Dienstag, 17. September 2013

'El golpe' oder: der andere 11. September...

...im Arsenal

An jedem 11. September jährt sich nicht nur der Tag der Anschläge in New York und Washington 2001, die über 3000 Menschenleben kosteten, und die Welt im beginnenden 21. Jahrhundert wohl so entschieden prägten, wie kein anderes Ereignis. Sondern auch der faschistische Militärputsch in Chile unter Augusto Pinochet im Jahr 1973, bei dem mit Unterstützung des CIA die demokratisch gewählte sozialistische Regeirung Salvador Allendes gestürzt wurde. Abrupt ertranken die Hoffnungen gerade der ärmeren und ärmsten Chilenen, aber auch von Millionen Sympathisanten weltweit, im Blut. Gerade zu Beginn des knapp siebzehn Jahre währenden Pinochet-Regimes, aber auch in dessen weiteren Verlauf wurden Zehntausende Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet.
Das Arsenal erinnerte am vergangenen Mittwoch, also nach genau vierzig Jahren, mit einem von Florian Wüst kuratierten Programm an diesen Tag der zerstörten Hoffnungen. Wüst setzte damit auch seine Beteiligung am Living Archive fort, bei dem er im Juni mit der Reihe "Also gehen sie und kaufen" chilenische Filme aus der Zeit von Allendes Unidad Popular-Regierung zu zeitgenössischen westdeutschen in Beziehung setzte (meine Eindrücke zu einem Teil des Programms habe ich hier festgehalten).
Der erste Film war Reportaje a Lota, eine Dokumentation über die prekären Arbeits- und  Lebensbedingungen der Minenarbeiter in der Kleinstadt Lota an der chilenischen Küste. Der siebzehnminütige Film ist in Schwarzweiß, auf 16mm und ohne synchronen Ton gedreht. Trotz dieser sehr beschränkten Mittel gelang den Regisseuren ein sehr eindringliches, bisweilen geradezu bildgewaltiges Portrait der Einwohner Lotas und ihres Alltags, der ganz bestimmt wird vom Elend und der Kohle, die sie mühevoll 4000 Meter unter dem Meer dem Stein abgewinnen, um andere mühelos reich zu machen. Die Szene, die mir am stärksten im Gedächntnis bleibt zeigt die "Umkleidekabine" der mineros. Am Eingang der Mine verstauen sie ihre Kleidung in Körben, die mit Ketten an die Decke gezogen werden, um hier, vier Meter über dem Boden, auf die Rückkehr ihrer Besitzer zu warten - von denen viele niemals zurückkehren werden. Die Mine wird hier - auch rein assoziativ auf der Bildebene - zu einer Hölle, an deren Pforte die Arbeiter, das Wenige an persönlichem Besitz, das sie haben zurücklassen, die sie anonymisiert, ganz ihrer Funktion im Produktionsprozess unterordnet, und die sie dann noch - oft - endgültig verschluckt. Das auf und ab der Körbe, die Ketten, die in ständiger Bewegung das Bild horizontal und vertikal zerschneiden zeigen diese Hölle in ihrer menschengemachten Mechanik. Reportaje a Lota entstand im Februar 1970, also mehr als ein halbes Jahr vor dem Wahlsieg der Unidad Popular, aber der Film endet bereits auf einer hoffnungsvollen Note, wenn am Ende die gewerkschaftliche Organisation der Minenarbeiter gegen die Firmen und die Gleichgültigkeit der Regierung steht. Bilder vom großen Streik 1960, in dem die Arbeiter von Lota nach Concepción zogen. Bilder von Lichtern in der Dunkelheit.
"Dass so viele schrecklich arm sind und so viele reich, hängt zusammen", lautet die grundlegende Erkenntnis von Peter Nestlers 1974 für das schwedische Fernsehen gedrehtem Chilefilm, dem zweiten Film des Abends. Nestler zieht einen Bogen vom Eintreffen der ersten europäischen Eroberer im frühen sechzehnten Jahrhundert bis zum 11. September 1973, den er als konsequente Fortsetzung von knapp fünf Jahrhunderten imperialistischer Machtpolitik und Ausbeutung in Chile ansieht. Leider bleiben Nestlers Ausführungen so schematisch, dass es ihm kaum gelingt in die Tiefe des globalen Zusammenhangs zwischen Armut und Reichtum zu gehen. Hatte Nestler 1966 die Bundesrepublik verlassen, weil man es ihm wegen seiner linken Gesinnung zunehmend verunmöglichte, als Dokumentarfilmer zu arbeiten, stieß er mit Lördags Chile auch in seiner Wahlheimat Schweden erstmals auf eine Grenze. Seine marxistische Lehrstunde wurde unmittelbar vor der geplanten Ausstrahlung aus dem Programm genommen.
Filmischer Abschluß und für mich eindeutiger Höhepunkt des Programms war Contra la razón y por la fuerza des Mexikaners Carlos Ortiz Tejeda, dem es unter schwierigsten Bedingungen (u. a. wurde er vorübergehend verhaftet) gelang, in Santiago unmittelbar nach dem Putsch zu drehen. Der Film schließt im Hinblick auf Reportaje a Lota einen historischen Rahmen: von der Aufbruchstimmung im Chile vor der Unidad Popular bis zu deren gewaltsamen Sturz. Wie Reportaje a Lota beginnt auch Contra la razón mit Aufnahmen von leeren Straßen, mit Wänden und Mauern, an denen übermalte Parolen und zerrissene Plakate von dem poltischen Umsturz, von der zerrissenenen Geschichte eines Landes zeugen. In den Armenvierteln regiert die Verzweiflung, suchen die Menschen nach verschleppten Angehörigen, kursieren immer neue Geschichten von dem Gefangenen in den provisorischen Konzentrationslagern von denen das Stadio Nacional, in dem bis zu 40.000 Männer zusammen getrieben worden sein sollen, nur das größte war, von den sich immer weiter türmenden Leichenbergen an den Flüssen am Rande der Stadt, wo sich das Militär den Ermordeten notdürftig entledigt. Ebenso beunruhigend sind aber auch die Interviews mit sichtlich verstörten Vertretern der oberen Mittel- und Oberschicht, die den Putsch ohne Abstriche gut heißen und die Gewalt des Militärs strikt verleugnen, weil sie den Beginn eines kollektiven Verdrängungsprozesses gegenüber den Verbrechen der Diktatur, auf Seiten derjenigen, denen sie nützt, zu markieren scheinen. Allerdings endet auch Ortiz Tejedas Film auf einer sehr leise hoffnungsvollen Note. So wird nicht nur das durch die Militärs verwüstete Haus Pablo Nerudas gezeigt, der sich selbst in der Unidad Popular engagierte und einige Tage nach dem Putsch - vermutlich - einem Krebsleiden erlag. Es gibt auch Bilder des Trauerzuges, der einen ersten öffentlichen, wohl nur durch die Anwesenheit internationaler Presse möglichen Protest gegen Pinochet darstellte. Die Trauernden sangen die "Internationale" und entonnierten die Parole: "Camarada Pablo Neruda", "Presente, ahora y siempre".    
Eine Diskussion mit Wüst und Ullrich Gregor, bei der Interessantes unter anderem zur Wahrung des chilenischen Filmerbes durch die Diktatur und darüber hinaus zu erfahren war, rundete diesen gelungenen Abend zur Erinnerung an den anderen 11. September ab, für den man allen Beteiligten nur danken kann.

Reportaje a Lota gibt es übrigens auch bei YouTube zu sehen.

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