Samstag, 8. Februar 2014

Menace II Society (The Hughes Brothers, USA 1993)

Filme, die sich mit dem Leben in afroamerikanischen Ghettos (besonders in Los Angeles) auseinandersetzten, schienen in den Neunzigern (besonders den frühen Neunzigern) en vogue zu sein. Was Menace II Society, den Debütfilm der Hughes Brothers, zu einem der besten (wenn nicht dem besten) dieser Filme macht, sind zwei eigentlich relativ einfache Clous.
Erstens ist er, vor allem der Form nach, eher Gangsterfilm als Sozialdrama, also mehr ein Goodfellas mit Schwarzen statt Italienern, mit West Coast Gangsta-Rap statt Guiseppe Di Stefano und den Stones, als eine Neuauflage von Boyz n the Hood. Die Inszenierung ist stilbewusst und elegant und verwehrt sich, wie bei Scorsese, der Faszination des gezeigten life styles nicht.
Zweitens ist da die radikale Beschränkung auf die Perspektive einer einzelnen Figur, die das Geschehen per Voice Over kommentiert.
Im Prolog wollte Caine (Tyrin Turner) eigentlich nur mit seinem Kumpel O-Dog Bier kaufen gehen. Als er den Laden verlässt, ist er Komplize eines kaltblütigen Doppel-Mords und bewaffneten Raubüberfalls.
Dann sieht man historische Bilder von den Watts Riots, die das fast ausschließlich von Schwarzen bewohnte Armenviertel in Los Angeles 1965 erschütterten. Mit den Worten: "When the riots stopped, the drugs started", leitet Caine über in seine Kindheit in den späten Siebzigern. Sein Vater verkauft Drogen, seine Mutter nimmt sie. Beide sterben früh. Ein helicopter shot führt in das Watts der Gegenwart der frühen Neunziger. Caine lebt bei seinen Großeltern und hat mit ach und krach seinen High School-Abschluss gemacht. Die fehlenden Eltern, die schon vor ihrem frühen Tod kaum für ihn da waren, sind der entscheidende missing link zwischen ihm und seinen bigott religiösen Großeltern. Der Film begleitet Caine einige Sommertage durch den Alltag im Ghetto zwischen Drogen, Kriminalität und Mord.
Dabei wird auf Realismus heischendes Handkamera-Gewackel größten Teils verzichtet. Auch von den gängigen Bildern verwahrloster Ghetto-Straßen gibt es eher wenige. Stattdessen gleitet die Kamera mit Hang zur Plansequenz - auch hier der deutliche Scorsese-Bezug - meist durch oft ziemlich stylisch ausgeleuchtete Interieurs. Das unterstreicht das klaustrophobische Setting eines Films, der, wie sein Protagonist, das Ghetto nicht ein einziges Mal verlässt. (Dementsprechend kann man die nicht-schwarzen Figuren, die - alle sehr kurz - zu sehen sind, wohl tatsächlich an einer Hand abzählen.)
Die Figuren, die diese Welt bevölkern, sind oft dicht am Stereotyp (schwer zu sagen, ob sie das auch 1993 schon waren, oder ob man sie einfach nur seitdem zu oft gesehen hat). Es gibt die mehr oder minder psychopathischen Freunde, wie O-Dog, den Kane als "America's nightmare" beschreibt: "Young, black and didn't give a fuck." Es gibt die junge Frau, die sich allmählich in Caine verliebt, und aus dem Ghetto raus will, um ihrem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen, als es der im Knast sitzende Vater hatte. Es gibt diejenigen, die in verschiedenen Konfessionen ihren Glauben gefunden haben und versuchen, verlorene Seelen vor den Straßen von Watts zu retten. Es gibt diejenigen, die das Ghetto, in dem tagtäglich Schwarze einander töten und sich gegenseitig Drogen verkaufen für ein Grand Design des weißen Mannes halten und es gibt die brutalen rassistischen Übergriffe weißer Polizisten.
Was es jedoch nicht gibt - und das ist der entscheidende Unterschied zu den meisten thematisch verwandten Filmen - ist irgendeine moralisierende oder didaktische Instanz, die zwischen den Protagonisten und uns geschaltet werden würde. Was falsch oder richtig ist, wird dem Zuschauer nicht vorgekaut oder eingebläut, vielmehr muss er sich in einer Welt ohne Anleitung selbst ein Bild schaffen - so wie Caine. Die Gewalt in diesem Film ist nicht in erster Linie "böse", sondern schrecklich banal, sinnlos, allgegenwärtig. Man sieht sie durch die Augen eines Menschen, der als Kind zum ersten Mal beobachtete, wie sein Vater einen Mord verübte, der es nie anders kennengelernt hat. Auch hier wird konsequent auf eine vermittelnde dramaturgische Instanz verzichtet.
Caine ist weder ein Held noch geht es um eine Läuterungsgeschichte. Er entscheidet sich nicht für den Weg des Rechtschaffenden, sondern lediglich fürs Überleben. Er tut es zu spät. Einmal mehr gibt es weder die Erlösung in der Genreform noch die Zuflucht in Melodram oder Pathos.
Menace II Society ist ein wichtiger Film. Einer, der auf sehr kluge Weise verdammt wütend ist.

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