Montag, 30. Dezember 2013

Spetters (Paul Verhoeven, Niederlande 1980)

Drei junge Männer, Eef, Rien und Hans, auf ihren Motorrädern. Parallel montiert auf dem Weg zu einem Auftritt ihres Motocross-Idols Geritt Wittkamp (Rutger Hauer).
Drei Szenen aus den ersten 20 Minuten: Ein Mädchen kommt auf ihrem Motorroller in die KFZ-Werkstatt ("where the boys go", wie es in einem Michael Jackson-Song, der kaum zufällig in einer anderen Szene zu hören ist, heißt). Mit ihren spitz sich unter der Bluse abzeichnenden Brüsten ist sie offenbar auf einen Russ Meyer'schen Auftritt aus. Und die Kamera gönnt ihr diesen durchaus. Zu dumm nur, dass die Jungs sie durchschauen. Flugs wird die Bluse hochgezogen und die darunter befindlichen Tennis-Bälle dem heftig fluchend von dannen fahrenden Mädchen nachgeworfen.
Hans will beim Disko-Besuch sein Glück bei einer dunkelhäutigen Schönheit versuchen. Er setzt sich zu ihr an die Bar und greift ihr, nach ein paar unbeholfenen Worten, zwischen die Beine (Wer Turks fruit kennt, weiss, dass das in einem Verhoeven-Film eine durchaus gängige Kennenlern-Strategie ist). Jedoch zieht er seine Finger mit einer zähen gelben Flüssigkeit beschmiert, unter dem Kleid wieder hervor. Er hat in den strategisch sorgfältig dort platzierten Senf-Napf gegriffen.
Nach der Disko ziehen sich Hans und Eef mit ihren jeweiligen "Eroberungen" zum Schäferstündchen in ein im Bau befindliches Haus zurück. In Hör- aber nicht in Sichtweite kommt es bei beiden Pärchen nicht zum Beischlaf, weil das Mädchen bei Hans ihre Tage bekommen hat, während Eef keinen hoch kriegt. Weil sich aber niemand vor den anderen bloßstellen will, kümmert man sich einfach trotzdem um die passende Geräuschkulisse. In einer Totale sieht man dann wie sie jeweils nebeneinandersitzen, nur eine Wand zwischen ihnen, und sich mächtig einen abstöhnen.
Wenn auf der Autofahrt von der Disko zur Baustelle kurz angehalten wird, um ein Paar Homosexuelle zu demütigen und zu verprügeln, dann sind die Themen des Films gesetzt. Es geht um Sex und sexuelle Identität, um Täuschungen, die normativen Zwänge der Gruppe und der Gesellschaft. Und nicht zuletzt - auch wenn sie hier nicht so ausgewälzt und überzeichnet wird, wie in späteren Verhoeven-Filmen - um Gewalt, die mal dazu dient, eine bestimmte (Geschlechter-)Ordnung aufrecht zu erhalten, dann wieder kathartische Form annimmt.
Der deutlichste Bezugspunkt in Verhoevens vorherigem Schaffen ist sicherlich Turks fruit, schon weil die dazwischenliegenden Filme period pictures waren, die im neunzehnten Jahrhundert (Keetje Tippel) bzw. während des zweiten Weltkriegs (Soldaat van Oranje) spielten. In Speeters nun ist die Handlung nicht allein wieder in der niederländischen Gegenwart angesiedelt, es wird auch das Thema der Jugend und ihrer Rebellion gegen eine verkalkte kleinbürgerliche Erwachsenenwelt aufgegriffen. Wo allerdings dort Rutger Hauer und Monique van de Veen zumindest teilweise noch versuchten sich gegen die Normen und die Heuchelei dieses Milieus aufzulehnen, wollen Rien, Eef und Hans einfach nur noch raus, weg. Das Motorradrennen als ewige Fluchtbewegung. Rutger Hauers kleinere Rolle greift einerseits die des Bürgerschrecks aus Turks fruit auf, andererseits kommt es hier zu einer interessanten Verschiebung. Anstelle des Künstlers, der zumindest versucht, sich gegen das Establishment aufzulehnen, ist hier der Profi-Sportler getreten. Aus den Idealen Rebellion und Freiheit von 1973 ist 1980 eine Ware geworden, die sich an die Jugend gut verkaufen lässt. Aus Hauer als Sympathieträger, dem der frühere Film schließlich eine beträchtliche Entwicklung zugesteht, ein arrogantes Arschloch.
Wovor sie fliehen, das ist für jeden der drei Protagonisten etwas anders gelagert. Während Rien einfach keine Lust hat, die Spießer-Kneipe - und mit ihr das Leben - seines Vaters zu übernehmen (dass in einer Szene in dieser Kneipe "Griechesicher Wein" gespielt wird, dürfte dafür Begründung genug sein), schlägt sich Eef - buchstäblich - mit seinem bigott-religiösen Vater herum. Hans möchte einfach nur nicht mehr der ewige Loser sein. Dazu fängt die - von Jost Vacano gewohnt großartig geführte - Kamera den Schauplatz Rotterdam in gleichermaßen schönen wie bedrückenden Bildern ein. Die Stadt ist ganz postindustrielle Einöde. Tags scheint die Sonne auf Autobahnen und Parkplätze, nachts erleuchten Neonröhren bedrohliche Fußgänger-Unterführungen, blinken die Straßen im Licht der Leuchtreklamen. Dazu Industrie-Anlagen als Skyline.
Die Fluchtbewegungen der drei Männer kreuzen sich mit der Fientjes, die mit ihrem Bruder aus einem Wagen heraus Pommes verkauft. Auch Fientje will weg, raus aus dem Gestank von Fritten-Fett. Renée Soutendijk, die in Verhoevens nächstem Film De vierde man dem Mythos der femme fatale ein androgynes Achtiger Jahre-Update verpassen sollte, spielt die verführerische Frau, die schon bald zwischen den drei Freunden steht. Sie macht nie einen Hehl daraus, dass sie ihren wertvollsten Besitz, ihre Schönheit, an den Höchstbietenden verkaufen wird. Bezeichnenderweise machen ihr nur die Frauen daraus einen Vorwurf. Für die Männer ist es eher ein Spiel. Der Schwanzvergleich in der Werkstatt. Wer den längsten hat, der soll sie bekommen. Diese Szene ist ein Musterbeispiel der Verhoeven'schen Strategie, alles an die Oberfläche zu bringen, ins Bild zu rücken, beim Wort zu nehmen. Nicht nur, dass es hier für den Schwanzvergleich - und das, worauf er abzielt - keinerlei Surrogat-Handlungen und Verschleierungen mehr bedarf, in Spetters treibt der Regisseur auch die, bereits in Turks fruit vorhandene Tendenz, das männliche Glied möglichst oft ins Bild zu rücken, auf die Spitze. Um eine Eifersuchtsgeschichte wie im - in seinem Diskurs um Jugend, (Homo-)Sexualität und Männlichkeit gar nicht so grundverschiedenen - Y tu mamá también (ein Film, der offenbar auch bei der xten Sichtung solchen Eindruck hinterlassen hat, dass ich jetzt schon im dritten Text in Folge auf ihn zurückkomme) geht es Verhoeven dabei jedoch gerade nicht.
Groß ist der Film vor allem in den Schockmomenten, die für Rien und Eef die entscheidenden Wendepunkte darstellen. Rien hat einen Motorradunfall. Er stürzt eine Böschung hinab und knallt mit dem Rücken auf einen Holzpfahl. Er fühlt kaum Schmerz, doch als er aufstehen will, geben seine Beine nach wie Gummi. Er ist querschnittgelähmt, wird den (ziemlich kurzen) Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen. Trauma heißt Narbe, ist also im heutigen Sprachgebrauch eine Metapher, die von der Oberfläche des Körpers ins Innere, in die Seele verlagert. Verhoeven macht das traumatische Erlebnis körperlich fühlbar, führt es ganz in seine physische Dimension zurück.
Eef hingegen wird von mehreren Männern, unter ihnen Fientjes Bruder, vergewaltigt. In dieser denkbar expliziten Szene mit Großaufnahmen von erigierten Schwänzen und dem schreienden Gesicht des Opfers, bleibt doch vor allem eine Totale im Gedächtnis, die zeigt wie zwei der Männer jeweils eines der nackten Beinen des über einer Kabeltrommel liegenden Eefs in die Höhe und auseinander halten.
Während es für Rien keine Erlösung mehr gibt - auch nicht und schon gar nicht im christlichen Glauben, wird Eef mit einer ungekannten Seite seiner Sexualität konfrontiert, die er vorher nur durch Gewalt ausleben konnte. Gerade er war es zuvor, der immer wieder Strichern nachstellte und ihre Kunden ausraubte. Dass gerade eine Vergewaltigung zu seinem Coming-Out führt, kann man als sonderbare, schwer fassabare Umdeutung - zurecht - viel kritsierter Szenen aus Straw Dogs oder Once upon a Time in America lesen, bei denen eine vergewaltigte Frau schließlich Lust empfindet. In einer sehr eindringlichen Szene gesteht er seinem Vater seine Homosexualität. Dieser versteht ihn erst, als er sich in einem Bibel-Spruch erklärt, und schlägt ihn dann zusammen.
Der deutlichste Neustart, und zwar gemeinsam mit Fientje, gelingt gerade Hans, dem eigentlichen Loser des ursprünglichen Figurentrios, dessen Motorradkünste nicht für mehr als eine Lachnummer
gut waren. Gerade er findet also einen Weg raus, oder sollte man eher sagen: rein?

In der englischsprachigen Wikipedia ist nachzulesen: "Spetters led to protests about the manner in which Verhoeven portrayed gays, Christians, the police, and the press." Das nennt man wohl einen Film, der es niemandem recht macht.

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