Dienstag, 16. Juli 2013

Días de mayo (Gustavo Postiglione, Argentinien 2009)



Am Anfang und am Ende des Films sitzt eine Frau auf der Brüstung einer Brücke und blickt hinab in die Tiefe. Dazwischen liegen drei Monate, Mai, Juni und Juli 1969, in Rosario, Argentinien, wo sich im sogenannten Rosariazo ein Bündnis aus Arbeitern und Studenten gegen die Diktatur unter de facto-Präsident Juan Carlos Onganía auflehnte. Die Aufstände, bei denen sich die Polizei immer wieder zurückziehen musste, wurden schließlich vom Militär niedergeschlagen. Zwei Demonstranten wurden erschossen. Dazwischen liegt das Gemälde einer Epoche, der späten Sechziger, in Schwarzweiß und Cinemascope. Dazwischen liegt schließlich eine Liebesgeschichte. Laura, die Frau auf der Brücke, flüchtet nach einer Demo, gemeinsam mit dem Arbeiter Miguel und Pablo, Kameramann bei Film und Fernsehen, in die Wohnung von Pablos Familie. Die Drei freunden sich an. Laura und Pablo verlieben sich.
 Días de mayo, der Film des aus Rosario stammenden Regisseurs Gustavo Postiglione, der im Mai 2009, also genau vierzig Jahre nach den Ereignissen, die er beschreibt, in die argentinischen Kinos kam, geht es letztlich darum, wie diese drei Elemente, das konkrete geschichtliche Ereignis, sein größerer politischer und kultureller Kontext und schließlich die fiktive Liebesgeschichte zusammenpassen - oder eben auch nicht. Denn Postiglione ist sichtlich eher darum bemüht, Widersprüche darzustellen, als sie aufzulösen. Das wird schon daran evident, wie der Film die Zeit, in der er spielt, darstellt. Das Bild der späten Sechziger als Schlachtengemälde, in dem der Kampf von Menschen oder Ideologien aufgelöst wird in einen Kampf widersprüchlicher Zeichen. Molotow-Cocktail und Panzer, Marx und Coca Cola, Godard und Solanas, Rock und Minirock, Perón und Evita und Pariser Mai und Beatles und Gras und Vietnamkrieg und Mondlandung. Was diese Zeichen im Einzelnen - sei es als intertextueller Verweis oder zeithistorischer Kommentar - bedeuten könnten, spielt dabei kaum eine Rolle. Eben dadurch, dass sie in erster Linie in ihrer Gesamtheit auf eine historische Epoche verweisen, erzählen sie vom Scheitern der Aufbruchstimmung der späten Sechziger daran, so die These des Films, dass es nicht gelang, diese Widersprüche zu vereinen.
Dabei wird auf die Beziehung zwischen Laura und Pablo zunächst wesentlich größeres Augenmerk gelegt, als auf ihren geschichtlichen Kontext. Viel erfahren wir über die inneren und äußeren Beweggründe und Konflikte der Figuren, relativ wenig über den Verlauf des Rosariazo oder seinen politischen Hintergrund. Dennoch ist der Film mehr als ein Melodram vor historischer Kulisse.
Georg Seeßlen schreibt über das Genre des Melodram, es kritisiere "die Gesellschaft im Namen des individuellen Glücks, das nichts als sich selber will. Es ergreift Partei für das jeweils kleinere System in der sozialen Struktur: für die Gemeinde gegen die Gesellschaft, für die Familie gegen die Gemeinde, für das Individuum gegen die Familie." Einerseits könnte man Días de mayo durchaus als Melodram begreifen insofern, als der Film letzlich vom Scheitern des Kleinen am Großen, einer Liebesbeziehung an ihrem gesellschaftlichen Kontext, erzählt. Andererseits unterminiert der Film die Dichotomien des Melodrams, nicht nur, indem er das Politische konsequent ins Private verlagert, sondern auch, indem er zu zeigen versucht, wie beides immer schon zusammenhängt. Die politischen Grabenkämpfe Argentinien dieser Epoche werden, vielleicht mehr noch als auf der Straße, am familiären Essenstisch ausgetragen. Lauras Vater, ein wohlhabender Ingieneur, pflegt Verbindungen zu Regierung und Militär, zu genau denjenigen also, die das Leben seiner Tochter schließlich bedrohen werden. Er wiederum wirft der Tochter ihre Sympathien für Perón vor, der, so sagt er, Leute wie ihn am liebsten erschießen würde.
Auch die Spaltung in Lager innerhalb der Widerstandsbewegung wird im Figurenrepertoire abgebildet. "Glaubst du an die Revolution?" fragt Laura Pablo relativ zu Beginn des Films und er antwortet, dass in seiner Wohnung alles geteilt werde, dass der Kommunismus hier funktioniere. Der Widerstand gegen die bestehende Ordnung wird so in ein Innen und ein Außen aufgeteilt, wobei, in Umkehr traditioneller Geschlechterrollen, das Außen mit der weiblichen und das Innen, auch der typische Handlungsort des "Frauengenres" Melodram, mit der männlichen Hauptfigur verbunden scheint. Wie schon in den ersten Szenen angelegt, wechselt der Film beständig zwischen Innen- und Außenaufnahmen. Wo die Rahmung der Geschichte durch die Bilder von Laura auf der Brücke ihr Scheitern verdeutlicht, gibt es gewissermaßen einen Binnenrahmen, in dem es um das Scheitern von Pablos Rückzugsstrategie geht. Während zu Beginn die Flucht vor den Schergen der Diktatur in die eigenen vier Wände noch gelingt, dringen schließlich gegen Ende Soldaten in Pablos Wohnung ein, auf der Suche nach kompromittierendem Filmmaterial, das Pablo während einer Demo aufgenommen hat. Der Rückzug ins Private wird von der Diktatur einerseits forciert ("kümmert euch um euren eigenen Scheiß, sonst kümmern wir uns um euch!"), andererseits verunmöglicht, sobald das Innen dem Außen gefährlich werden könnte.
Schließlich werden auch die Widersprüche innerhalb der Figuren selbst - allen voran Laura - thematisiert. Das einzige konkrete, was man über die "Revolution" von der sie träumt erfährt, ist ihre Sympathie für Dikator und Nazifreund Perón. Nicht nur finanziert sich Laura mit dem Geld aus dem, wie dieser sagt, "materialistischen und bürgerlichen Portemonnaie" ihres Vaters, auch sonst scheint sie schon fest in der bildungsbürgerlichen Welt ihrer Eltern verankert. Ob Postigliones Standpunkt zum Scheitern der Bewegung, nicht zuletzt an ihren entweder gar nicht vorhandenen oder äußerst fragwürdigen (Perón!) Positionen letztlich im Dienst einer neo-konservativen Agenda steht oder ob er aus linker Perspektive konstatiert, dass es eben nicht gelungen ist, gründlich genug mit dem "Establishment" zu brechen, bleibt letztlich relativ offen.
Ich denke jedoch, dass das entscheidende Problem des Films nicht "politischer", sondern ästhetischer Natur ist. Was die "neuen" Kinematographien, die ab Ende der Fünfziger Jahre an verschiedenen Orten der Welt aufkamen und die auch die Bewegung Ende der Sechziger beeinflußten (in Días de mayo wird dieser Einfluß etwa an einem Poster von Godards Alphaville in Pablos Wohnung deutlich), verbindet ist wohl, dass sie nicht nur versuchten, tradierte Erzählungen im Kino zu überkommen, sondern auch mit den tradierten Erzählmechanismen des Kinos zu brechen. Die Rebellion im Kino, war immer auch eine Rebellion gegen das Kino - in seiner herkömmlichen Form. Ula Stöckls Film Neun Leben hat die Katze etwa - ein einigermaßen beliebiges Beispiel, das ich hier nur anführe weil ich ihn gestern gesehen habe - etwa erzählt nicht nur für die Zeit wohl auf tatsächlich neue Weise von der Rolle von Frauen in der Gesellschaft bzw. der Rolle, die die Gesellschaft Frauen zugedenkt, sie findet dafür auch zum Teil sehr verstörende Bilder und bricht immer wieder mit den Regeln filmischer Illusionserzeugung. Die Form bei Postiglione hingegen ist reine Gefälligkeit: romantisierendes Schwarzweiß, genau kadrierte Bilder, elegante Plansequenzen. Wo es in Días de mayo inhaltlich vielleicht tatsächlich um eine kritische retrospektive Auseinandersetzung mit den Geschehnissen der späten Sechziger geht, vermittelt die Form reine Nostalgie.


(Eigentlich überflüßig zu erwähnen, dass das Scheitern eines eben nicht wirklich gelungenen Films wie Días de mayo allemal interessanter ist als etwa ein deutscher Baader-Meinhoff-Geschichts-Porno...)

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