Samstag, 31. Mai 2014

The Great Sinner (Robert Siodmak, USA 1949)

Robert Siodmaks Film-Noir-Phase ging von 1944 bis 1952, von Phantom Lady bis The File on Thelma Jordan - Jedenfalls, wenn man "Film Noir" in jenem engeren (und vielleicht immer schon: zu engen) Sinn definiert, der zynisch pessimistische, mehr oder weniger direkt von der hard boiled crime fiction beeinflusste Filme aus den Vierzigern und Fünfzigern über allerlei verbrecherisches Treiben in der - überwiegend nächtlichen - Großstadt meint. Vielleicht bieten gerade die Filme, die Siodmak in diesen Jahren gedreht hat, die diese Kriterien nicht erfüllen, Anlass, die Kriterien an sich grundlegend zu überdenken. Da ist etwa Time out of Mind, ein Melodram Noir, wenn es je eines gegeben hat und - vor allem - The Great Sinner.
Wenn man den Film Noir nicht als Genre versteht, sondern, etwa wie es Rainer Knepperges so schön formulierte, als "eine Kunstform des Nachkrieges, die Mitleid mit Leuten hat, die ihre Seele verloren haben", dann ist The Great Sinner vielleicht Siodmaks "schwärzester" Film. Geht es im Film Noir also um eine essenzielle Verlorenheit und allerlei - in der Regel letztlich nicht eingehaltene - Versprechen, seinen Seelenfrieden, Erlösung zu finden, dann ist nicht nur der von Gregory Peck gespielte und mehr oder minder lose an Dostojewski und seinen Roman Der Spieler angelehnte männliche Protagonist, sondern auch der Film selbst "schwärzer" als "schwarz".
Zu Beginn gibt es zwei Texteinblendungen; die erste verortet das Geschehen im Wiesbaden der 1860er Jahre, die zweite stellt den Bezug zu Dostojewski, sinngemäß ist von einem großen Spieler, der sein Leben setzte und die Unsterblichkeit gewann die Rede, her. Vielleicht kann man diese Historisierung des Geschehens als eine (erste!) Konzession an den Hays Code betrachten (die in der ersten Texttafel erwähnten ausladenden Dekolletés, die wohl auch einen Hinweis auf die "freizügigen Sitten" in einem fernen Ort und einer vergangenen Zeit verweisen, mögen darauf hinweisen). Eine andere, wie ich finde wesentlich interessantere Annahme ist die, dass alles in diesem Text - Wiesbaden, die 1860er, Dostojewski, Ironie und Pathos - Mittel sind, sich den Nihilismus des folgenden Films selbst vom Leibe zu halten. In The Great Sinner steckt ein absolut nihilistischer Film, ein Film über das Nichts, über die absolute Leere der menschlichen Existenz, die mit nichts gefüllt werden kann.
Die Handlung wird Noir-typisch in einer Rückblende mit Voice-Over erzählt, ganz ausdrücklich als Beichte: "Confessions of a Sinner" heißt das Manuskript, in dem der Schriftsteller, der in einem Bett liegt, das nicht sein Totenbett ist (darin wiederholt sich die falsche Fährte des Beginns von Cry of the City), die Erinnerungen festgehalten hat, die er uns nun erzählt.
Die eigentliche Handlung beginnt im Abteil eines Zuges, der Peck eigentlich von Moskau nach Paris bringen sollte. Dass seine Reise schon in Wiesbaden zu Ende ist, liegt an der zusteigenden Ava Gardner. Die Attraktion, die Siodmak großartig in einem Geflecht der Blicke inszeniert, legt schon hier ein Beziehungsdreieck nah. Denn Gardner hat mehr Augen für die Karten, die sie die ganze gemeinsame Fahrt über legt, als für Peck. Jedenfalls steigt Peck mit Gardner aus in dem, so verkündet es das Schild am Bahnhof, "Famous Health Ressort" Wiesbaden, wo alle Wege an die Casino-Tische führen.
Das unausweichliche Schicksal, ein weiteres typisches Motiv des Film Noir, wird zunächst in The Great Sinner in eine christliche Heilsgeschichte, in ein morality play eingebettet. Wo aber Filme wie Sunset Boulevard oder Double Indemnity die Rückblenden-Voice-Over-Narration nutzten, um den Fatalismus zu unterstreichen, sich der Böse Ausgang und die Stimme des Mannes, der längst und für den längst alles verloren ist, wie ein finsterer Schatten über das Geschehen legten, erzeugt doch der gute Ausgang hier, wo die Sünde in einer Beichte und damit zumindest der  Möglichkeit auf Absolution münden wird, eine ganz besondere Spannung. Die Fronten zwischen Gut und Böse scheinen demnächst relativ eindeutlich zu verlaufen, ein christlicher Begriff von Tugend auf der einen Seite, das "Laster" der Spielsucht in Verbindung mit blankem Zynismus auf der anderen (wobei die Tugend in diesem Film eher im Verzicht besteht, es geht ihr nicht darum "Gutes" zu tun, sondern "Böses" zu unterlassen, womit sie, das mag ein bewusst gesetzter Widerhaken sein, immer schon als ziemlich langweiliges Nichtstun erscheint). Während Peck zunächst eine Bastion der Moral in der lasterhaften Casino-Welt, von der auch Gardner ein Teil ist, zu sein scheint (oder zumindest: zu sein vorgibt), verkehren sich bald die Rollen in ihrer Beziehung. "I will make you a woman," sagt Peck. "I will make you a gambler," antwortet Gardner. Beide werden ihr Versprechen wahr machen (jedenfalls, wenn man hinnehmen möchte, dass die Frau erst zur Frau wird, indem sie aus Liebe zum Mann der "Sünde" abschwört).
An The Great Sinner lassen sich wohl besonders deutlich einige für den Film Noir typische Geschlechter- und Beziehungskonstellationen ablesen. Zunächst ist da die Besessenheit des Mannes für die femme fatale, die er hier dann für die Besessenheit gegen das Spiel eintauscht (und dieses "Eintauschen" ist wortwörtlich zu verstehen in diesem Film, in dem es zum zynischen Ton gehört, schöne Töchter oder auch sterbende Mütter- bzw. Großmütter beim Spiel zu setzen). Das zeigt auch, dass das Objekt seiner Besessenheit austauschbar ist, nur zum Beispiel durch einen Roulettetisch oder ein Kartenspiel. Die Besessenheit der Peck-Figur hier wie des Noir-Helden im allgemeinen kann nicht von ihrem Objekt, sondern nur vom Subjekt des besessenen Mannes her gedacht werden. Dann offenbart sich aber auch in diesem Film durch den "moralischen" Rollentausch der Figuren, daran, wie Gardner das Spielen für Peck aufzugeben bereit ist, während er ihm nachdem er sie kennengelernt hat gerade erst verfällt, die ganze "antibürgerliche" Dimension des Begehrens des Noir-Helden: für ihn bietet die Frau keinen Weg in die bürgerliche Existenz, sondern einen Ausweg aus ihr.
Wie Peck scheint auch der Film dem Spiel zu erliegen: Die Casino-Szenen sind großartig! Etwa, wenn Peck die verschiedenen Spieler-Typen nach ihren Rauchgewohnheiten unterscheidet: die angeberischen, großauftragenden Zigarrenraucher, die nervös ihre Hände ringenden Zigarettenraucher. Auch entsteht ein Großteil der beträchtlichen Suspense des Films ganz an den Spieltischen, über die die Kamera langsam, an den Spielern vorbei, gleitet auf das Roulette-Rad im Zentrum des Geschehens zu. Mit der ganzen Meisterschaft eines Robert Siodmaks wird der Thrill und der Glamour des Casino-Betriebs in  Szene gesetzt und die wunderbar schlagfertigen zynischen Dialoge tun ein Übriges (dabei werden die Auswirkungen, die das Spielen auf das Leben eines Menschen haben kann, keineswegs verharmlost, nur werden die Schulden, das Klauen, Verwahrlosung und Suizid mit einem wunderbar kaltschnäuzigen Galgenhumor behandelt. Und: wie die Frauen im Film Noir ist auch das Spielen in The Great Sinner nur umso verführerischer, je gefährlicher es ist.)
Die unbändige Faszination der "Amoral" in der ersten Hälfte in der zweiten im Dienste der (christlichen) "Moral von der Geschicht'" umzuwerten, ist sicherlich keine einfache Aufgabe. Ob sie dem Film gelingt (oder auch nur: gelingen will) kann ich gar nicht so genau sagen. Da ist die Schlüsselszene, wenn Peck gerade in einer Kirche am Tiefpunkt seines Niedergangs ankommt, den Blick nach oben richtet, in das dem Himmel entgegenstrebenden gotische Gewölbe und den Heiland am Kreuz - und die Kamera nach oben gleitet, das gemalte Gewölbe mit dem leuchtend gemalten Jesus empor. Schwer zu sagen, wie eine solche Szene auf ein zeitgenössisches, an obskure Studiokulissen gewöhntes Publikum gewirkt haben mag. In meiner heutigen Sicht aber, wirkt dieses Bild wie ein Erlösungsversprechen, das in seiner ganzen Fixiertheit, seiner ganzen Künstlichkeit und Gemachtheit ausgestellt wird.
Vielleicht ist gerade das das schönste an diesem wundervollen Film, dass man nie so genau weiß, woran er wirklich glaubt, ob sein Glaube ein aufgezwungener ist. Ob der Glauben ihn vor dem Nichts beschützt, das unter der schillernden Oberfläche lauert. Oder ob das, was an die Stelle des Nichts tritt, also Liebe und Erlösung und der ganze Kram doch nur Vorwände sind, um die Begeisterung für die glitzernden Oberflächen zu kaschieren, von denen man doch genau weiß, dass sie selbst nur das Nichts kaschieren, und die doch das einzige sind, was bleibt.

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