Montag, 19. August 2013

Resümee: Lateinamerikanische Filmtage

Leider habe ich es nur geschafft, mir drei der sieben Filme aus sieben verschiedenen Ländern Lateinamerikas anzusehen, die vom 8.-16. August in der HU zu sehen waren: den argentinischen Pizza, birra, faso, den chilenischen La nana und den guatemaltekischen Cápsulas. Ersteren fand ich ziemlich gut, zweiteren ziemlich zwiespältig und den letzten, bei allem Respekt für seine filmhistorische Bedeutung als erster Film einer Regisseurin aus Guatemala, leider ziemlich schrecklich.
(Ob sich unter den anderen vier Filmen für meinen bescheidenen Filmgeschmack Meisterwerke befanden, kann ich natürlich ebenso wenig sagen, wie, inwieweit sie sich in die gemeinsamen Tendenzen, die ich hier kurz skizzieren möchte, einreihen lassen.)
Die Veranstalter/innen der Reihe betonten, dass das Thema Gewalt in allen Filmen auf sehr unterschiedliche Art eine Rolle spielte.

Die Protagonisten von Adrián Caetanos Pizza, birra, faso, eine Gruppe von Straßenkindern in Buenos Aires, die notdürtig in einem besetzten Haus Unterschlupf gefunden haben, sind immer zugleich Objekt und Subjekt der Gewalt. Einerseits sind sie Opfer der Marginalisierung, staatlicher Repressionen und der Ausbeutung derjenigen, die sich ihre Notlage zu Nutzen machen, um sie als "billige" Handlanger in ihre kriminellen Aktivitäten einzubeziehen, andererseits sind sie Täter, weil sie eben die Gewalt in Raubüberfällen zu ihrem Geschäft machen, um sich Geld fürs Überleben, was für sie vor allem bedeutet, für die titelgebenden Pizza, Bier und Zigaretten zu beschaffen. Trotz der für ein Erstlingswerk durchaus verzeihlichen Schwächen in Dramaturgie und Figurenzeichnung, ein in der Radikalität seiner Botschaft ebenso wichtiger wie bewegender Film. Wie in seinen späteren Filmen benutzt Caetano schon hier Mittel und Versatzstücke des Genre-Kinos zu seinen eigenen Zwecken. Der letzte Coup, der den Ausbruch aus dem bisherigen Leben ermöglichen soll, muss hier, wie in wohl Hunderten von Gangster-Filmen zuvor, scheitern, weil man eben die Spirale der Gewalt nicht mit Gewalt durchbrechen kann. Die sozialen Hierarchien bleiben undurchdringlich. Der Weg aus der Ersatzfamilie der Gang in die traditionelle Familie bleibt seinen Protagonisten auf tragische Weise verwehrt. (Wobei es schon beeindruckend ist, wie es Caetano in der letzten Einstellung, wie auch in seinem späteren Meisterwerk Bolivia, versteht, dieser Tragik jedes Pathos zu nehmen und sie in ihrer ganzen bösen Banalität zu zeigen.) Wie in Pizza, birra, faso spielt auch in den anderen Filmen neben der Gewalt - und eng mit dieser verbunden - die Familie eine zentrale Rolle.
Sebastián Silvas La Nana, so anders der Film stilistisch und thematisch auf den ersten Blick auch sein mag, erzählt letztlich von einer ähnlichen Verbindung von Marginalisierung und Gewalt. Raquel arbeitet als Nana, was im chilenischen Spanisch Hausangestellte bedeutet, im Haus einer Familie aus der Oberschicht von Santiago de Chile. Diese gutbürgerliche Residenz übrigens, die der fast ausschließliche Schauplatz des Films ist, wird bei Silva ebenso zu einer Art eigenständigen Protagonisten wie das - überwiegend nächtliche - Buenos Aires mit seinen frappierenden sozialen Gegensätzen bei Caetano. Allerdings sind die Beziehungen zwischen oben und unten, die Mechanismen der Ab- und Aus-Grenzungen in diesem Haus wesentlich komplexer und subtiler als in der Stadt in Pizza, birra, faso. Die reine Segregation der ersten Szenen (Raquel isst in einem Zimmer, die Familie in einem anderen) ist absichtlich trügerisch. Die starke Konzentration auf seine Titelfigur ist zugleich Stärke des Films und sein größtes Problem. Raquel, von Catalina Savedra durchaus beeindruckend gespielt, scheint sich vollkommen für ihre Arbeit aufzuopfern, alle Verbindungen zu ihrer Herkunft, was auch und vor allem bedeutet: ihrem sozialen Status kappen zu wollen, um ganz zu der Familie zu gehören, für die sie arbeitet. Aber sie lebt doch in dem ständigen Bewusstsein, nie ein vollwertiges Familienmitglied, nie Gleiche unter Gleichen zu sein. Das Mitleid, das eine solche Situation beim Zuschauer hervorrufen könnte, unterwandert der Film geschickt, indem er die unbarmherzige Gewalt zeigt, mit der Raquel ihren Status verteidigt. Als die Hausherrin ihr eine zweite Angestellte zur Seite stellen will, um sie zu entlasten, weiß Raquel diese, die sie als reine Konkurrentin empfindet, mit einem Sadismus, der des öfteren über reine Zweckdienlichkeit hinausgeht - und dabei auch mal ins Komische kippt - zu vergraulen. Dass die Fokusierung auf Raquel und ihre Befindlichkeit eine tiefergehende Analyse der psychologischen Dynamik zwischen Bediensteten und Herrschaften, wie sie sich etwa in Lucrecia Martels La Ciénaga findet, verhindert, dass der Film letztlich eher persönliche Psychopathologie sieht, wo es doch eindeutig soziales Unrecht gibt, ist das Eine. Schlimmer ist jedoch seine Lösung des Problems in Form von Lucy, die künftig mit Raquel zusammenarbeiten soll, und ihr genaues Gegenteil ist: humorvoll, lebensbejahend, fest in ihrem eigenen Leben verankert. Indem sie auf Raquels Aggression mit Liebenswürdigkeit und Humor reagiert, gewinnt sie bald ihre Zuneigung. Wenn diese Deus-ex-machina-Figur schließlich wieder verschwindet, deutet die letzte Szene - mehr oder weniger - zaghaft an, dass sich auch Raquel verwandelt hat, zumindest ein bisschen von Lucy auf sie abgefärbt hat. Nur, was soll uns das sagen? Dass sich mit der richtigen Einstellung jede Biographie aushalten lässt? Auch die der ewigen Dienerin. Anstatt die Machtverhältnisse, die er darstellt in Frage zu stellen, setzt der Film also schließlich auf falsche Versöhnlichkeit.
Die Zweideutigkeit des Titels Cápsulas, Verónica Riedels Debutfilm, verweist letztlich schon auf zwei Formen der Gewalt: die der Drogenkriminalität und die der dysfunktionalen Familie. Einerseits bezieht er sich auf die Kapseln, in denen Drogen durch Guatemala - und ganz Mittelamerika - von Süd nach Nord geschmuggelt werden, andererseits verweist er auch auf den abgeschlossenen Raum einer Familie. Anhand einer wirklich reichlich dysfunktionalen Familie versucht der Film vom Schicksal einer ganzen Weltregion zu erzählen, die langsam in der Welle der mit dem Drogenhandel in Verbindung stehenden Gewalt zu ertrinken droht. Allein diese Prämisse ist wohl schon, sagen wir, das Gegenteil einer guten Idee, das sich in Klischees geradezu suhlende Thriller-Rührstück, das die Regisseurin dann aus dieser Idee macht, strotzt jedoch fast jeder Beschreibung. Im Mittelpunkt steht der zwölfjährige Fonsi. Seine Mutter Lupe hat einst seinen Loser-Vater, der übrigens zwischenzeitlich vom Alkoholismus zu esoterischem Gaga-Hippietum konvertiert ist, verlassen und ein Arschloch geheiratet, das es (leider muss man in diesem Film fragen: wie sonst?) durch Drogenhandel zu beträchtlichem Reichtum gebracht hat, um ihrem Sohn ein "gutes Leben" zu ermöglichen. Um das Figuren-Repertoire aus dem Stereotypen-Bilderbuch abzurunden, kommt zu dieser Familie, die der Hausangestellten, hauptsächlich deren Kinder, die tun was Ghetto-Kids eben tun: rappen, sich die Arme voll tätowieren, Drogen nehmen und verkaufen und mit allerlei Waffen rumfuchteln. (Auch wenn die Figurenzeichnung etwas ist woran Pizza, birra, faso letztlich eher kränkelt, ist der qualitative Unterschied in der Darstellung der Jugendlichen aus den Slums hier und dort doch absolut frappierend.) Fonsi hat ein Hobby. Er zeichnet die Baller-Spiele mit seinen Freunden auf und verarbeitet diese Aufzeichnungen mit computergenerierten Blutfontänen zu Ego-Shooter-Videoclips. Aus diesen - kein bisschen unschuldigen - Spielen im Garten am Anfang, wird am Ende im großen Show-Down im Wald blutiger Ernst. (Man bemerke die Transformation der simulierten in reale Gewalt, aus Spielzeug- werden echte Pistolen, aus CGI- echtes Blut, aus dem "künstlichen" Schlachtfeld des Gartens, das "echte" des Waldes.) Jedenfalls werden schließlich im melodramatischen Suspense-Modus, der mich in seiner Möchtegern-Virtuosität irgendwann nur noch genervt hat, die Konflikte und Traumata ausagiert, dass es nur so seine Art hat. Supertough will das alles sein und trotzdem auf eine Happy End hinaus, dass der Plot und die, nun ja, Figuren beim besten Willen nicht hergeben. Mit der Realität der schrecklichen Zustände, die in Mittelamerika herrschen und jeden Tag Hunderte von Menschenleben fordern, hat dieser Film wohl in etwa so viel zu tun wie Fonsis Clips mit realer Gewalt.

Zu Pizza, birra, faso werde ich, sobald ich die Zeit dazu finde, noch einen eigenen längeren Text schreiben.

Ausserdem möchte ich den schönen Abend, an dem ich nach La nana mit Georg und Matias, kettenrauchend am Spreeufer saß und wir uns über den Film, Frauen, Männer, Gott und die Welt unterhielten an dieser Stelle noch kurz erwähnen.

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