wieder zurück.) Der Refrain lautet:
"Por qué te hizo el destino pecadora, si no sabes vender el corazón?"
("Warum hat das Schicksal dich zu einer Sünderin gemacht, wenn du dein Herz nicht verkaufen kannst?")
Der Film gibt eine Ahnung davon, dass das "Schicksal", das aus Frauen "Sünderinnen" macht, sozialer Natur ist und die Figur, die Sevilla spielt, scheint ihre ganze, schier unendliche Energie ins Aufbegehren gegen dieses Schicksal zu stecken.
Weil sie mit dem Kind nirgendwo mehr Arbeit findet, muss sie zunächst mit den anderen Frauen an der dunklen Gasse stehen und auf Kunden warten. Aber anders als in Buniuels im gleichen Jahr entstandenen Los olviddaos gibt es hier noch einen Zusammenhalt unter den Ausgeschlossenen, was auch Acosta zu spüren bekommt als er erneut versucht, seine verhasste Nachkommenschaft aus der Welt zu schaffen. (Noch eine großartige Kamerafahrt geht entlang der Gesichter von etwa zwanzig Frauen auf dem Polizeipräsidium).
Sie findet einen besseren Laden in diesem Film, der gar nicht so tut, als wäre ihm das Nachtleben grundsätzlich suspekt. Ein Bahnfahrer-Cabaret mit dem schönen Namen La Maquína Loca, das in einer wahrlich verrückten, unheimlichen Industrie-Landschaft gelegen ist. Der bessere Chef, der sich ihr und dem Kind liebevoll annimmt wird gespielt von Tito Junco.
Außerdem finden sich in der zweiten Filmhälfte wechselseitige Rache (in ihrer Dramatik kaum zu überbieten ist die Szene, in der Sevilla als Racheengel mit Revolver durchs Fenster gesprungen kommt, um mit Acosta ein für alle mal abzurechnen) und Frauenknast (hier gibt es einen weiteren atemberaubenden tracking shot entlang von Besuchern und Gittern und Frauen in Sträflingskleidung. Es scheint, dass die Kamera Figueroas dann am tollsten ist, wenn sie an möglichst vielen Menschen entlang gleiten darf).
Alles in allem ein wunderbar fotografierter, fiebriger, atemloser Film, der mit dem emotionalen Exzess ernst macht.

Montag, 2. Juni 2014

Los insólitos peces gato / Der wundersame Katzenfisch (Claudia Saint-Luce, Mexiko 2013)

Die Inhaltsangabe, wie sie das Presseheft liefert, klingt einigermaßen furchtbar:
"Die 22-jährige Claudia lebt alleine in Guadalajara, Mexiko. Als sie mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus landet, lernt sie Martha kennen, eine alleinerziehende Mutter von vier Kindern, die trotz ihrer AIDS-Erkrankung voller Lebensfreude ist. Als Martha Claudia nach ihrer OP einsam nach Hause gehen sieht, lädt sie die junge Frau zu sich nach Hause ein. Ohne großes Aufheben wird Claudia Teil von Marthas eigenwilliger, trubulenter Familie, in der sie erstmals Zusammenhalt, Spaß und gemeinsame Mahlzeiten erlebt. Zunächst ist die junge Einzelgängerin vom lebhaften Haushalt überfordert, fühlt sich der Familie aber bald zugehörig und wächst langsam in die Rolle der Ersatzmutter hinein.
Als Martha auf einer gemeinsamen Reise ans Mutter zusammenbricht steht Claudia plötzlich vor der Frage: Ist sie bereit, sich vollends in die Familie zu integrieren und für die Kinder zukünftig die Verantwortung zu übernehmen?"
Wollte man möglichst kurz zusammenfassen, wie es Claudia Saint-Luce in ihrem ersten Langfilm gelingt, aus diesem Plot, der in etwa gleichviel Potenzial für eine abgeschmackte Komödie, ein schwülstiges Melodram und ein vor Gut-Gemeinheit geradezu triefendes Sozial-Drama bietet, einen grundsympathischen kleinen Film zu machen, dann müsste man wohl sagen: durch ein ordentliches Maß Bescheidenheit und eine bedingungslose Hingabe und Sympathie für ihre Figuren.
Die Regisseurin weigert sich mit bewundernswerter Entschlossenheit, ihre Protagonistinnen in den Dienst irgendwelcher Diskurse, Botschaften oder auch der Identifikationsstruktur des Zuschauers zu stellen.
Das beginnt schon in den ersten Szenen. Claudia (Ximena Ayala) liegt wach in ihrem Zimmer, dessen Wände mit Fotos und Zeitungsauschnitten voll geklebt sind und in dem ein ewiges Zwielicht zu herrschen scheint. Das Zimmer einer Frau, die nirgendwo angekommen ist in ihrem Leben, kein Kind mehr ist, aber doch auch nichts hat, was das Erwachsenendasein mit Sinn erfüllen könnte. Sie steht auf, setzt sich an die riesige Kühlbox, die ihr zugleich als Kühlschrank und Tisch dient, und isst eine Schale Fruit Loops, wobei sie eine bestimmte Farbe aussortiert und auf die Sofalehne legt - sehr zur Freude von ein paar Ameisen. Sie geht durch die ziemlich triste Siedlung, in der sie lebt und über eine Brücke zu ihrer Arbeit in einem Supermarkt. Wortlos bleibt ihre Beschäftigung, bei der sie Würstchen zum Probieren anbietet und die Kontrolle ihres Rucksacks durch den Pförtner zum Feierabend - wie überhaupt die einzigen gesprochenen Worte in dieser Exposition aus dem Radio kommen. Merklich geht es in diesen Szenen nicht ums Prekariat, nicht um Entfremdung und Einsamkeit in der Großstadt, sondern um den prekären, einsamen und entfremdeten Alltag einer konkreten Frau: Claudia.
So wie der Plot von den Figuren her gedacht ist, so die Form vom Inhalt. Wird Claudias langweiliger Alltag, in dem sich nichts zu bewegen scheint, in recht langen, statischen Einstellungen gezeigt, wird die Dynamik in der lichten Wohnung Marthas und ihrer Kinder zunächst mit der Handkamera eingefangen, die sich schnell mit den Figuren durch die Räume bewegt. Die Sprachlosigkeit und Erstarrung zuvor weicht beim ersten gemeinsamen Mittagessen Marthas mit der Familie einem Wirrwarr der Dialoge, gestikuliernder und Sachen über den Tisch reichender Hände und Arme.
Wenn sich Claudia langsam in die Familie einfindet, sich immer wohler und geborgener fühlt wird die Kamera wieder ruhiger, in statischen Zweier-Einstellungen werden die Gespräche mit jedem einzelnen der vier Kindern gezeigt, für die das neue Familienmitglied ganz unterschiedliche Funktionen erfüllt. Die übergewichtige adoleszente Wendy findet in ihr eine Gesprächspartnerin, um über ihre psychischen Probleme zu sprechen, die sich in Selbstverletzungen und dem Mischen obskurer "Cocktails" aus Alkohol und Medikamenten ausdrücken. Ale, die älteste, weint sich bei ihr über ihren Liebeskummer aus. Und der etwa zwölf-jährige Armando möchte - rein theoretische - Informationen übetr das Küssen von ihr haben.
Es gelingt dem Film dabei, die Probleme der Figuren ernst zu nehmen, ohne sie über zu dramatisieren oder in herkömmliche Psychologisierungen zu verfallen. Das gilt auch und vor allem für den ständig im Raum stehenden nahenden Tod der Mutter. Lisa Owen spielt Martha mit einer gerade in ihrem Verzicht auf überzeichnete Tragik und großes Pathos bewegenden Entschlossenheit, ihre Krankheit mit Würde zu tragen und ihr Leben bis zum letzten Tag auszukosten. 
Natürlich ist Los insólitos peces gato auch ein Film über ausbeuterische Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Auch erscheint durch die Film-Familie, die nicht nur keiner Heteronorm bedarf, sondern in der auch die Funktionen der Mitglider nicht genau geklärt sein müssen (Claudia übernimmt zugleich die Rolle von Tochter, Mutter und Schwester) die bürgerliche Kleinfamilie als das soziale und normative Konstrukt, das sie wohl immer schon war. Aber die Diskurse entstehen eben in diesem Film als Produkt der Erzählung, nicht anders herum.
Ein feministischer Film ist er nicht so sehr, weil er in einer Welt spielt, in der Frauen ohne Männer zurecht kommen (in der Szene, in der gezeigt wird, dass eine von Claudias Arbeitskolleginnen eine Affäre mit der Chefin hat, wirkt das vielleicht doch etwas redundant), sondern weil er Frauen zeigt, die partout nicht bereit sind, eine Opferrolle zu übernehmen.

Der Film startet am 10. Juli in den deutschen Kinos.

Montag, 12. Mai 2014

Robert Bolaño: Una novelita lumpen (Lumpenroman) (2002)

(Einfach mal eine Buchbesprechung. Der Text zur kongenialen Verfilmung von Alicia Scherson wird demnächst in der filmgazette zu lesen sein.)
 
Roberto Bolaños Lumpenroman ist ein Büchlein von großer Radikalität. (Der Diminutiv im Original-Titel: Una novelita lumpen ist wichtig, weil er die Kleinheit betont, hinter der sich die große Radikalität dieses Büchleins verbirgt.)

Eine junge Frau erzählt in der ersten Person. Ihr genaues Alter erfahren wir nicht. Ihr Name, Bianca, wird nur an einer Stelle erwähnt, betont beiläufig. Sie beginnt den Roman mit den Worten:

„Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle. Mein Bruder und ich hatten unsere Eltern verloren. In gewisser Weise rechtfertigt das alles. Wir hatten niemanden. Und das alles buchstäblich von heute auf morgen.“

Die Einfachheit und Klarheit, die Nüchternheit dieser Sätze ist keine Reduktion, sondern eine Bereinigung. Alles an Diskursen, an Konventionen des Erzählens oder der literarischen Gattung (welcher auch immer), an Tragik, an „Moral“, was sich von außen über den Bericht dieses Mädchens legen könnte, hat in diesen Sätzen nichts verloren. Wenn es überhaupt mitgedacht werden soll in der Geschichte, die ganz und gar Bianca gehört, ihre Geschichte ist, dann doch nur als etwas, das abwesend ist – wie die Eltern. Eng damit verbunden versteckt sich in diesen Sätzen die eine oder andere Falle. Die Überwindung eines Traumas, das Coming-of-Age, der Weg der adoleszenten Kriminellen in die bürgerliche Biographie, die übrigens nicht, wie es der erste Satz suggeriert, der Endpunkt der Erzählung sein wird, müssen zu Beginn aufgerufen werden, nicht um erfüllt, sondern um überwunden zu werden.

Über ihren ersten Freund berichtet die Erzählerin: „Dass ich mit meinem Freund Erfahrungen gesammelt hätte, konnte man eigentlich nicht behaupten. Er war ein Junge wie viele andere, ich mochte ihn, und eines Tages mochte ich ihn nicht mehr. Das ist alles.“ Der letzte Satz, das „Eso es todo“, das sich wiederholen wird, ist der Schlüsselsatz dieses Romans. Una novelia lumpen ist ein „Eso es todo“-Roman. Gewissermaßen steht dieses „Eso es todo“ als Punkt am Ende eines jeden Satzes. Als Negation all dessen, worum es in diesem Roman gehen könnte, aber nicht geht.  

Eines Tages bringt der Bruder der Erzählerin aus dem Fitness-Studio, in dem er arbeitet, zwei junge Männer mit. „Sie waren nicht seine Freunde, auch wenn mein Bruder das glauben wollte. Der eine war Bologneser, der andere Libyer oder Marokkaner. Trotzdem sahen sie aus wie Zwillinge. Der gleiche Kopf, die gleiche Nase, die gleichen Augen. Sie erinnerten mich an eine Tonskulptur, die ich vor kurzem in einer Zeitschrift im Friseursalon gesehen hatte.“ Mit diesen beiden Nicht-Figuren, über die wir als erstes erfahren, was sie nicht sind, deren Distinktionsmerkmale nicht moduliert, sondern verwischt werden, mit diesen ent-subjektivierten und „objektivierten“ Männern also, die zukünftig bei den Geschwistern leben werden, beginnt die Erzählerin ein sexuelles Verhältnis, das mit Begriffen wie Beziehung oder Affäre zu beschreiben, nicht den geringsten Sinn machen würde.

„In dieser Nacht, während ich im Bett lag und an sie dachte (…), das Licht ausgeschaltet und die Augen offen, ohne Hoffnung auf Schlaf, kam einer von ihnen in mein Zimmer und schlief mit mir. Ich glaube, es war der Bologneser.“ An anderer Stelle heißt es: „Einmal pro Woche, manchmal zweimal ließ ich sie in mein Zimmer. Ich brauchte nichts zu sagen, ich musste mich nur ein wenig gesprächiger zeigen als sonst oder sie intensiv anschauen (…), und sie begriffen sofort, dass sie mich in dieser Nacht besuchen konnten und die Tür offen sein würde.“ Und, viel später:

„An manchen Abenden (…) öffnete ich einem der Freunde meines Bruders die Tür, ließ aber das Licht aus und hielt die Augen geschlossen, denn unter keinen Umständen wollte ich wissen, wer von beiden mit mir schlief, und gab mich mechanisch hin und kam manchmal mehrmals hintereinander, worauf ich zuweilen mit heftigen, überraschenden Wutausbrüchen reagierte. Der Freund meines Bruders fragte mich dann, ob es mir nicht gut gehe, ob etwas mit mir sei, ob ich meine Tage kriegte, bevor er weiter redete und am Ende noch seine Identität verriet, erwiderte ich, er solle den Mund halten, oder machte Schscht, und er verstummte und vögelte wortlos weiter, so groß war die Überzeugungs- oder Überredungs- oder Ausredungskraft, die meine Worte mittlerweile besaßen.“

Die sexuelle Selbstbestimmung der Frau ist in Una novelita lumpen nichts, was sie sich erkämpfen müsste, sie ist viel eher eine Prämisse ihrer „Entwicklung“. Als identitätsstiftendes Moment funktioniert der Sex dabei offenbar nur, indem er die Identität des Partners negiert, zumindest: nicht erkennt. Das bemerkenswerte daran ist, dass Bolaño sich dabei jeglicher Wertung im Hinblick auf gängige sexuelle Ideologien enthält. Die Sexualität seiner Protagonistin soll weder „befreit“ noch „domestiziert“ werden, sondern einfach nur gelebt.

Ihr Bruder und die beiden Männer schmieden einen Plan, der sie aus ihrer finanziellen Misere befreien soll. Sie soll sich mit dem ehemaligen Schauspieler und Bodybuilder Maciste einlassen, der sich, nachdem er bei einem Unfall das Augenlicht verlor, komplett in seinem riesigen Anwesen zurückzog. Sie soll den Tresor finden, in dem er seine verbleibenden Reichtümer aufbewahrt.    

Doch die Erzählerin fügt sich nicht in die männlichen Pläne. Entwickelt sie zu Maciste bald eine innigere Beziehung als sie sie zu den jüngeren Männern je hatte, so ist diese doch auch er nicht der Endpunkt ihrer Entwicklung. Ihre Sexualität lässt sich weder ausbeuten noch in der „Liebe“ „binden“. Sie braucht weder „Zuhälter“ noch „Retter“.

Natürlich ist Una novelita lumpen ein „feministischer Roman“. Es geht um die Emanzipation, die Ermächtigung einer jungen Frau, die sich in der Männerwelt, die sie umgibt, ihre Unabhängigkeit erkämpft. Ihr Kampf beginnt damit, dass sie eine Stimme hat (übrigens: als einzige Figur in diesem Roman, in dem es keine Dialoge im eigentlichen Sinne gibt, alle Gespräche werden von der Erzählerin in indirekter Rede wiedergegeben). Die einzige Macht, die sie durch ihre Stimme zu Beginn zu haben scheint ist die, über ihr eigenes Stigma zu entscheiden: „ich bin keine Nutte, ich war eine Kriminelle, aber keine Nutte.“ (Nicht das das wenig wäre.) 

Am Ende ihres Berichtes beobachtet sie ein Gewitter, „das sich nicht am Himmel über Rom befand, sondern in der Nacht von Europa oder im Raum zwischen zwei Planeten, ein geräuschloses und blindes Gewitter, das aus einer anderen Welt stammte, einer Welt, die nicht einmal die erdumkreisenden Satelliten einfangen können, wo es eine Lücke gibt, die meine Lücke ist, einen Schatten, der mein Schatten ist.“

Einerseits wohnen wir in Una novelita lumpen einer Subjektwerdung bei, erleben wie die Frau, die von Anfang an „Ich“ sagt, erst nach und nach zu einem Ich wird. Der große Traum dieses Büchleins ist jedoch der vom Werden eines Subjekts, das kein bürgerlich psychoanalytisches und kein normativ gegendertes ist. Ein utopisches Subjekt, das nicht von dieser Welt zu schein scheint.

Darin besteht die Größe seiner Radikalität.

Zitiert nach: Roberto Bolaño: Lumpenroman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, München 2010.

 

Montag, 30. Dezember 2013

Me la debes (Carlos Cuarón, Mexiko 2002)

Als Bonus auf der Y tu mamá también-Blu-ray: ein netter Kurzfilm von Alfonso Cuarón-Bruder und Ytmt-Co-Autor Carlos.
Ein Ehemann kommt früher als gewohnt nachhause. Er ist überrascht, seine Frau schon im Bett anzutreffen. Sie weist ihn darauf hin, dass sie verdächtige "obszöne" Geräusche aus dem Zimmer der Tochter gehört hat, bittet ihn nachzusehen, ob sich nicht ihr Freund heimlich zu ihr geschmuggelt hat. Der Vater tut wie ihm geheißen, was sich wenig später als Ablenkungsmanöver der Mutter erweist, hat sie doch selbst im Schrank einen Mann versteckt, den sie nun unbemerkt herauslassen will. Leider kehrt der Vater zu schnell zurück, der Lover muss sich wieder verstecken. Doch der Mann beschließt, hatte er doch selbst nun einen Vorwand, dass Schlafzimmer zu verlassen, noch schnell ins Erdgeschoss zu gehen, um in der Küche eine Nummer mit der Hausangestellten zu schieben. Für den Lover im Schrank bietet sich die Gelegenheit zu fliehen, er wird jedoch von der Tochter abgefangen, die ihn in ihr Zimmer zieht, wie sich herrausstellt, ist er ihr Freund, der nur kurz "aufs Klo" gegangen ist. Die Mutter hört wieder Geräusche aus dem Zimmer der Tochter und sieht nun selbst nach dem Rechten. Der Lover muss sich nochmals verstecken, dann ist der Weg frei. Während sich die Ehe-Leute erschöpft Gute Nacht sagen, darf er sich im Garten mit dem Wachhund der Familie anfreunden...
Die intendierte Kritik an verlogener katholischer Sexualmoral fällt ziemlich schlicht aus. Die erste wie die letzte Einstellung zeigt ein Foto der Familie im goldenen Rahmen auf der Kommode unterm Kruzifix. Gegen die Albträume, die die Tochter angeblich zum Schreien bringen, raten die Eltern einfach einige Vaterunser und Ave Maria zu beten. Schön ist jedoch, dass der Film für seinen Inhalt eine durchaus gelungene Form findet. Wenn der Vater zu Beginn das Treppenhaus zu sakralen Chören durchschreitet wirkt das wie aus einem Horrorfilm. Überhaupt versteht es die Inszenierung die Räume schrecklich eng zu machen. Das ganze Haus ist vollgestopft mit Heiligenbildern, hier fühlt man sich ständig beobachtet. (Die erinnerungswürdigste Einstellung des Films dreht diesen Blick um: Eine Subjektive der Hausangestellten im Geschlechtsakt begriffen, ihr Blick nähert und entfernt sich im Rhythmus der Stöße von einem Jesus-Bild an der Wand.) Türen führen hier nie nach draußen, bestenfalls geben sie Möglichkeiten, sich zu verstecken. Dazu die Tonspur: eine wahre Symphonie des Grauens aus Telenovela-Geblubbere aus dem Fernseher, quietschenden Bettfedern, Gestöhne und dem Kläffen des Hundes. In etwas so muss die Hölle klingen. Alles in allem: sarkastisch vergnügliche und kurzweilige zwölf Minuten.

Auf youtube gibts den Film übrigens auch:

Donnerstag, 26. Dezember 2013

Y tu mamá también (Alfonso Cuarón, Mexiko, USA 2001)

Für mich ein ganz besonderer Film. Schon aufgrund meiner persönlichen Rezeptionsgeschichte. Zum ersten, zweiten, dritten und wahrscheinlich auch noch zehnten Mal sah ich ihn während meines Jahres als Zivi in Bolivien. Die Video-Kassette, eine jener Raubkopien, die man dort für ein paar Cent auf dem Markt kaufen kann, lief für mich und meinen deutschen wie bolivianischen Freundeskreis in La Paz auf Dauerrotation. Jedes Mal verstanden wir etwas mehr von dem schwierigen nicht untertitelten Spanisch - oder man sollte in diesem Fall wohl eher sagen: Mexikanisch. Mit jeder Sichtung schienen wir etwas tiefer einzutauchen in die Komplexität dieses Films, der schließlich, indem er eine eigentlich recht einfache Geschichte über das Erwachsenwerden erzählt, von Liebe, Freundschaft, Sex und dem Leben handelt - und von der Vergänglichkeit all dessen im Angesicht des Todes. Der seine kleine Geschichte diskursiv so einbetet, dass sie zur Geschichte einer ganzen Gesellschaft wird.
Julio (Gabriel García Bernal) und Tenoch (Diego Luna) sind um die zwanzig und leben in Mexiko City. Ihre reichliche Freizeit verbringen sie mit Partys und Kiffen, mit Sex und - vor allem - damit, über Sex zu reden. Die Freundinnen der beiden, Ceci und Ana, fliegen zu Beginn nach Europa. Wenig später lernen Julio und Tenoch Luisa (Maribel Verdú) kennen, die Frau von Tenochs Cousin Jano, Spanierin und etwa zehn Jahre älter als sie. Spontan und nicht wirklich ernsthaft laden sie sie ein, mit ihr an einen frei erfundenen Strand namens La boca del cielo zu fahren. Als Luisa am nächsten Tag nicht nur die sehr negativen Resultate einer ärztlichen Untersuchung bekommt, sondern auch noch einen Anruf von Jano, der ihr, sturzbetrunken und unter Tränen, einen Seitensprung gesteht, ruft sie Tenoch an, um auf die Einladung zurückzukommen. Nun ist es wiederum an den beiden Jungs, zu improvisieren und wenig später geht es mit dem Auto los in Richtung Pazifik-Küste. Die anfangs ziemlich ausgelassene Stimmung wird zunehmend angespannt, als Luisa erst mit Tenoch, später dann auch mit Julio Sex hat...
Durch den Film zieht sich ein Voice-Over, das seiner Geschichte einen größeren Rahmen gibt. Einerseits, indem es biographische Details der drei Hauptfiguren liefert - gerade auch solche, die sie einander nie erzählen würden. Andererseits werden auch immer wieder im Vorbeifahren die Geschichten von Menschen, Orten oder Begebenheiten erzählt, deren Weg die Hauptfiguren kreuzen. Z. B. die des armen Wanderarbeiters aus dem ländlichen Michoacan, der zu Beginn tot gefahren wird, was einen Stau verursacht, in dem die beiden Kumpels stehen. Oder einen Tag aus dem Leben des mexikanischen Präsidenten, der Ehrengast auf der Feier ist, wo sie Luisa kennen lernen. Oder gegen Ende gar die einiger entlaufener Schweine, die die Zelte der drei Camper am Strand verwüsten. Alfonso Cuarón und sein Bruder Carlos, mit dem er das Drehbuch schrieb, stellen die "universalen Lebensthemen" des Coming of Age-Films damit in einen sehr konkreten historischen und soziopolitischen Kontext.
Die Kamera und der Aufbau der Szenen unterstreichen dieses zentrale Anliegen des Films. In der Szene etwa, in der Luisa Janos Anruf erhält, wie viele andere in einer handgehaltenen Plansequenz aufgelöst, sehen wir Luisa auf dem Bett. Zunächst am Telefon, verzweifelt versuchend, ihren Freund zu beruhigen. Dann, nachdem sie aufgelegt hat, bitter weinend. Die genau kadrierte Einstellung, eine jener wunderschönen, die der Film ganz der bezaubernden Maribel Verdú widmet, zeigt oben links ein Fenster, durch das man ins Fenster des Nachbarhauses gucken kann, hinter dem sich Menschen, nur als Schatten erkennbar, bewegen. Überall an den Rändern der Bilder und der Straßen scheinen sich andere Geschichten abzuspielen. Welche, die es vielleicht eben so wert wären, erzählt zu werden.
Ein anderes Beispiel ist die Szene unmittelbar vor der Abreise. Wir sehen Tenoch, Julio und Luisa in ihren jeweiligen Wohnungen. Das prunkvolle in Glas und Marmor gehaltene Haus der Familie Tenochs, durch das die Kamera einer Hausangestellten zu dem Sofa folgt, auf dem er sitzt. Der einfache, etwas kitschige Stil einer prekären lateinamerikanischen Mittelschicht in der Wohnung, die Julio mit seiner Mutter und seiner Schwester teilt. Schließlich die geschmackvolle, mit Büchern vollgestopfte Wohnung des Intelektuellen - Jano ist Schriftsteller -, in der sich die Zahnarzthelferin Luisa, wie es eine Passage des Voice-Overs später nahe legt, nie wirklich heimisch gefühlt hat. Der Film nimmt diese "sozialen Räume" nicht einfach nur als Hintergrund für seine Figuren, sondern lässt sich viel Zeit, sie genau zu "erforschen". In Y tu mamá también werden weder die Figuren zu bloßen Typen eines bestimmten Milieus, noch dient letzteres bloß als ein device der Figurenzeichnung. Immer geht es um die Beziehungen, nicht nur die zwischenmenschlichen, sondern auch die zwischen Großem und Kleinen, zwischen dem Individuum, der "Klasse" und der Gesellschaft als ganzem.
 Natürlich bietet der Film reichlich Stoff für psychoanalytische und/oder gender-theoretische Lesarten (siehe etwa hierhier oder hier). In Szene in dem Schwimmbad, an dem Tenochs Vater Teilhaber ist, liegen die beiden Freund jeweils auf einem Sprungbrett und onanieren. Nacheinander gehen sie im Dialog und ihrer Phantasie verschiedene Frauen durch - von gemeinsamen Bekannten bis Selma Hayek. Schließlich: "La espano...ol...la...ahh." Und es plumpst, vom Beckenboden aus gefilmt, Sperma ins Wasser. Auch sind ihre Schwänze, vornehmlich der des jeweils anderen, ein beliebtes Gesprächsthema. Gegen Ende kommt es zu einem Dreier zwischen Julio, Tenoch und Luisa. Der Film löst diese, für (vorwiegend heterosexuelle) Poronographie typische Konstellation homosexuell auf - und bringt damit wohl den immer schon latent homoerotischen Gehalt der Phanatasie von zwei Männern, die eine Frau ficken, an die Oberfläche. Und es kann wirklich niemand behaupten, diese Szene sei nicht von langer Hand vorbereitet. Luisa, ca. 30 Jahre und ein bisschen weise, durchschaut nicht nur die Absichten der beiden Jungs und die Strukturen des Begehrens, die dahinter stehen, die ödipale Wunschphantasie wird auch zur "kastrierenden" Mutter. In den Sex-Szenen mit Luisa werden aus den jungen Männern Kinder. Ungestüm, verlegen, ängstlich im Angesicht der Frau, die ihnen so ihrer Männlichkeit beraubt - zumindest im Sinne ihres machistischen Ideals des männlichen Souveräns. Wenn Julio und Tenoch ihr Erlebnis im Nachhinein nur totschweigen können, dann siegt in diesem Film einmal mehr die gesellschaftliche Norm, in diesem Fall der machistische Diskurs, über Bedürfnisse und Begehren der Einzelnen.
Ullrich Behrens konzentriert sich in seiner Besprechung eher auf den gesellschaftskritischen Gehalt des Films. Er schreibt: "»Y tu mamá también – Lust for Life!« ist ein Film über eine Welt, die sich selbst genügsam, selbstgerecht geworden ist, in der die Frage nach irgendeinem Sinn, dem man seinem Leben gibt, oder nach dem Schicksal anderer verloren gegangen zu sein scheint wie ein Unwetter im heißen Sommer, das nächste Woche nicht mehr erinnert werden wird. »Y tu mamá también« heißt »Mit deiner Mutter auch«, mit deiner Mutter habe ich auch geschlafen, und es kommt noch nicht einmal darauf an, ob dies wahr ist oder eine prahlerische Lüge; es zählt nur die Bedeutung dieses Satzes, dass es nämlich bedeutungslos geworden ist, ob es stimmt oder nicht. (...) Niemand weiß mehr, worauf es im Leben ankommt. Niemand stellt sich überhaupt die Frage, worauf es ankommen könnte. Selbst der Tod wird angesichts dieser Situation bedeutungslos."
Obwohl ich beide Deutungen nachvollziehen kann (und teilweise mit ihnen übereinstimme) scheint mir darin doch etwas Entscheidendes zu fehlen, was den Reiz dieses Filmes ausmacht. (Etwas, das ich als ich den Film kennen lernte, also als Gerade-nicht-mehr-Teenager auf Abwegen, wahrnahm, aber auch bei der jüngsten Sichtung des Films vor wenigen Tagen). Es ist die Liebe des Regisseurs zu seinen Figuren, die nicht unkritisch, aber doch immens ist. Die eindeutig sympathisierende Darstellung einer Jugendkultur und ihrer Idiosynkrasien widerspricht den gesellschafts- oder machismo-kritischen Deutungen des Films nicht, dennoch greift zu kurz, wer sie einfach übersieht. Es geht in dem Film auch und nicht zuletzt um einen spezifischem Style, Musik und - vor allem - Sprache (es wird fast zum running gag, dass Luisa sich erkundigen muss, was bestimmte Begriffe im mit Kraftausdrücken und Mexikanismen gesättigten Jive der Jungs bedeuten). Auch ich sehe den Pessimismus, den Behrens an dem Film ausmachte, ordne ihn aber ganz anders zu. Der Film gibt sich keinerlei Illusionen darüber hin, wo die Reise hinführt. Darüber, wie es mit der Jugend, der Liebe, der Freundschaft und irgendwann auch dem Leben ausgeht. Die Reise, die er beschreibt, stellt für alle drei Figuren einen Ausbruchversuch da. Dass dieser von vornherein vergeblich ist, macht ihn nur umso sympathischer. Anderthalb Stunden gucken wir drei Menschen zu, sie sich abmühen im Kampf mit dem Nichts. Sie quatschen, lachen, streiten, trinken und vögeln an gegen die Vergänglichkeit, das Erwachsenwerden, den Tod. Dann ist der Film vorbei - und mit ihm (für Luisa) das Leben und (für Julio und Tenoch) die Jugend.



Mittwoch, 23. Oktober 2013

Movie of the Week 5: Alambrista! (Robert M. Young, USA 1977)



Zu Beginn trifft Roberto, gerade Vater geworden, aus der Not heraus, aber doch betont nüchtern eine Entscheidung. In die USA möchte er gehen, um seiner Tochter eine Schulbildung finanzieren zu können, damit seine Familie einmal etwas anderes zu Essen haben soll, als die ewigen Kartoffeln, die das einzige sind, was er sich mit der harten Arbeit mit dem Pferde-Pflug auf dem Feld in Mexiko finanzieren kann. Seine Mutter fleht ihn an, nicht fortzugehen, befürchtet, er werde nie wiederkommen, wie sein Vater, der vor vielen Jahren ebenfalls zum Arbeiten in Richtung Norden ging. Young erzählt das ohne großes Pathos, aber mit viel Empathie. Auf der Heckscheibe des Busses, der Roberto zur Grenze bringen wird, durch die wir seine Frau mit dem Kind auf dem Arm zum letzten Mal sehen, prangt ein Davidstern. Ein gelobtes Land wartet dann aber gerade nicht auf ihn. Sondern ein ebenso gefährliches wie entbehrungsreiches Leben. Noch mehr Feldarbeit, die für ihn durch die Mechanisierung nicht einfacher wird. Als Tagelöhner erntet Roberto Tomaten, Erdbeeren, Trauben, Salat und Gurken. In ständiger Angst vor den Einwanderungsbhörden, la migra, und der "Güte" und den Launen seiner Arbeitgeber hilf- (weil: rechts-)los ausgeliefert.


1977 war Alambrista! die erste Auseinanderstzung mit den Lebens- und Arbeits-Verhältnissen illegal eingereister Mexikaner im US-Kino. Umso erstaunlicher ist die gänzlich ideologiefreie behutsame Art, wie der Film sein Thema behandelt. Das gelingt unter anderem durch die Konzentration auf seine Hauptfigur, deren Schicksal für das von Millionen steht, und die doch nie zum bloßen Repräsentanten, zum Typ verkommt. Das Geschehen wird konsequent aus der Perspektive Robertos gezeigt. Er ist nicht der Fremde, der Andere, sondern eben die US-amerikanische Lebenswelt sieht in seinem Blick - nicht nur bei den  Ritualen eines freikirchlichen Gottesdienstes - ziemlich befremdlich und sonderbar aus. Auch das Unrecht der Ausbeutung und Instrumentalisierung der "Illegalen", wird ganz aus der Perspektive Robertos gezeigt. Nach seiner "Rückführung" durch die Behörden nach Mexiko, überquert er abermals die Grenze mithilfe einiger "Coyotes", die die Arbeiter gezielt als Streikbrecher auf einer Plantage einsetzen - und sich dafür noch bezahlen lassen: die 200 Dollar für die Kosten des Menschenschmuggels werden ihnen von ihrem Lohn abgezogen.  

"El alambre" bedeutet im Spanischen der Draht, "Alambrista" heißt Seiltänzer und ist zugleich ein Slangbegriff für die undokumentierten mexikanischen Einwanderer. Ein einziger Drahtseilakt ist denn auch dieser Film, der manchmal schlingert, aber doch nie fällt, die Lebensbedingungen seines Protagonisten ungeschönt darstellt, ohne in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu kippen. Das Tragische und das Komische gehen hier fließend ineinander über oder liegen doch nur einen harten Schnitt voneinander entfernt. Neben dem Anprangern der Verhältnisse steht die zutiefst humanistische Vorstellung von einer Verbundenheit zwischen den Marginalisierten dieser Erde - ob braun oder weiß, ob mit Green Card oder ohne. Dass Young vom Dokumentarfilm kommt, sieht man Alambrista!, seinem ersten abendfüllenden Spielfilm, durchaus an. Die Besetzung besteht aus professionellen Schauspielern und Laien. Wenn Roberto unmittelbar nach seiner ersten Überquerung der Grenze in ein notdürftiges Lager von illegalen Einwanderern kommt, werden diese von illegalen Einwanderern "gespielt", wobei die Regie-Anweisung, so berichtet Co-Produzentin Sandra Schulberg im Gespräch nach dem Film im Zeughauskino, lautete, zu tun, was sie immer tun. Gerade in seiner Darstellung der liebevollen Begegnungen, während Robertos Odyssee durch die südliche USA, hat der Film aber auch keine Berührungsängste mit dem Genre-Kino. Wenn Roberto auf Joe trifft, Mexikaner wie er, allerdings inzwischen mit Englischkenntnissen und Arbeitserlaubnis, wird der Film zu einem buddy movie. Joe bringt ihm, in einer der wunderbar witzigen Szenen, von denen es gar nicht wenige gibt, bei, con cofianza, mit Selbstvertrauen also, zu gehen und in einem US-amerikanischen Café immer "ham, eggs and coffee" zu bestellen. Wenn er die arme alleinerziehende Kellnerin Sharon kennenlernt, bahnt sich mit der fragilen Romanze eine ebenso fragile romantische Komödie an. Wenn diese Episoden dann jeweils sehr abrupt enden, spielt Young nicht selbstverliebt mit den Erwartungen des Zuschauers, sondern lässt die bedrückende Realität über die Erlösungversprechen des Genres triumphieren. Die migra gewinnt gegen die Liebe. Doch ganz am Ende gibt es doch Licht am Horizont, ohne dass die Anklage dieses Films dadurch entkräftet werden würde.
Der würdige und wundervolle Abschlussfilm der schönen Reihe "Cinema of Outsiders" im Zeughauskino zeigt, wie ehrlich, herzlich, humor- und hoffnungsvoll politisches Kino sein kann. (Aber leider viel zu selten ist.)



Mehr zur Reihe kann man hier und hier lesen.

Freitag, 30. August 2013

Fantasy Filmfest 2013: Come out and play (Makinov, Mexiko 2012)

Als braver Rezensent dieses Filmes muss man wohl mit der Frage beginnen: Wer steckt dahinter? Wer ist der Regisseur, ach was, das mastermind hinter dem Namen Makinov und der Maske?
Hier die Fakten: Makinov hat, so will es die IMDb und so sollen wir es wohl glauben, vor Come out and play nichts gemacht, dafür hier gleich alles selber: Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt, Sound, Produktion: Makinov. Makinov gibt seine Identität nicht preis, er tritt in der Öffentlichkeit und also auch am Set ausschließlich unter einer roten Kapuze auf. Weil es sich so schwer reist, hat er zum Filmfestival in Toronto, zur Aufführung des Films eine Art Bekenner-Video geschickt: Makinovs Manifest. "Warum," fragt Makinov darin auf Russisch mit verzerrter Stimme und englischen Untertiteln, "sehen wir uns im Kino Filme an, in denen dämliche Superhelden die Welt retten, während es in dieser in Wirklichkeit so viel Schmerzen gibt? Warum sollte man sich Fotos auf Facebook angucken, wenn man in den Wald gehen und ficken könnte?" Hach ja, große Fragen unserer Zeit, pontiert auf den Punkt gebracht. Danke, Makinov! Du großer (wenn auch etwas reaktionärer) Revolutionär im Subcomandante Marcos-Look. Ob das alles nun nur Marketing ist oder ob da einer auch persönlich eine ganze Menge Aufmerksamkeit braucht, sei an dieser Stelle einfach mal dahingestellt. Auf twitter jedenfalls findet man den social media-Hasser als "onegodmakinov". Aha.
Und der Film? Der ist ein Remake von Narciso Ibáñez Serradors ¿Quién puede matar a un niño?, dessen Handlung um ein Paar, das es beim Urlaub auf einer kleinen Inseln mit mordenden Kindern zu tun bekommt, wurde von Spanien nach Mexiko verlegt. Der Mann und seine hochschwangere Frau sind hier nicht mehr Engländer, sondern US-Amerikaner. Ansonsten hält sich Makinov geradezu sklavisch an den Handlungsverlauf des Vorgängers, und stellt einige von dessen markantesten Szenen (die tote Frau im Supermarkt, das erschossene Kind am Fenster, die western-artige Gegenüberstellung des Paares und der Kinderhorde gegen Ende) ziemlich originalgetreu nach. Come out and play ist die Art von Horrorfilm-Remake, an der es erstmal nicht viel auszusetzen gibt, und die die Welt denoch nicht braucht.
Nichts auszusetzen, weil jeder, der von einem Horrorfilm härterer Gangart nicht mehr erwartet als 90 Minuten ohne dramaturgische Durchhänger, dafür mit einigen gekonnt in Szene gesetzten thrills und kills, hier durchaus auf seine Kosten kommt.
Von der Welt nicht gebraucht, weil Makinov nicht einmal den Verusch unternimmt, dem Stoff irgendetwas Neues abzugewinnen. Er liefert eine nicht nur konventionellere, künstlerisch uninteressantere, sondern letztlich auch harmlosere Version des Films ab. Das Verhältnis von Original zu Remake findet schon in den Titeln seinen Niederschlag. Während ¿Quién puede matar a un niño? sowohl die Transgression als auch das moralische Dilemma, um die es Serrador ging, schon im Titel trug, passt es gut, dass Makinov diesen durch den generischen Come out and play ersetzt.
Der achso rebellische Filmemacher geht gleich doppelt auf Nummer Sicher. Einerseits hält er sich eben so streng an die Vorlage, dass wer diese nicht kennt (aber eben auch nur der) durchaus einen intensiv inszenierten Schocker zu sehen bekommt. Andererseits schmiegt er sich mit Wackelkamera und Cinemascope, mit einigen blutigen Details, die zu den wenigen Abweichungen von Serradors Film zählen, und Hauptdarstellerin Vinessa Shaw (Genre-Fans wohl vor allem durch das The Hills have Eyes-Remake bekannt) sanft an den Stil neueren Horror-Kinos made in Hollywood an. Come out and play will also einerseits schockieren, andererseits niemanden ästhetisch überfordern.
Ein Film von jemandem, der der Welt irgendetwas, es muss ja nicht gleich etwas neues sein, zu sagen hätte, würde anders aussehen. Guerilla filmmaking, was auch immer das auch sein könnte, so wie so.

Dienstag, 28. Mai 2013

Abel (Diego Luna, Mexiko 2010)

Das Regie-Debüt von Diego Luna, der mir als Darsteller vor Allem aus „Y tu mamá también“ in guter Erinnerung ist, beginnt als Drama um die neunjährige Titel-Figur mit dem biblischen Namen. Abel kehrt nach zwei Jahren aus einem Krankenhaus, in dem er wegen einer nicht genauer bestimmten psychischen Erkrankung behandelt wurde, nach Hause zurück, zu seiner Mutter Cecilia, dem jüngeren Bruder Paul und der älteren Schwester Selene. Der Vater hat sich ebenfalls vor zwei Jahren aus dem Staub gemacht, um auf der „anderen Seite“ (wie man das Land jenseits der nördlichen Grenze in Mexiko mythisch verklärend nennt) zu arbeiten. Abel spricht kein Wort, schläft kaum, starrt meist teilnahmslos ins Nichts, bemalt seine Hände mit Buntstiften. Den örtlichen Ärzten fällt zu diesem Zustand nicht mehr ein als ständig neue Tabletten zu verschreiben, dennoch weigert sich Cecilia, ihn ins Kinderkrankenhaus im weitentfernten Mexiko-City zu bringen.

Ein einziges Wort Abels genügt, um aus dem Drama eine groteske Komödie werden zu lassen: „Selene!“ herrscht er seine Schwester am Essenstisch an. Damit kehrt sich nicht nur Abels Schweigen in sein Gegenteil um (er redet von nun an wie ein Wasserfall), sondern er wechselt auch seine Position innerhalb der familiären Hierarchie. Er imaginiert und generiert sich fortan als sein eigener Vater, füllt die Leerstelle aus, die Anselmo, der wirkliche Vater, wohl auch vor seinem Verschwinden kaum ausfüllte. So offensichtlich freudianisch diese Phantasie auch sein mag, um Psychologisierungen (oder auch Psychoanalyse-Parodie) geht es Luna glücklicherweise nicht. Vielmehr nutzt er sie als Quelle grotesker Situationskomik, die sich vor allem aus den Reaktionen der Familie ergibt. Cecilia ist ein Kind, das sich für seinen eigenen Vater und damit ihren Mann hält, lieber als das apathische Etwas, das ihr geliebter Sohn vorher war. Paul, dem sein „gestörter“ Bruder zuvor nur eine Last war, kann nun durchaus zu ihm aufblicken und auch Selene spielt mit, und sei es auch nur, um von nun an wieder zwei Elternteile zu haben, gegen die die Fünfzehnjährige rebellieren kann.

Einerseits steigert sich die Komik noch als plötzlich, so unangekündigt wie er einst verschwand, Anselmo zurückkehrt, andererseits kippt der Film hier leider auch ins allzu Pädagogische, allzu gut gemeinte. Schnell zeigt sich, dass Abel ein besserer Vater ist als Anselmo es je war. Anselmo war die meiste Zeit gar nicht in den USA, ist nicht wegen seiner Familie zurückkehrt, sondern um das Haus zu verkaufen, hat inzwischen in einer anderen Stadt mit einer anderen Frau ein Kind, zeigt das Foto von den beiden, stolz, wie eine Trophäe einem Kumpel beim gemeinsamen Besäufnis und wird fuchsteufelswild als er erfährt, dass Cecilia in seiner Abwesenheit ebenfalls eine Affäre hatte. Wollte man einem Neunjährigen erklären, was „machismo“ ist, ohne dabei freilich auf den erhobenen Zeigefinger ganz zu verzichten, man müsste es wohl in etwa so anstellen. Jeder aber, der nun leider schon etwas älter ist, darf sich von solch plakativen Plumpheiten durchaus intellektuell unterfordert und bevormundet fühlen.

Schön dann aber wieder, wie der Film auf einer leise hoffnungsvollen Note endet, die von falscher Versöhnlichkeit vollkommen frei ist. Wie er am Ende nur das zu retten versucht, was vielleicht noch zu retten ist.