Samstag, 17. August 2013

El abrazo partido (Daniel Burman, Argentinien 2004)


"Eine Einkaufspassage trügt. Für die Kunden sind wir nur Verkäufer, die nach Ladenschluss verschwinden. Aber wir wissen, dass wir viel mehr sind, dass es hinter unseren Schaufenstern, die eine oder andere Geschichte gibt, die, auch wenn sie vielleicht nichts besonderes ist, doch wert ist, erzählt zu werden." Mit diesen Worten führt - das ist wörtlich zu verstehen - Ariel, Protagonist und Voice-over-Erzähler, uns in den Film und die Einkaufspassage, die Hauptschauplatz von El abrazo partido und seines Lebens ist. "Die Einkaufspassage" heißt auf spanisch "La galería" und so lautet auch der erste der Zwischentitel, die den Film gliedern. In dieser Exposition (was eben auch "Ausstellung" heißen kann) führt uns Ariel Makaroff (Daniel Hendler) durch die Passage wie durch eine Galerie, in deren chaotischen und hoffnungslos überfrachteten Räumen hauptsächlich Menschen ausgestellt werden. Ariel charakterisiert diese Menschen vor allem durch ihre ausgeprägten Idiosynkrasien: die ewig rumschreiende italienische Großfamilie (der Mann repariert Radios, die Frau schneidet Haare), das koreanische Paar, das Feng Shui "verkauft" und von dem man sonst nichts weiß bzw. versteht, die beiden jüdischen Händler, die sich in breitem argentinisch mit eingestreuten jiddischen Vokabeln über die mangelhafte Qualität von Stoffen auslassen, die nicht mehr ganz junge aber ebenso attraktive wie aufreizende Rita, die ein Internet-Café betreibt, der Schreibwarenhändler, der nicht nur Papier verkauft, sondern selbst ein vollkommen unbeschriebenes Blatt zu sein scheint, ein Mensch ohne Präsenz, ohne Geschichte, ohne Irgendwas. Dann Ariels Bruder Joseph, der Dinge, die nun wirklich niemand braucht aus der ganzen Welt importiert, was auf Grund der Dollar-Kurse allerdings gerade nicht läuft. Schließlich ist da Ariel, der seiner Mutter Sonia in ihrem Dessousgeschäft hilft.
Von gängigen Klischees ist das alles, diese Figuren wie der Mikrokosmos, den sie bevölkern, und der ziemlich überdeutlich für das große Ganze der zu Beginn dieses Jahrhunderts reichlich gebeutelten argentinischen Einwanderergesellschaft steht, zunächst schwer zu unterscheiden.
Einerseits macht der Film von Anfang an mit seinem atemlosen Tempo und seiner detailversessenen Lust am Anekdotischen ziemlich viel Spaß, hat man die komischen Vögel, die einem hier vorgestellt werden - Klischees hin oder her - auf Anhieb ziemlich gerne. Andererseits ist der Blick auf diese Welt von Anfang an ein radikal subjektiver und wenn Ariel zwar behauptet, sich für das zu interessieren, was hinter den Schaufenstern passiert und zunächst doch nur ein sehr oberflächliches stereotypes Bild abliefert von den Menschen, mit denen er sich jeden Tag umgibt, liegt das wohl daran, dass er einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um sich wirklich für sie zu interessieren.
Ariel hat sich von seiner langjärigen Freundin Estela getrennt, weil ihm die feste Bindung wie eine Falle vorkam, nach der das Leben nichts weiter als grauen Alltag zu bieten hat. Ablenkung bietet Ariel der gelegentliche betont verspielte und unverbindliche Fick mit Rita, deren liebste Zeitangabe, eines dieser reizenden Burman-Details, "manchmal" ist. Ansonsten besteht sein Lebensziel darin, "Pole zu werden". "Pole sein" wie ein weiterer Zwischentitel des Films lautet, ist ein überdeterminierter Begriff. Zunächst bedeutet es einfach, dass Ariel die polnisch-jüdischen Wurzeln seiner Familie, die einst vor dem Nazi-Terror nach Argentinien flüchtete, nutzen möchte, um die polnische Staatsbürgerschaft zu erhalten, die ihm die Tür nach Europa öffnen soll. Dann ist dieses "Pole (Europäer) werden" auch ein ebenso treffender wie sarkastischer Ausdruck für die einzige Lebensperspektive, die sich Ariel, wie vielen jungen Menschen in den ärmeren Ländern dieser Erde bietet: die Migration. Schließlich ist es Ausdruck von Ariels grundlegendem Identitätskonflikt. Sein Vater Elias ist unmittelbar nach Ariels Geburt nach Israel gegangen, um im Jom-Kippur-Krieg zu kämpfen. Gerade in seiner Abwesenheit ist der Vater, über den Ariel kaum etwas weiß, für ihn auf sehr ambivalente Art allgegenwärtig. Als Ich-Ideal einerseits, als Projektionsfläche nie ausagierter ödipaler Aggression andererseits. Die Entfremdung vom Vater spiegelt sich sich für Ariel auch in seiner Entfremdung von der jüdischen Kultur, von deren Traditionen und Ritualen man in El abrazo partido, wie schon in Burmans Esperando al mesías (2000), eine Menge zu sehen bekommt, allerdings eben aus der subjektiven Perspektive Ariels, für den sie immer ein Stück weit fremd - und befremdlich - bleibt.   
Die Prämisse des Films ist letztlich trivial, da jeder Mensch nicht nur eine Geschichte hat, sondern auch Produkt dieser Geschichte ist, durch einen bestimmten sozialen und historischen Kontext geprägt wurde, kann man anhand eines Mikrokosmos, in dem Menschen aus der ganzen Welt zusammenarbeiten auch ein kleines Stück Weltgeschichte erzählen. Treffen sich nicht nur verschiedenen Kulturen, sondern auch Geschichte und Gegenwart, die onto- und phylogenetischen Traumata und Krisen von gestern und heute. Das wunderbare an Burmans Film ist, wie er für diesen Inhalt eine Form findet. Die Konzentration auf das Kleine spiegelt sich in (fast) jeder Einstellung. Die oft stark wackelnde Handkamera ist immer nah an den Figuren. Die Totalen in diesem Film kann man wohl an einer Hand abzählen. Von Buenos Aires sehen wir in den ohnehin spärlich gesäten Außenaufnahmen kaum mehr als Köpfe und Schultern. Zusammen mit den häufigen Jump-Cuts drückt die unruhige Kameraführung nicht nur die Spannungen in Ariel selbst und zwischen ihm und den anderen Figuren, vor allem seiner Mutter, aus, die Unmöglichkeit des Zuschauers, sich in den Räumen des Films zu orientieren verdeutlicht zugleich die Orientierungslosigkeit Ariels in seinem Leben.
Am Ende gibt es eine erneuten Rundgang durch die Einkaufspassage, die sich verändert hat, nicht nur, weil einige gegangen, andere gekommen sind, sondern auch, weil Ariel seinen Platz in diesem Mikrokosmos gefunden hat. Das Coming-of-Age wird hier nicht nur erzählt als Aussöhnung mit der eigenen Geschichte und dem eigenen Umfeld, sondern auch als Schärfung des Blickes auf die Umwelt, als Willen tatsächlich den Menschen hinter der Fassade/dem Schaufenster/dem Klischee zu erblicken. All das mag reine Utopie sein, aber es ist eine schöne Utopie. Am versöhnlichen Pathos der letzten Einstellung, im Gegensatz zur Hektik des vorangegangenen Films betont ruhig und klar, in Zeitlupe, ist kein Falsch.


 Damals der erste Burman, den ich gesehen habe und für mich übrigens in vielerlei Hinsicht eine "Premiere": der erste Filme, den ich in einer Presse-Vorführung sah und einer der ersten, zu denen ich eine Kritik geschrieben habe. Inzwischen kenne ich einige andere Filme des Regisseurs, aber El abrazo partido ist für mich, nach wie vor, mit Abstand sein schönster.

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