Mittwoch, 16. April 2014

Eine Stadt wird erpresst (Dominik Graf, Deutschland 2006)

Leipziger Nächte sind lang... In medias res schmeißt uns die erste Einstellung in eine der Disko-Szenen, die beinahe schon ein Markenzeichen von Dominik Graf-Filmen sind, mitten zwischen die in den bunt blinkenden Lichtern tanzenden Körper. Parallel montiert wird ein vermummter Mann, der einen Strommast empor klettert und anderes terroristisches Treiben unter anderem mit auf ferngesteuerte Autos montiertem Sprengstoff. Die Synthese entsteht mit einem Knall, als ziemlich buchstäblicher Kurzschluss von These und Antithese: die Bombe auf dem Strommast geht hoch und die Lichter in der ganzen Stadt gehen aus - auch in der Disko, in der unter anderem ein paar Beamte der Leipziger Polizei Geburtstag feiern.
Mit einem Knall, mit Wucht prallt in diesem Film auch zusammen, wird miteinander kurzgeschlossen, was zusammen zu denken wohl erst Mal schwerfallen würde: der deutsche Fernseh-Krimi des vergangenen Jahrzehnts mit den stilistischen Mitteln des italienischen Genre-Kinos der Sechziger und Siebziger, des damals populären poliziesco etwa.
Schon die Gestaltung des Titels und der Credits sieht aus, als hätte man sich in der Dekade geirrt und im folgenden wird flink auf allerlei Schilder, Fotos, Gesichter und Augenpartien gezoomt, werden Dialoge nicht in Schuss und Gegenschuss aufgelöst, sondern mit Reißschwenks, dass es nur so eine Art hat. Das Geniale daran, das durchaus dialektische Kunststück, das Graf ein ums andere Mal mit Bravour gelingt ist, dass er gerade über die extreme Stilisierung, über den Einsatz von Mitteln, die so offensichtlich nichts mit dem Produktions-Ort, -Zeitpunkt und -Zusammenhang, in dem sein Film steht und entsteht, zu tun hat, sehr konkreten deutschen - im Fall von Eine Stadt wird erpresst: ostdeutschen - Realitäten der Gegenwart näher kommt, als man es vom deutschen Film und Fernsehen gewöhnt ist.
Es geht also um die Erpressung einer ganzen Stadt. Diamanten im Wert von zwanzig Millionen Euro soll Leipzig bereitstellen, sonst folgen, so heißt es von Seiten der offenbar bestens organisierten Täter, auf die Explosion auf dem Strommast weitere, an zentralen Stellen, in wichtigen Gebäuden. Mit der Ermittlung betraut werden der alternde, schon zu DDR-Zeiten im Polizeidienst tätige Kommissar Kalinke (Uwe Kokisch) und seine jüngeren Kollegen Ronny Banderes (Misel Maticevic) und Maria Rogalla (Julia Blankenburg).
Aus der genau gefassten Gegenwart des Leipzigs im Jahr 2006 führen sie die Spuren in die Vergangenheit, in die Achtziger und frühen Neunziger, zur "Wende", die für viele eher ein "Bruch", ein "Einschnitt" war. Je weniger diese Vergangenheit "aufgearbeitet" wurde, je weniger der Systemwechsel die Menschen "mitgenommen" hat, an die Stelle des Alten etwas Neues, eine bessere - oder nur überhaupt irgendeine - Zukunft getreten ist, desto mehr bleibt das Vergangene gegenwärtig - als Gespenst. Eine Stadt wird erpresst ist auch - obgleich weniger explizit als andere Filme des Regisseurs - ein Gespensterfilm.
Da passt es umso besser, dass die Ermittlungen schnell an einen gespenstischen Ort führen: Das Dorf Gralwitz soll dem Tagebau weichen. Verfall so weit das Auge reicht, heruntergekommene Fachwerkfassaden, eingefallene Häuser, grau in grau, das Gespenst eines Ortes aus einer anderen Zeit, einem anderen Land. Die Wenigen, die geblieben sind, um den Bürgermeister Rössler (Lutz Teschner) und den Unternehmer Naumann (Thomas Neumann), wehren sich erbittert. Eine Festung des Widerstands scheint dieser Ort, vollgehängt mit Plakaten gegen den "Heimatklau". Auch das Gespenst einer Utopie: Die Firma OstRotor hat Naumann hier aufgebaut, der durch die Wende arbeitslos wurde. Aus sechs Mitarbeitern zu Beginn wurden 42. "Und die Firma gehörte uns allen. Und das funktionierte diesmal."
Die Begegnung mit Naumann wird für Kalinke auch zu einer Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. An der Vertuschung eines Unfalls, dem Naumanns Tochter zum Opfer fiel, durch die Stasi hat er sich mitschuldig gemacht. Die Frage, wie weit man in einer Diktatur mitmachen musste, wie weit man sich wehren konnte wird aufgeworfen. Wer aber eine fernsehzuschauergerechte, säuberlich die Guten von den Bösen trennende Antwort erwartet, der ist im falschen Film.
Ein weiterer Handlungsstrang, eine weitere Spur führt übrigens zur Russenmafia, in Hotelzimmer mit Koks und Nutten, in denen Jahrgangschampagner getrunken und mit Geldscheinen rumgeworfen wird.
Die Redundanz, das beständige Zu-Viel des Inhalts, entspricht dem Einsatz der filmischen Mittel. Wie durch die Gegenwart des wiedervereinigten Deutschlands die Vergangenheit des geteilten spukt, so durch diesen Fernsehfilm als Zitat das vergangene, das untergegangene Kino - eben der Italo-Sleaze.
Mustergültig werden die Erzählstränge am Ende zusammen geführt, der Fall lückenlos aufgeklärt. Wo aber im Krimi von einst durch die Aufklärung eine Ordnung wiederhergestellt wurde, ein Bruch gekittet, der durch das Verbrechen entstanden war, da bleiben hier nach dem letzten Knall des denkbar wuchtigen Show-Downs nur Close-Ups von verzweifelten, schreienden, weinenden Gesichtern, nur neue Traumata. Und ein helicopter shot von dem, was der Tagebau von einer Landschaft übrig lässt. Eine Mond-, eine Trümmerlandschaft. Eine menschgemachte Wüste.
Für falsche Versöhnlichkeiten ist im Deutschland Dominik Grafs glücklicherweise kein Platz.

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